# taz.de -- Verliebtsein im Alter: Die letzte große Liebe
       
       > Mary ist bald 80, das Leben geht dem Ende entgegen, so scheint es. Dann
       > trifft sie Derek. Eine Geschichte aus einem britischen Seniorenheim.
       
       Welches Lied war es nochmal? Mary kommt nicht darauf. Mit Sicherheit war es
       ein Klassiker. Eine Ballade. Vielleicht „You Are My Sunshine“? Aber
       eigentlich ist der Titel egal, es ging um die Stimme. Nicht die des Sängers
       – die kannte Mary gut genug, weil sie regelmäßig die Nachmittagsshows im
       Easterlea Seniorenheim besuchte. Nein, diese Stimme war neu, und sie
       gehörte einem Mann, der sich neben sie gesetzt und einfach mitgesungen
       hatte. Sie war so eingenommen davon, wie seine Stimme aus ihm herausbrach,
       glasklar und dem Alter trotzend, dass sie ihn einfach anstarren musste. Der
       Mann zwinkerte ihr zu. Frechdachs, dachte Mary.
       
       Es ist nicht ganz klar, wie lange das her ist. Zwei, drei Jahre vielleicht?
       Mit dem Ablauf der Dinge, sowieso mit der Zeit an sich ist es kompliziert,
       manchmal verwirrend. Aber manches wissen wir mit Sicherheit. Marys voller
       Name ist Mary Turrell, und sie ist fast 80 Jahre alt. Sie lebte schon etwa
       ein, zwei Jahre im Easterlea Seniorenheim in Denmead, in der Nähe von
       Portsmouth im Süden Englands, als der Mann mit der Stimme auftauchte. Sein
       Name war Derek Brown.
       
       Komisch, was in Erinnerung bleibt. Kristalline Momente, meist aus der
       Kindheit. Wie sie mit ihrem großen Bruder Ian in diesem einen Sommer ein
       Teleskop baute, zum Beispiel. Oder wie sie sich in einem zerbombten Krater
       im Wald versteckte. Der Keuchhusten und das Gefühl einer verkrusteten Wunde
       auf ihrer Oberlippe. Sie solle nicht daran rumpulen, sagte ihre Mutter,
       aber es war so verlockend.
       
       Mary war fünf und besuchte die Grundschule in Norbury, im Süden Londons,
       als sie anfing, Wettrennen gegen die Jungs zu gewinnen. Als sie sieben
       Jahre alt war, tauchte eine Frau an der Wohnungstür auf, rief nach Marys
       Mutter und sagte: „Ihre Tochter ärgert andere Kinder.“ Mary hatte ihren
       Sohn auf den Kopf geschlagen, mit einem Ball in einer Netztasche. Einer der
       Knoten des Beutels muss mit einer solchen Wucht seine Stirn getroffen
       haben, dass ein Stück Haut herausgerissen wurde. Aber der Junge hatte Ian
       geärgert. Das konnte sie nicht auf sich sitzen lassen.
       
       Mary wollte noch schneller laufen. Ihr Vater riet ihr, einem
       Leichtathletikverein beizutreten, und Mary überlegte, ob sie mutig genug
       war, allein mit dem Bus dorthin zu fahren. Sie traute sich. Im Verein
       servierten sie heißen Johannisbeersaft. Es dauerte nicht lange und Mary
       rannte 100 Meter, 400 Meter, Hürden. Bald trat sie für die englische
       Schulnationalmannschaft an. Einmal gewann sie eine Medaille, ein olles
       Ding: dritter Platz.
       
       Ihr Vater, der für die Bank of Scotland arbeitete, hatte Regeln. Mary
       durfte keine Hosen tragen. Sie würde auf eine öffentliche Schule gehen,
       nicht so eine, für die man bezahlen musste, so wie ihr Bruder. Marys Mutter
       durfte nicht arbeiten. Das wäre demütigend für den Vater gewesen, es hätte
       ausgesehen, als sei er kein guter Versorger. Er war das Familienoberhaupt,
       traf alle Entscheidungen. Oh, wie wunderbar es war, ein Mann zu sein! Mary
       war mal kurz einer, in einem Schultheaterstück. Sie musste ein Schwert
       ziehen. Ihr Körper fühlte sich dabei anders an, als hätte er plötzlich
       Auftrieb.
       
       Anstatt arbeiten zu gehen, blieb ihre Mutter zu Hause und nähte aus alten
       Kleidern neue. Wenn die Kinder aus der Schule kamen, saß sie in einem
       makellosen Wohnzimmer mit einem frisch gebackenen Kuchen auf dem
       Servierwagen, dazu gab es Marmelade aus Früchten aus dem eigenen Garten:
       Kirsche, Birne, Pflaume. Sie machte die Betten. Sie machte Apfelkuchen. Sie
       machte alles schön.
       
       Mary wusste, was sie werden wollte: Sportlehrerin. Sie bekam einen Platz am
       Chelsea College of Physical Education in Eastbourne, und als sie auszog,
       bekam sie außerdem lauter Anweisungen, die ihr Bruder sich niemals anhören
       musste, als er auf die Uni kam. Werd nicht schwanger. Sei vor 22 Uhr zu
       Hause. Arbeite nicht zu hart – das war schließlich nicht wirklich wichtig,
       da sie ja nur spielen würde zu arbeiten, bis sie heiratete.
       
       So ein Müll, dachte Mary, bis es wirklich so kam. Nach der Hälfte ihrer
       Studienzeit traf sie Nicholas, der an einer landwirtschaftlichen Hochschule
       in Guildford studierte. Sie war hin- und hergerissen. Was war wichtiger?
       Eine Karriere im Sport zu verfolgen oder mit diesem Mann zusammen zu sein?
       Mary liebte Sport, aber sie hatte bis dahin noch nie etwas für jemanden
       empfunden, jedenfalls nicht richtig.
       
       Sie heirateten und Mary wurde eine Bauersfrau. Nicholas war
       Vertragsarbeiter und schuftete auf den Höfen anderer Leute. Es gab nie viel
       Geld, aber ein paar Vorteile: ein kleines Cottage als Unterkunft,
       kostenloses Obst und Gemüse. Sehr viele Kartoffeln. Mary wusste nichts über
       Landwirtschaft, sie musste sich ein Lehrbuch zulegen. Mais steht gerade und
       Gerste beugt sich. Eine Kuh hat ein Euter.
       
       Sie legte früh die Bedingungen ihrer Ehe fest: Wenn er arbeitete, arbeitete
       sie auch. Sie würde jeder Arbeit nachgehen, die sich mit der Betreuung
       ihrer zwei kleinen Töchter vereinbaren ließ – ein bisschen Babysitting, ein
       Job in einer Kindertagesstätte, die Pflege einer Frau mit [1][Multipler
       Sklerose], deren Kinder nachts aus dem Fenster kletterten.
       
       Einunddreißig Jahre waren Mary und Nicholas verheiratet. Dann sagte er
       eines Abends, dass er sich unwohl fühle. Mit seinem Hals stimmte etwas
       nicht. Er war ganz dürr geworden, wie Cliff Richard. Er ging zum Arzt, fand
       heraus, dass er Krebs hatte, und starb ein paar Monate später. Kurz darauf
       heiratete Mary seinen besten Freund Arthur und zog dessen zwei kleine Söhne
       groß. Dreizehn Jahre später starb Arthur und sie war wieder allein.
       
       So viel Leben in einem Leben.
       
       Nach dem Song und dem Zwinkern ging es schnell. Derek setzte sich jeden Tag
       neben sie. Sie plauderten. Eine Woche später beugte er sich zu ihr herüber
       und küsste sie sanft. Wenig später fragte er: Mary, willst du meine Frau
       sein? So formulierte er das: meine Frau.
       
       Derek war nicht schüchtern. Er hatte sehr gute Zähne und klare Augen. Er
       war ein großer Mann, maskulin, aber er hatte einen weichen Kern. Er würde
       sein letztes Hemd für dich hergeben und es fünf Minuten später schon
       vergessen haben, sagte Kerry, seine Nichte. Derek war in Newcastle
       aufgewachsen, in einer Familie mit mehreren Kindern. Ein paar Jahre
       verbrachte er bei der Marine – was für Geschichten er aus dieser Zeit
       erzählte! Weihnachten am Strand in Australien. Wie er vom Bug des Schiffs
       in den Suezkanal tauchte. Wie er an Land Unmengen Zigaretten kaufte, sie in
       seinem Schließfach aufbewahrte und schließlich zu horrenden Preisen an
       seine Kameraden verkaufte, wenn sie keine mehr übrig hatten. Und Derek
       kannte ein paar dreckige Witze. Die kann Mary nicht wiederholen, also sagt
       sie nur, dass er ungezogen war. Er konnte sich einfach nicht helfen, er
       flirtete mit den Pflegerinnen im Heim, den Ladys, manchmal ein bisschen zu
       viel. Er war ein Schürzenjäger.
       
       Derek war verheiratet, wurde geschieden, dann heiratete er wieder, aber
       hatte nie Kinder. Über die Jahre verlor er den Kontakt zu seiner Familie.
       Nachdem seine zweite Frau gestorben war, lebte er allein in Bognor Regis in
       West Sussex. Eine seiner Halbschwestern rief ihn ab und zu an. Als er nicht
       mehr ans Telefon ging, spürte sie ihn mithilfe der Polizei auf und fand
       heraus, dass er nach einem Sturz drei Wochen im Krankenhaus lag.
       
       Seine Familie schaltete sich ein. Seiner Nichte Kerry fiel die Aufgabe zu,
       sich um ihn zu kümmern. Sie ist sehr pragmatisch. Sie nahm Derek zu sich
       nach Hause. Manchmal war es schön – zum Beispiel, wenn er ihren Söhnen
       zeigte, wie man Fisch filetiert. Aber dann stürzte Derek, mehrmals.
       
       Während seiner ersten Zeit in Easterlea rief er Kerry bis zu fünfmal
       täglich an, völlig verstimmt.
       
       Stürze verändern alles. Wenn man jung ist, versteht man nicht, was ein
       Sturz bedeuten kann. Wie sehr das weh tut, wenn man alt ist. Nicht nur
       körperlich, sondern auch im Geiste. Man fängt an zu denken, dass man
       unfähig ist, zu nichts mehr in der Lage. Man hat Angst, sich zu bewegen.
       
       Mary stürzte im Haus ihrer Tochter Jacquie. Sie war dort eingezogen,
       nachdem sie ein paar Jahre allein und dann im betreuten Wohnen gelebt
       hatte. Zu Hause bei Jacquie knallte Mary auf die harten Fliesen im
       Badezimmer. Bald schaffte sie es nicht mehr aus der Badewanne, also brachte
       Jacquie sie einmal die Woche zum Waschen nach Easterlea.
       
       Der Ort gefiel Mary sofort. Die Pflegekräfte waren freundlich und das Heim
       war klein, nur 17 Bewohner*innen wohnten hier in einem hübschen,
       zweistöckigen Haus mit roten Schieferziegeln, weißen Fensterrahmen und
       einem Garten mit Terrasse und hochgewachsenen Eichen, die im leichten Wind
       hin und her tanzten. Carol Boyce-Flowers, die Managerin, war stolz darauf,
       dass sich ihre Einrichtung wie ein echtes Zuhause anfühlte, im Gegensatz zu
       diesen neuen Heimen, die großen Ketten angehören und eher Hotels oder
       schicken Krankenhäusern ähneln.
       
       Als ein Zimmer frei wurde, bot Carol es Mary an. Es ergab Sinn. Mary wollte
       ihrer Tochter nicht zur Last fallen, und sie hätte sich wirklich keinen
       schöneren Ort als Easterlea wünschen können. Es roch nicht nach Pipi oder
       Bleiche wie in anderen Pflegeheimen. Ihr Zimmer ging nach vorne raus und
       hatte große Fenster, die den Parkplatz überblickten, sodass sie alles
       „Kommen und Gehen aus der echten Welt“ beobachten konnte, wie sie es
       nannte.
       
       Nicht, dass sich das Heim weniger echt anfühlte. Aber es war wie eine
       Parallelgesellschaft, wo das Leben ein wenig langsamer ablief, gutmütiger
       und festen Abläufen folgend. Eine Tasse Tee im Bett um sechs Uhr morgens,
       waschen, Frühstück, Kaffee in der Lounge um zehn, Mittagessen um zwölf,
       eine Tasse Tee um zwei, eine Nachmittagsaktivität, Abendessen um vier,
       Fernsehen, nochmal waschen, ein heißes Getränk, Schlafenszeit.
       
       Also ja, sie hatte es sich ausgesucht hier einzuziehen, aber gleichzeitig
       war es anders, als Mary sich diese Phase ihres Lebens vorgestellt hatte.
       Sie hatte immer geglaubt, dass sie in ihrem eigenen Zuhause leben würde,
       mit Menschen, die zu Besuch kommen und so was sagen würden wie: „Hi Mama.“
       Aber sie war froh, diese Entscheidung selbst getroffen zu haben. Die
       meisten Leute hier, dachte Mary, wurden einfach so abgeladen, mit dem
       Hinweis, dass der Aufenthalt im Heim ein Urlaub sei. Und dann mussten sie
       sich ständig im Stillen fragen, wann die Kinder zurückkommen und sie wieder
       mit nach Hause nehmen würden.
       
       Nachdem Derek Mary traf, rief er nicht mehr so oft bei seiner Nichte an. Er
       und Mary hatten das Gefühl, sich für immer unterhalten zu können. Er
       beanspruchte den Stuhl neben ihr in der Lounge, wo alle einen festen Platz
       zu haben schienen. Joyce und Doreen links, die Dame mit den wunderschönen
       Haaren rechts. Menschen können besitzergreifend sein, wenn es um Sitzplätze
       geht.
       
       Mary wollte alles über ihn wissen. Wie Newcastle war, wie sich das Leben an
       Bord eines Schiffs abspielte. Samstagmorgens sangen sie zusammen. Sie
       guckten Sport, irgendwelchen. Fußball, Männer- und Frauenspiele. Mary
       betonte gern, dass die Frauen mehr Pässe spielten. Meistens guckten sie
       Leichtathletik.
       
       Sie eröffneten einander neue, kleine Welten. Mary brachte Derek zum Lesen,
       sie zeigte ihm Dan Brown, weil ihr die Verbindung so gefiel: Derek Brown
       liest Dan Brown. Er wiederum brachte sie zum Malen, mit Ausmalbüchern für
       Erwachsene, die gut fürs Gehirn sein sollen. Er liebte es zu zeichnen und
       zu malen. Alles, was er tat, schien er gut zu machen. Er puzzelte
       hingebungsvoll. Wenn ein Teil fehlte, krabbelte er auf dem Boden und
       zwischen den Stühlen herum, bis er es wiederfand. Er war der ordentlichste
       Mann, den Mary je getroffen hatte. Jedes Hemd, jeder Pullover lag gefaltet
       in einer Schublade. Das war der Einfluss der Marine. Und die Art, mit der
       er einen ansah: direkt in die Augen. Mary stellte sich vor, dass er genau
       so seine Kommandeure angesehen haben musste.
       
       Es ist etwas anderes, jemanden so spät im Leben kennenzulernen. Weil man
       weiß, dass nicht mehr viel Zeit bleibt, ist die Liebe dringlicher. Fast wie
       bei der ersten großen Liebe, obwohl es wahrscheinlich die letzte sein wird.
       Nichts von dem, was eine Beziehung in der Mitte des Lebens vernebeln kann,
       spielt eine Rolle: Wer macht was, wer zahlt die Rechnungen, wer kocht. Mary
       und Derek hatten nichts zu tun, jedenfalls nicht so was.
       
       Vorgegebene Zeitpläne und feste Strukturen sorgen in jeder Institution für
       eine Form der Infantilisierung. In einem Altersheim ist das nur
       offensichtlicher. Die Routinen, die Aktivitäten, Bastelstunden, gemeinsames
       Singen, der taktvolle Umgang mit Inkontinenz und Nickerchen – das alles hat
       einen Hauch von Kindergarten. Da sind liebe Menschen, meistens Frauen, die
       Dinge für dich erledigen und manchmal mit dir sprechen, als würdest du
       nicht richtig verstehen. Menschen, die dich waschen und füttern, wenn du es
       brauchst.
       
       Mary und Derek waren noch nicht so weit. Tatsächlich bestand Mary darauf,
       für sich selbst zu sorgen, und sie ermutigte andere, es ihr gleichzutun.
       Sie hatte eine kleine Regel: Sie würde jemandem nur dann helfen, das Essen
       kleinzuschneiden, wenn die Person es schon zweimal selbst versucht hatte.
       
       Wenn es wahr ist, dass wir uns im Alter Stück für Stück zurückentwickeln,
       dann hatten Mary und Derek vielleicht wieder ihre Jugend erreicht. Das
       passt zu Marys Empfinden. Sie sagte oft, dass sie eine junge Frau in einem
       zusammengeschlagenen Körper sei. In ihrem Kopf konnte sie aufstehen und
       tanzen. Sie und Derek konnten spielen, wieder jung zu sein und sich den
       ganzen Tag gegenseitig anschmachten, weil sie keine anderen Verpflichtungen
       hatten. Sie konnten sich verlieben wie Sechzehnjährige. Die Liebe von
       Leuten ohne Verantwortung.
       
       Die Tage nahmen neue Formen an. So früh er konnte, schlich sich Derek
       hinunter in Marys Zimmer. Und ja, da war Intimität zwischen ihnen. Sie
       schliefen nicht miteinander, aber das Verlangen war groß. Man hört nicht
       auf, so was zu fühlen, weil man alt ist. Derek schienen die vielen Arten,
       auf die ihr [2][Körper] sie betrog, nichts auszumachen. Dabei hätte Mary
       eine Liste erstellen können:
       
       Deine Zähne fallen aus.
       
       Dein Rachen zieht sich zusammen, sodass Schlucken schwerfällt.
       
       Deine Knie bringen dich um und deine Füße schwellen an. Dein Rücken tut
       weh.
       
       Du musst Einlagen benutzen, wegen der Inkontinenz. Wenn sie sich
       vollsaugen, können sie herumschwappen, auf dein Bein auslaufen und deine
       Schuhe durchnässen.
       
       Du kannst deinen BH nicht zumachen, also musst du den Verschluss nach vorne
       drehen.
       
       Dir kann schwindelig werden.
       
       Du kannst deine eigenen Haare nicht waschen.
       
       Du kriegst hässliche Stellen auf der Haut, wie Schuppenflechte.
       
       Du kannst dich nicht auf deinen Körper verlassen: Ein Bein kann plötzlich
       nachgeben, ohne Warnung.
       
       Das mit den Zähnen hatte sie schon gesagt, oder?
       
       Und dann all die anderen alltäglichen Demütigungen. Gewaschen werden zum
       Beispiel. Nicht mit eigener Kraft aus einem Stuhl aufstehen können oder von
       der Toilette. Sie fühlte sich so oft reduziert. Altwerden ist ein
       unvermeidbarer Statusverlust. Menschen neigen dazu, nicht auf die Alten zu
       hören.
       
       Mit Derek fiel das alles weg. Sie waren völlig voneinander eingenommen. Sie
       versuchten, respektvoll zu sein, wenigstens fand man sie niemals nackt im
       Flur, aber ein oder zwei Mal machten sie Geräusche. Andere
       Bewohner*innen beschwerten sich, und die Pflegekräfte fanden es
       merkwürdig. Jacquie und Kerry mussten einbestellt werden, um ein paar
       ernste Worte zu reden: Wenn ihr so was macht, müsst ihr die Tür schließen
       und ein bisschen leiser dabei sein.
       
       Aber meistens liefen Derek und Mary nur händchenhaltend durch die Gegend.
       Wahrscheinlich trieben sie alle anderen in den Wahnsinn, dachte Mary, zwei
       fast Achtzigjährige, die verrückt nacheinander sind. Und Derek war laut, er
       hatte diese typische Geordie-Stimme der Leute aus der Gegend um Newcastle.
       Nie machte er einen Punkt. Sie verbrachten die Morgenstunden mit puzzeln
       oder plaudern und beim Mittagessen aßen sie zu viel (sie nahmen beide zu).
       Dann folgte das Unterhaltungsprogramm am Nachmittag, und anschließend
       gingen sie zurück in Marys Zimmer, wo sie wieder plauderten oder fernsahen.
       Sie wollten zusammenziehen, in ein gemeinsames Zimmer. Derek begann schon
       nach Möbeln zu suchen, aber Carol sagte, dass es keinen Raum gab, der groß
       genug für zwei Personen sei. Also musste Derek nach dem Abendessen zum
       Schlafen in sein eigenes Zimmer gehen.
       
       In den 35 Jahren, die sie Pflegeheimleiterin war, sagt Carol, hat es
       vielleicht eine Handvoll Pärchen gegeben, die dort zusammenkamen. Aber
       meistens hätten sie ihre Zeit damit verbracht, gemeinsam in der Lounge zu
       sitzen oder sich bei den Mahlzeiten Gesellschaft zu leisten. Eher wie in
       einer Freundschaft. Nicht wie bei Mary und Derek.
       
       Mary hatte viele Metaphern für ihre Gefühle. Derek war ein blendender
       Meteorit an ihrem Himmel. Es war, als hätte jemand eine Kerze angezündet,
       oder die Sonne angeschaltet. Es hatte sie völlig umgehauen, sie war mit
       Liebe überschüttet worden.
       
       Derek machte ihr einen Antrag. Eines Tages, in ihrem Zimmer, ganz ruhig. Ob
       sie heiraten wolle? Ja, bitte. Er kaufte ihr einen Verlobungsring mit einem
       Amethyst, weil sie sich immer einen Amethyst gewünscht hatte.
       
       Wenn du etwas machst, mach es richtig. Mary schrieb Einladungen an Freunde
       und Familie. Carol und die Pflegekräfte richteten den Garten mit Pavillons
       und bunten Wimpeln her, Stühle und Tische hüllten sie in pinke Tischdecken.
       Der Tag war wunderbar, warm und sonnig. Es gab Sandwiches und zwei Torten,
       eine von Jacquie und eine von Kerry. Mary trug ein neues Kleid aus grauer
       Spitze und ein Bouquet aus pinken Rosen. Derek kaufte einen Anzug und
       bügelte messerscharfe Falten in die Hosenbeine. Der Pfarrer kam und
       spendete den Segen, eine Anerkennung dessen, was sie ineinander gefunden
       hatten. Sie sangen, aßen riesige Mengen Torte und saßen nebeneinander auf
       der Terrasse. Auf einem Foto neigen sich ihre Köpfe zueinander und sie
       schauen beide nach unten, als hielten sie diesen Moment fest, ganz privat,
       nur zu zweit.
       
       Und dann kam ein Wintertag im Februar, es gab Fish and Chips zum Mittag,
       also muss es ein Freitag gewesen sein. Mary und Derek saßen wie gewöhnlich
       in ihren Stühlen und unterhielten sich, wahrscheinlich über das
       Fernsehprogramm oder über etwas, das sie in der Zeitung gelesen hatten.
       Derek sagte, er müsse aufs Klo, weil sie einander immer sagten, was sie
       taten, und dann stand er auf und sagte etwas Lustiges, weil er immer
       lustige Sachen sagte.
       
       Da lag ein Ausdruck in seinem Gesicht, als hätte er Unfug im Sinn. Er
       flirtete ja oft mit den Pflegerinnen oder gab ihnen sogar einen Klaps auf
       den Hintern. Carol hatte schon mit ihm darüber gesprochen – sie wisse, dass
       er sich einen Spaß daraus mache, aber er müsse damit aufhören, es sei nicht
       richtig. An diesem Februartag jedenfalls stand er auf, lief durch den Raum
       und stürzte, genau vor Carols Büro. Er war da, und dann war er es nicht
       mehr. Er fiel zu Boden wie ein gefällter Baum.
       
       Sie wussten, dass es schlimm war. Er konnte sich nicht bewegen. Carol rief
       den Rettungsdienst, die Sanitäter kamen nach einer gefühlten Ewigkeit. Mary
       konnte nicht anders als wütend auf sie zu sein, es gab sonst niemanden, den
       sie beschuldigen konnte. Sie kamen ihr so verdammt langsam vor. Aber Derek
       war ein großer Mann, schwer zu bewegen. Sie hievten ihn auf eine Liege und
       brachten ihn in die Notaufnahme. Sie könne nachkommen, sagten sie zu Mary,
       also rief sie Jacquie an und sie fuhren ins Krankenhaus, das Queen
       Alexandra in Portsmouth. Alles wird gut, dachte Mary. Sie war sicher, dass
       er zurückkommen würde. Sie saß neben ihm, während er immer wieder das
       Bewusstsein verlor. Er sagte ein paar nette Sachen. Die Stunden vergingen.
       Derek starb gegen acht Uhr abends.
       
       Mary weiß, dass sie Glück hatte. Drei Männer hat es in ihrem Leben gegeben,
       und sie alle waren gut gewesen: 31 Jahre mit dem ersten Ehemann, 13 mit dem
       zweiten, weniger als ein Jahr mit dem dritten. Solches Glück. Und trotzdem
       – wie bescheuert war es, so oft zur Witwe geworden zu sein.
       
       Derek hatte alles verändert, und nun änderte sich wieder alles. Ganz kurz
       dachte Mary nach seinem Tod darüber nach, alle ihre Tabletten aufzubewahren
       und dann mit Ruhm und Ehre abzutreten. Aber sie verwarf den Gedanken
       schnell, sie musste weitermachen. Sie musste all die Dinge weitermachen,
       die sie sonst gemeinsam getan hätten.
       
       Sie setzt jetzt ein fröhliches Gesicht auf, das ist wichtig. Genau wie ihr
       Make-up: Grundierung, Puder, Eyeliner, Wimperntusche. Jeden Tag. Du machst
       dich hübsch und lächelst, denn wenn du andere überzeugen kannst, dass es
       dir gut geht, dann bist du nah dran, auch selbst daran zu glauben.
       
       Da ist diese Lücke, seit er weg ist. Dieses Loch neben ihr, wo er immer
       gesessen hat. Sie kann fühlen, dass er bei ihr ist, so wie die Toten
       überall anwesend scheinen, außer körperlich. Es geschah so plötzlich. Er
       war hier, genau hier, und dann nicht mehr. Ohne ihn, ohne seine
       Gesellschaft und die Ablenkung muss sie die täglichen Wiederholungen
       irgendwie anders ausschmücken. Kleckern, stolpern, Gäste empfangen. Jemand
       kommt vorbei, um die Mutter zu besuchen. Alle machen kurz Halt an Marys
       Platz und reden mit ihr. Sie sehnt sich am meisten nach Austausch. Manchmal
       setzt das Personal jemanden in den Stuhl neben sie, weil sie wissen, dass
       Mary reden wird.
       
       In dem Rechteck aus Stühlen in der Lounge sind die meisten Damen entweder
       still oder schlafen. Die Frau mit den wunderschönen Haaren setzt sich auf
       dem Platz rechts von Mary, sie platziert ihr Buch umsichtig auf dem Tisch
       vor ihr, dann senkt sich das Kinn auf ihre Brust und sie schließt die
       Augen.
       
       Mary versucht, sich an das Schöne zu erinnern. An Eiersandwiches. An den
       Schweinebraten heute Mittag, mit Kartoffelbrei oder Bratkartoffeln. Sie
       durfte beides haben, all die Kartoffeln. Nur beim Nachtisch konnte sie den
       Pudding nicht gegen die Schokoladentarte tauschen, weil der Arzt ihr eine
       Diät verordnet hat. Die Leute machen sich keine Vorstellung, wie stark
       Schokolade duftet.
       
       Es gibt da diese eine Illusion, von der Mary glaubt, dass alle Bewohner im
       Heim sie teilen, aber niemals darüber sprechen. Die Illusion, dass der
       Aufenthalt hier nur temporär ist, dass sie wieder nach Hause gehen werden.
       Was mit Derek geschah, machte Marys Illusion kaputt. Sie weiß jetzt, dass
       es möglich ist, aus dem Stuhl aufzustehen, durchs Zimmer zu laufen und auf
       der Stelle zu sterben. Sie kann die Illusion nicht mehr aufrechterhalten.
       
