# taz.de -- Im wilden, wilden Osten
       
       > Milan Peschels „Chico Zitrone im Tal der Hoffnung“ verknüpft in Schwerin
       > klug und unterhaltsam Western-Klassiker und deutsche Ost-West-Geschichte
       
 (IMG) Bild: Eine wirkliche Geschichte gibt es nicht, aber jede Menge überdrehte Westernklischees
       
       Von Katrin Ullmann
       
       Rollende Heuballen und rauchende Colts. Wortkarge Cowboys und galoppierende
       Pferde: Western-Filme. In der Regel spielen sie zwischen 1850 und 1900, in
       einer Zeit, in der die US-amerikanischen Pioniere nach Freiheit suchten und
       begannen, den Mittleren Westen zu besiedeln, als Symbol für den Übergang
       von der Natur zur Zivilisation. Der Schauspieler und Regisseur Milan
       Peschel hat dem ur-amerikanischen Filmgenre am Mecklenburgischen
       Staatstheater einen Abend gewidmet, hat einen Western, wohl eher einen
       Eastern, für Schwerin erfunden. Gemeinsam mit acht Schauspieler*innen –
       Marko Dyrlich, Katrin Heinrich, Wassilissa List, Sebastian Reck, Jennifer
       Sabel, Jonas Steglich, Antje Trautmann, Frank Wiegard – und einem Hund
       („Captain Spock“), der besser ist, als es Lassie je war.
       
       „Chico Zitrone im Tal der Hoffnung“ heißt der Abend. Darin hat die
       titelgebende Hauptfigur offenbar gerade die Kleinstadt Lordsburg erreicht
       und direkt den Wirt umgelegt: Der Kaffee war einfach ungenießbar.
       Tatsächlich taucht und tritt dieser Chico Zitrone im Verlauf der
       Inszenierung kein einziges Mal auf. Umso mehr Mythen und Legenden werden um
       ihn gesponnen, genauso wie um Johnny Rogers, Chicos Stuntdouble und
       einziger Freund, jener Kerl mit dem „hüftsteifen Gang“, der wegen
       Magen-Darm ausfällt und ebenfalls nicht auftreten wird. Stattdessen kommt
       aber die Zweitbesetzung vorbei. Diese wiederum wird gespielt von einem
       gewissen John Gant, dessen Pferd lahmt und der also einen Hufschmied und
       auch einen Kaffee braucht. Diesen gibt es angeblich 10 Meilen westlich von
       hier, in der Kantine.
       
       Und schon steckt man mittendrin in der Geschichte, die keine wirkliche
       Geschichte ist. Die mit Andeutungen und Wortwitzen unfassbar lustvoll um
       sich ballert und in der Zitate funkenhell aufsprühen wie bei einem
       Lagerfeuer mit knochentrockenem Brennholz. Es ist ein flirrender Abend, der
       munter mit Narrativen und Erzählebenen spielt und immer wieder den
       Ost-West-Diskurs aufmacht.
       
       „Geh in den Osten, habe ich mir gesagt, mach dein Glück, dort in der
       wiedervereinigten Prärie kannst du das Maximale aus dir und den ungeklärten
       Verhältnissen vor Ort herausholen, dort warten jede Menge Gewinnchancen auf
       dich – sei deine eigene Goldmine“, heißt es einmal im Text, und das Motiv
       der Aneignung indigener Gebiete durch weiße Cowboys und der damit
       verbundene Versuch, endlich die Zivilisation in den vermeintlich rauen
       Westen zu tragen, schlägt schnell den assoziativen Bogen zu den
       „Wiedervereinigten Staaten von Deutschland“. Nur eben in anderer
       Himmelsrichtung.
       
       Immer wieder springt die Inszenierung vom amerikanischen Gründungsmythos
       zur kriselnden Demokratie der Gegenwart, vom heroischen
       Klischeewestern-Mythos in die „gesamtdeutsche Prärie“; von trashigen
       Filmsettings zu verzweifelten Schauspieler-Vorsprechen, von Mister Tequila
       über die verpasste Betriebsratssitzung bis hin zu virulenten Debatten über
       Gerechtigkeit, Teilhabe, Fremdzuschreibung und Meinungshoheit. Einer der
       offenkundigen Textpaten ist Dirk Oschmann, der mit seinem Buch „Der Osten:
       eine westdeutsche Erfindung“ im vergangenen Jahr Aufsehen erregte.
       
       Auf filmischer Seite würde eine Aufzählung die Zeilen sprengen, einer aber
       muss genannt werden: John Ford. Von seinen rund 130 Filmen waren 54
       Western. Er war es, der John Wayne zur Ikone machte. Und trotz aller
       Unterschiedlichkeit erzählen diese Filme immer, wie ein Kontinent, ein
       Landstück ‚zivilisiert‘ wird durch den Mut und die Kraft eines Mannes. Das
       zu erobernde Grenzland ist dann nicht mehr das Land der Freiheit und
       unendlichen Weite, sondern steht für Gier, Rache und Größenwahn. Der Osten:
       eine westdeutsche Annexion?
       
       Es ist ein riesiger Spaß, dem Ensemble dabei zuzusehen, wie es sich mal
       träge auf der Holzveranda lümmelt und im Kreis debattiert, wie es lässig
       mit Cowboyhüten, -stiefeln, in Fransenkleidern und mit Revolvergürteln
       (Ausstattung: Magdalena Musial) über die Bühne schreitet und mit ordentlich
       Piff-Paff und noch mehr Whiskey Sour den einen oder anderen Slapstick
       performt. Mal mit wehenden Trenchcoats, mal in glorifizierender Nahaufnahme
       (Live-Kamera: Jan Speckenbach).
       
       Klar, in Peschels Inszenierung leuchten kräftig der Spielspaß und die
       langjährige Arbeit mit den Kollegen Frank Castorf und René Pollesch durch:
       das Tempo, der Diskurswitz, das erregte Durcheinander, das sich immer
       wieder neu auslotet zwischen großen philosophischen,
       gesellschaftsrelevanten Fragen, gewitzter Parodie und herrlich sinnfreiem
       Trash. Streckenweise hat man den Eindruck, als wäre die Berliner Volksbühne
       mal eben um 200 Kilometer nordwestlich an den Burgsee gerutscht. Dazu
       kommen verheißungsvolle Filmmusik und tolle Ensemble-Schauspieler*innen,
       die Speckenbach am Ende kunstvoll durch unzählige Western-Klassiker
       spazieren lässt. Macht zusammen: einen klug unterhaltsamen und hoch
       energetischen Abend, an dessen Ende langsam und wunderschön die goldene
       Lametta-Sonne untergeht. Wie immer. Im Weste(r)n.
       
       „Chico Zitrone im Tal der Hoffnung“: wieder am 24. 2., Mecklenburgisches
       Staatstheater Schwerin; weitere Termine: 15. 3., 17. 3., 5. 4., 6. 6., 13.
       6., 16. 6.
       
       23 Feb 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katrin Ullmann
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA