# taz.de -- Bandengewalt in Haiti eskaliert: „Haiti ist vollständig kollabiert“
       
       > Die USA haben zu lange auf Machtinhaber Henry gesetzt, sagt der
       > haitianische Menschenrechtler Pierre Espérance. Es brauche einen
       > Strategiewechsel.
       
 (IMG) Bild: Frauen suchen Schutz vor einer Schießerei zwischen Gangs und Polizei in Port-au-Prince, 1. März 2024
       
       Die Internetverbindung nach Haiti ist wackelig. Man wundert sich, dass man
       überhaupt noch telefonieren kann. Pierre Espérance, der Direktor des
       haitianischen Menschenrechtswerkes Réseau National de Défense des Droits
       Humains (RNDDH) sitzt während unseres Gesprächs im Büro der Organisation.
       Es liegt nicht weit von dem Viertel Delmas in Port-au-Prince entfernt, das
       seit Monaten zwischen den Gangs umkämpft ist, weil es in unmittelbarer Nähe
       zum Flughafen gelegen ist. 
       
       Gegen Espérance und seine Mitarbeiter:innen ausgesprochene
       Morddrohungen sind Alltag, seit die Organisation detailliert recherchierte,
       dass der – mittlerweile ermordete – damalige haitianische Präsident Jovenel
       Moïse im Jahr 2018 ein Massaker an 70 Einwohner:innen im Stadtteil La
       Saline womöglich direkt bei den Gangs in Auftrag gegeben hatte. Ausführende
       Kraft bei dem Massenmord war damals Bandenboss Jimmy Chérizier, unter
       dessen Führung die Gangs nun wiederum offen die Machtfrage gegen die
       aktuelle Regierung von Interimspremier Ariel Henry stellen. Inzwischen
       ziehen auch ausländische Vertretungen im Land ihre Leute zurück: Der
       deutsche Botschafter in Haiti, Vertreter:innen der EU und
       amerikanisches Botschaftspersonal wurden am Wochenende ausgeflogen.
       
       taz: Herr Espérance, wie ist die aktuelle Situation in Haiti?
       
       Pierre Espérance: Haiti ist vollständig kollabiert. Seit zehn Tagen sind
       alle staatlichen Institutionen geschlossen. Es gibt keine Polizei auf den
       Straßen. Die Polizisten weigern sich Dienst zu tun, weil sie die
       Polizeiführung kritisieren, die nichts zum Schutz der diensthabenden
       Polizisten unternimmt. Die haitianische Bevölkerung ist völlig ihrem
       Schicksal überlassen. Es gibt keine Nahrungsmittel, kein Wasser. Die
       Menschen können ihre Häuser nicht verlassen, weil die Gangs alles
       kontrollieren. [1][Der Staat existiert nicht mehr.] Wir befinden uns alle
       in Gefahr.
       
       Die Polizei wurde jahrelang unter anderem von Kanada trainiert und
       ausgerüstet. Warum ist sie gegenüber den Gangs so machtlos? 
       
       Die Polizei wäre durchaus in der Lage, die Gangs zurückzudrängen. Aber die
       Polizisten weigern sich, Befehle ihrer Führung auszuführen. Denn es gibt
       eine sehr enge Zusammenarbeit zwischen Gangs und Polizeiführung. Zum
       Beispiel wurden auf Befehl der Banden mehrere gepanzerte Fahrzeuge, die das
       Nationalgefängnis bewachen sollten, kurz vor dem Angriff der Gangs
       abgezogen. Es ist anzunehmen, dass den Kriminellen freie Bahn verschafft
       werden sollte.
       
       17 Jahre lang hat die UN-Militärmission Minustah die Gangs in Haiti
       bekämpft. Damals gab es gerade mal zwei große Gruppen. Jetzt ist die Rede
       von 200 viel besser ausgerüsteten Gangs. Noch immer hofft man, mit einer
       multinationalen Truppe, dieses Mal unter Führung Kenias, das Problem in den
       Griff zu bekommen. Gibt es eine militärische Lösung für die Ganggewalt? 
       
       Die Debatte verengt sich immer auf diese Frage einer multinationalen
       Polizeimission. Sie wird als Lösung für Haiti angepriesen. Aber die
       Probleme sind viel umfassender. Es gibt keine kohärente Politik zwischen
       den internationalen und nationalen Akteuren, die ökonomische Lage ist von
       chronischer Instabilität geprägt, es gibt keine politische Infrastruktur,
       die eine Regierung ermöglichen würde, wir haben keinen Rechtsstaat. Wenn
       wir diese Probleme nicht lösen, können wir die Ganggewalt nicht
       einschränken. Die internationalen Akteure, allen voran die USA, haben immer
       umgekehrt gedacht: Erst schaffen wir mit militärisch-polizeilichen Mitteln
       Sicherheit, dann überlegen wir politische Maßnahmen. Dabei ist es genau
       andersherum. Gäbe es einen funktionierenden Rechtsstaat und ein legitimes
       Parlament, das die Regierung kontrolliert, dann gäbe es auch eine
       funktionierende Regierungsmacht.
       
       Welche Verantwortung trägt die internationale Gemeinschaft, allen voran die
       USA, an dieser chaotischen Situation? 
       
       Die [2][USA, aber auch Kanada und andere Länder, tragen eine große
       Verantwortung für diese Situation]. Sie haben Ariel Henry nach der
       Ermordung von Jovenel Moïse zum Premierminister ernannt und gegen den
       Protest der Zivilgesellschaft bis vor wenigen Tagen unverbrüchlich an ihm
       festgehalten. Auf uns haben sie nicht gehört. Stattdessen unterstützten sie
       eine Regierung, die nachweisbar in die Ganggewalt verwickelt ist. Die
       internationale Gemeinschaft hat eine Menge Geld in Haiti und in die
       Regierung Henrys investiert – und vergeudet. Ihre Politik ist vollkommen
       gescheitert.
       
       Welche Rolle spielt Ariel Henry, der amtierende Ministerpräsident, dem es
       bislang wegen der anhaltenden Gewaltwelle offenbar unmöglich ist, von einer
       Auslandsreise in den Präsidentenpalast zurückzukehren? 
       
       Er ist seit zweieinhalb Jahren Ministerpräsident. Er genoss bis vor Kurzem
       die volle Unterstützung der USA und der für Haiti verantwortlichen
       UNO-Vertretung. Er ist aber verantwortlich für den Wahnsinn, der sich
       gerade in Haiti abspielt. Er hat nichts getan, um Rechtsstaatlichkeit
       herzustellen und demokratische Reformen einzuführen. Unter ihm ist die
       Ganggewalt enorm gestiegen. Noch dazu gibt es gibt in Haiti weder ein
       gewähltes Parlament noch einen Senat. Ich rechne mit seinem baldigen
       Rücktritt, denn er hat nun keine Unterstützung der USA mehr.
       
       Wie könnte sich die Situation in Haiti weiterentwickeln? 
       
       Gerade melden in Haiti Gangführer wie Chérizier oder Gangster wie Guy
       Philipp, der jahrelang im US-Gefängnis saß, Machtansprüche an. Sie
       verkörpern die Gangs und sie wollen mit ihnen an die Macht kommen. Sie
       klopfen revolutionäre Sprüche – wie Chérizier, der immer Bezug auf die
       haitianische Revolution nimmt, oder wie Philipp, der sich mit Nelson
       Mandela und Lula [dem brasilianischen Präsidenten, der 2018/19 nach einem
       mutmaßlich politisch motivierten Korruptionsprozess in Haft saß; d. Red.]
       vergleicht. Aber Chérizier ist in ungeheure Verbrechen verwickelt und
       dieses Gerede soll das vertuschen. Sie träumen von einer neuen Diktatur à
       la François Duvalier.
       
       Knapp 30 Jahre lang etablierten François Duvalier und später dessen Sohn
       Jean-Claude ab 1957 eine Terrorherrschaft auf Haiti. 
       
       Die Gangs werden sich damit nicht durchsetzen. Es gibt Bemühungen der
       karibischen Staatengemeinschaft Caricom, die auch mit Vertretern der
       Zivilgesellschaft und unabhängigen demokratischen Kräften spricht, eine
       glaubwürdige Übergangsregierung zu installieren. Welche Chance das haben
       könnte, ist offen. Wir brauchen die Unterstützung der internationalen
       Gemeinschaft, insbesondere der USA, für einen wirklich demokratischen
       Prozess, der die Herrschaft des Rechts herstellt. Das käme allerdings einer
       völligen Umkehr der US-Politik gleich.
       
       11 Mar 2024
       
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