# taz.de -- Grünen-Chefin Nina Stahr: „Ich habe viel Rückhalt“
       
       > Nina Stahr bleibt nach ihrem Ausscheiden aus dem Bundestag dauerhaft
       > Grünen-Landesvorsitzende. Ihr Hauptjob: den Landesverband wieder
       > befrieden.
       
 (IMG) Bild: „Dieser Parteitag war wirklich keine Glanzleistung“: Nina Stahr bei der Landesdelegiertenkonferenz der Grünen im Dezember 2023
       
       taz: Frau Stahr, vor knapp zwei Wochen mussten Sie Ihr Bundestagsbüro
       räumen, weil Ihr Mandat bei der Wiederholungswahl wegfiel. War’s das mit
       der Bundespolitik? Oder werden Sie 2025 wieder für den Bundestag
       kandidieren?
       
       Nina Stahr: Das ist ja vor allem erst mal eine Entscheidung der Partei.
       
       …der aber Ihre eigene voran gehen müsste. 
       
       Stand jetzt gehe ich davon aus, dass ich, wenn die Partei mir ihr Vertrauen
       schenkt, da auch noch mal antrete.
       
       Sie mussten seit Dezember mit der Situation leben, dass – wirkliche –
       Parteifreunde Ihnen ein Ausscheiden wünschten, damit Sie dauerhaft und
       nicht nur vorübergehend wieder Landesvorsitzende sein sein können wie schon
       bis 2021, was nur ohne Mandat geht. Haben Sie das auch als absurd
       empfunden? 
       
       Genau so war es. Ich habe mich natürlich ein bisschen geschmeichelt
       gefühlt, dass Leute sich wünschen, dass ich diesen Job hier länger mache.
       Das ist ja erst mal ein Signal, dass ich auch in der Partei viel Rückhalt
       habe. Ich muss ehrlich zugeben: Ich bin fast ein bisschen dankbar, dass mir
       diese Entscheidung abgenommen worden ist, mein Bundestagsmandat aufzugeben
       oder nicht. Denn die wäre verdammt schwierig gewesen.
       
       Sie haben über den Grünen-Landesvorsitz gesagt: „Das ist ein unheimlich
       schöner Job.“ Das klang fast schon so wie Franz Müntefering, der den
       SPD-Vorsitz zu „schönstes Amt neben Papst“ hochstilisierte. So begeistert
       klangen Grünen-Chefs nicht immer. 
       
       Ich würde weder Papst noch SPD-Vorsitzende sein wollen, aber ja, ich finde
       tatsächlich, dass der Vorsitz der grünen Partei ein schöner Job ist.
       Natürlich gibt es auch schwierige Momente, gerade jetzt im Nachgang der
       Landesdelegiertenkonferenz im Dezember, das brauchen wir ja gar nicht zu
       beschönigen. Da gab es Gespräche, die herausfordernd waren, keine Frage.
       Was ich an der grünen Partei so schätze, ist, dass wir in der Sache
       durchaus streiten, aber dabei auch ernsthaft Argumente austauschen und am
       Ende eine gute, gemeinsame Lösung finden. Diese konstruktive Arbeitsweise
       bei uns Bündnisgrünen schätze ich sehr und das macht dieses Amt tatsächlich
       zu einem so schönen Job.
       
       Dieses Miteinander-Streiten, das sie gerade so positiv dargestellt haben,
       fand zumindest beim angesprochenen Parteitag und in seinem Vorfeld in einer
       Atmosphäre statt, die nun wenig inhaltlich, sondern stark von
       Diffamierungen geprägt war. Werbung für grüne Diskussionskultur war das
       nicht. 
       
       Dieser Parteitag war wirklich keine Glanzleistung…
       
       …was man noch eine Untertreibung nennen könnte…
       
       …und natürlich müssen wir das aufarbeiten. Gleichzeitig nehme ich in der
       Partei wahr, dass ein großer Wille da ist, das zu klären und nach vorne zu
       schauen und zu sagen: wie können wir solche Vorkommnisse in Zukunft
       verhindern?
       
       Renate Künast [1][hat im Januar ein Ende der – ihre Wortwahl –
       „Flügelscheiße“ gefordert]. Sie haben darauf verhalten reagiert und gesagt,
       Strömungen oder Flügel hätte jeder Sportverein und jede Kirchengemeinde.
       Sie empfinden die Flügelbildung also nicht als negativ? 
       
       Das kommt drauf an, ob die Flügel sich gegenseitig befruchten. Treffen
       unter Gleichgesinnten – nennen wir es dann Flügel – bieten einen offenen
       Denkraum, wo man Dinge auch mal antesten und vordiskutieren kann, wo man
       einfach mal laut denken kann, ohne dass einem das gleich auf die Füße
       fällt.
       
       Wenn Leute bei der CDU in dieser Weise zusammensitzen, sind die Grünen
       schnell dabei, das als Hinterzimmerrunden oder Klüngeleien einzuordnen. 
       
       Die Frage ist: wie transparent ist es, dass Leute sich treffen? Und mache
       ich das mit fünf Leuten, mit 50 oder 150? Da ist der Unterschied in der
       Größe. Ich glaube tatsächlich, dass Parteiflügel als eine Art Thinktank
       agieren können und dass sie eine Bereicherung für eine Partei sein können.
       Aber es muss ein gegenseitiger Respekt dafür da sein, dass Menschen
       unterschiedliche Erfahrungen und Lebensrealitäten mitbringen und
       entsprechend unterschiedliche Schwerpunkte setzen möchten. Nur wenn man das
       zusammenführt, kann man auch für die ganze Stadt ein Angebot machen. Ich
       kann mir gut vorstellen, dass Renate Künast das auch in diese Richtung
       gemeint hat.
       
       Die Partei als Abbild der Stadt im Großen? 
       
       Der Kern von Politik ist ja immer, einen guten Kompromiss zu finden, und
       das hat auch innerhalb einer Partei umso mehr Bedeutung, je größer sie
       wird.
       
       Die Berliner Grünen haben inzwischen 13.000 Mitglieder. Als Sie 2016
       erstmals Parteichefin wurden, waren es noch 5.000. 
       
       Desto wichtiger ist es, auch innerhalb der Partei erst mal diesen
       Kompromiss zu finden. Aber nicht immer ist der Kompromiss die Lösung. Das
       eine oder andere muss man auch mal per Abstimmung klären. Bei der Frage
       nach Waffenlieferungen in die Ukraine kann man kein „Vielleicht“ als
       Antwort geben. Aber an ganz, ganz vielen anderen Stellen sind gute
       Kompromisse möglich.
       
       Mit der gescheiterten Wahl von Tanja Prinz und Ihrer Rückkehr in den
       Landesvorsitz hat sich der Unmut ja nicht aufgelöst, der Prinz überhaupt
       erst zur Kandidatin gemacht hatte. Das war unter anderem die Kritik, die
       Berliner Grünen seien zu links orientiert und hätten bürgerliche Wähler
       vergrätzt.
       
       Wir haben mit Sicherheit noch ein Stück Weg zu gehen. Denn natürlich hat
       sich im Umfeld dieses Parteitages einiges abgespielt, worüber wir jetzt
       weiterhin in der Partei sprechen müssen. Und genau das tun wir jetzt. Ich
       bin der festen Überzeugung, dass man Unstimmigkeiten und Verletzungen nur
       ausräumen kann, wenn man miteinander spricht und nicht übereinander.
       
       Durch den Streit im Dezember ist eine Gruppierung über die Partei hinaus
       bekannt geworden, „Grüne Realos in Mitte“, kurz gr@m. Manche nennen sie
       Ultra-Realos. Sie gehören selbst dem Realo-Flügel an: Wie ist ihr Blick auf
       diese Gruppe?
       
       Also, ich bin in erster Linie nicht Realo-Politikerin, sondern
       Parteivorsitzende für die gesamte Partei.
       
       Aber Sie sind als Vertreterin Ihres Flügels zur Co-Vorsitzenden neben
       Philmon Ghirmai von der Parteilinken geworden. 
       