       Wenn man allein ist, beginnt man im Innen zu leben. An einem stürmischen
       Nachmittag im November saß Mary neben Joyce in der Lounge. Joyce nahm ein
       Fußbad, und ihr Blick fixierte einen Punkt in mittlerer Entfernung, eine
       Stelle im Nichts, die sie oft ansah, wenn sie gerade nicht redete. Mary
       guckte zu ihr rüber. „Joycie ist am Meer“, sagte Mary. „Sie hat ein
       zusammengeknotetes Taschentuch auf dem Kopf.“ Joyce hörte sie nicht oder
       wollte nicht hören.
       
       In ihren Träumen geht Mary rückwärts, zurück in ihre Kindheit, zu den
       Sommern, zu dem Teleskop. Sie erinnert sich daran, wie sich das Teleskop
       anfühlte, und daran, wie ihr Bruder und sie das Stativ auf ihrem Bett
       platzierten und durchs Fenster zum Himmel hin ausrichteten. Manchmal hat
       Mary schlechte Träume, aber ihre Tage bleiben davon unberührt. Sie kann
       einen wunderschönen Tag haben und dann Furchtbares träumen, oder sie hat
       einen schlechten Tag und träumt etwas Fantastisches.
       
       Jetzt, tagsüber, wach, sind ihre Gedanken meist bei Derek. Sie hat noch
       seinen alten Morgenmantel, einen Teil seiner Asche und einen Teddy, den
       Kerry ihr aus einem seiner Hemden genäht hat. Und seine Tagebücher, in
       denen sie von ihrer gemeinsamen Zeit lesen kann, und von Sachen, über die
       Mary nichts wusste.
       
       Vor Dereks Ankunft versuchte Mary einfach nur zu überleben. Man soll jeden
       Tag drei neue Dinge tun, hatte man ihr gesagt. Oder waren es drei neue
       Dinge pro Woche? Hauptsache den Geist fit halten. Puzzeln. Den Körper
       bewegen. Und dann war er da, singend.
       
       Sie fühlt sich manchmal sehr allein. Es geht ihr dann schlecht. Ihr Bruder
       Ian hat neulich zu ihr gesagt: „Kein Wunder, du wurdest völlig aus der Bahn
       geworfen.“ Und trotzdem ist nicht alles schrecklich. Mary will, dass Sie
       das wissen. Es hat auch Vorteile, alt zu werden! Man kann unverschämter,
       unverblümter und ehrlicher sein. Man muss sich nicht zu Dingen drängen
       lassen, auf die man keine Lust hat. Man muss sowieso überhaupt nichts. Sie
       hat ihr ganzes Leben gekocht, versorgt, geputzt, Geld verdient und sich
       darum gekümmert, dass es allen gut geht, und es gab Shepherd’s Pie auf dem
       Tisch und umgeschlagene Manschetten. Jetzt kann sie sich endlich
       zurücklehnen. Heute muss sie nirgendwo sein.
       
       So ist es jedenfalls für Mary. Jeder wird auf eigene Art und Weise alt. Was
       wissen wir überhaupt über das Alter, solange wir jung sind? Über die Alten
       denkt man oft wie über Kinder – man stellt sie sich alle irgendwie gleich
       vor, bis die Einzigartigkeit sich so sehr aufdrängt, dass sie nicht mehr
       abzusprechen ist.
       
       Mary hat niemals mit all dem gerechnet. Während ihrer Zeit mit Derek fühlte
       sie sich nicht nur geliebt oder noch einmal jung, sondern wirklich
       wahrgenommen. Er hat ihr Leben weit aufgerissen, als es gerade so schien,
       als würde es nur noch enger werden, immer enger, unaufhaltsam.
       
       Was für ein Glück, wirklich. Zu wissen, dass so etwas kurz vor dem Ende
       möglich ist.
       
       Dieser Text erschien erstmals am 23. November 2023 [3][im] Guardian.
       Übersetzung aus dem Englischen: Lin Hierse
       
       27 Apr 2024
       
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