       Das stimmt. Aber ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, nicht über
       einzelne Personen in der Öffentlichkeit zu sprechen. Ich kenne viele Realos
       aus Mitte, die eine sehr gute inhaltliche Politik machen. Ob die sich dann
       der genannten Gruppe zugehörig fühlen, das müssen Sie die Leute jeweils
       selber fragen.
       
       Tanja Prinz hatte [2][im taz-Interview gesagt]: 18,4 Prozent – das Ergebnis
       der Grünen bei der Berlin-Wahl – seien nicht das Ende der Fahnenstange. Wo
       ist dieses Ende denn aus Ihrer Sicht? 
       
       Wir kämpfen natürlich für so viele Wählerinnen und Wähler wie möglich, und
       natürlich sehe auch ich das so, dass 18,4 Prozent nicht das Ende der
       Fahnenstange ist.
       
       Vergleichsgröße ist gern Baden-Württemberg, wo die Grünen 2021 über 32
       Prozent holten. 
       
       Da müssen wir schon genauer berücksichtigen, wie die Gemengelage in Berlin
       ist. Hier sind linke Parteien nochmal deutlich diverser aufgestellt. Die
       Linkspartei etwa spielt hier eine viel stärkere Rolle als in
       Baden-Württemberg. Und das macht natürlich dann auch einen Unterschied für
       Berliner Wahlergebnisse. Gleichzeitig teile ich nicht die Analyse, dass wir
       nicht genug auf das bürgerliche Lager gucken. Denn ich finde, als Politik
       ist es unsere Verantwortung, für alle Menschen in dieser Stadt ein Angebot
       zu machen, die eine demokratische Partei wählen wollen.
       
       Das war und ist ja genau die Kritik von Prinz und gr@m: Dass der
       Landesverband eben nicht die ganze Stadt im Blick habe.
       
       In der Analyse der der Wahl sehen wir doch: 2021 hatten wir unser
       historisches bestes Ergebnis, 2023 haben wir minimalst verloren, während
       die anderen beiden Parteien, die mit uns im Senat waren, deutlich mehr
       verloren haben. Das zeigt, dass wir ein Stabilitätsfaktor in dieser
       Koalition waren und durchaus für die ganze Stadt ein Angebot gemacht haben.
       Was wir ehrlich besprechen müssen ist, dass es im Wahlkampf oft weniger um
       unser eigentliches Programm ging, sondern wir uns vor allem von der CDU in
       eine Ecke haben drängen lassen als Anti-Auto-Partei. Da hätten wir stärker
       zeigen müssen: Wir sind eine Partei, die alle Menschen in dieser Stadt im
       Blick hat. Das haben wir vielleicht tatsächlich nicht ausreichend
       vermitteln können.
       
       Wobei die Grünen ja durchaus einiges getan haben, diesem CDU-Bild zu
       entsprechen: Die [3][Sperrung der Friedrichstraße fiel ja nicht vom
       Himmel]. 
       
       Ob die Friedrichstraße autofrei ist oder nicht, ist für einen großen Teil
       der Menschen in dieser Stadt doch gar nicht entscheidend. Das ist vor allem
       für die Gewerbetreibenden vor Ort wichtig. Da bin ich immer noch der
       Meinung, dass man die Friedrichstraße sehr viel attraktiver gestalten kann,
       als sie es derzeit als Durchgangsstraße ist. Wenn sie für die Menschen in
       der ganzen Stadt attraktiver wird nutzt das wiederum den Gewerbetreibenden.
       
       Es spielte aber keine Rolle, ob jemand tatsächlich selbst in der
       Friedrichstraße unterwegs war oder nicht: Sie wurde als Symbol für grüne
       Anti-Autopolitik wahrgenommen. 
       
       Vielleicht haben wir da zu sehr fokussiert auf diesen einen Punkt und nicht
       geschafft zu zeigen, dass wir beim Verkehr das große Ganze im Blick haben.
       Wenn ich mir anschaue, dass dieser schwarz-rote Senat jetzt an so vielen
       Stellen Tempo 30 wieder zu Tempo 50 machen will, dann macht mich das
       richtig sauer, denn uns geht es um Verkehrssicherheit für alle
       Verkehrsteilnehmer*innen, gerade für die schwächsten. Das torpediert der
       Senat, wenn er alle Fortschritte der letzten Jahre wieder zurückdreht.
       
       Kritische Stimmen halten der Parteiführung auch vor, das Thema Innere
       Sicherheit zu vernachlässigen. 
       
       Ich nehme das gar nicht mehr so wahr. Natürlich haben wir erkannt, dass
       Innere Sicherheit ein Thema ist, das viele Menschen bewegt. Da haben wir
       uns als Bündnisgrüne massiv weiterentwickelt. Aber was wir halt nicht
       machen, ist billige Antworten zu geben. Wenn wir uns Silvester 2022/23
       anschauen und die Antwort der CDU darauf ist, nach den Vornamen der Täter
       zu fragen – das ist nicht unsere Politik. Übrigens: Einer unserer Berliner
       Kandidat*innen für die Europawahl im Juni ist Polizist. Auch das zeigt,
       dass wir dieses Thema ernst nehmen und viele Perspektiven auf innerer
       Sicherheit in unserer Partei zusammenbringen.
       
       Diese Vornamensdebatte schien schon fast vergessen, bis vorige Woche im
       Abgeordnetenhaus klar wurde: Die angebliche Entschuldigung von Senatschef
       Kai Wegner, damals noch CDU-Fraktionschef, die einiges bereinigen sollte,
       hat es offenbar nie gegeben. Werden die Grünen da nochmal nachhaken? 
       
       Natürlich muss Kai Wegner da eine klare Position beziehen. Als Regierender
       Bürgermeister einer Stadt wie Berlin, die ja auch von der Vielfalt lebt,
       ist er da einfach in der Pflicht.
       
       Wegner hat dazu im Abgeordnetenhaus gesagt: Keine Partei dieser Stadt sei
       bei der jüngsten Wahl von mehr Menschen mit Migrationshintergrund gewählt
       worden als die CDU, also gebe es keine Grund, sich zu entschuldigen. 
       
       Es mag sein, dass Menschen mit Migrationshintergrund die CDU gewählt haben.
       Aber das entbindet einen doch nicht von der Verantwortung, das Signal
       auszusenden, dass diese Menschen hier auch willkommen sind, und nicht bei
       einem Vorfall wie der Silvesternacht sofort wieder die Schublade mit allen
       Vorurteilen rausgezogen wird.
       
       Es gibt aus dem Realo-Flügel heraus auch die Forderung, über die nächste
       Spitzenkandidatur per Urwahl zu entscheiden und nicht bei einem Parteitag.
       Unterstützen Sie das? 
       
       Mir ist diese Forderung bisher nicht bekannt. 2021 haben wir
       pandemiebedingt die Liste auf einer Landesdelegiertenkonferenz aufgestellt.
       Davor haben wir das üblicherweise bei einer Mitgliederversammlung gemacht,
       was ja einer Urwahl nahe kommt.
       
       Das stimmt ja so nicht: Da kamen vielleicht 15 bis 20 Prozent der
       Mitgliedschaft – bei der SPD-Urabstimmung über die schwarz-rote Koalition
       nahmen über 60 Prozent teil. 
       
       Wir diskutieren derzeit ohnehin über unsere Strukturen, aber das Thema
       Urwahl wurde dabei bisher nicht eingespeist. Ganz ehrlich, wir sind im
       Moment in der Mitte der Wahlperiode – das entscheiden wir dann zu gegebener
       Zeit.
       
       Nummer 1 Ihrer Kandidatenliste muss nach Statut immer eine Frau sein. Die
       Kandidatur für den Posten des oder der Regierenden im Roten Rathaus aber
       ist davon losgelöst: Könnte das 2026 ein Mann übernehmen? 
       
       Auch über das Thema Spitzenkandidatur sprechen wir zu gegebener Zeit.
       
       15 Mar 2024
       
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