# taz.de -- Musik-Jingles im Fußball: Dann geht sie ab
       
       > Völlig losgelöst läuft nach Treffern der DFB-Elf neuerdings „Major Tom“.
       > Die Torhymne bewegt plötzlich die Nation. Wie hat sie das verdient?
       
 (IMG) Bild: Tore wollen gehört werden: Der damalige HSV-Profi Rafael van der Vaart fordert 2008 Gesang, allerdings drohte „Life Is Life“
       
       Wenn ich ein Verschwörungstheoretiker wäre, der nicht immer nur die
       Politiker im Kopf hat, sondern auch mal eine hübsch irre Wohlfühlgeschichte
       verbreiten möchte, dann würde ich jetzt eine Theorie zum Ereignis der Woche
       aufstellen. Die DFB-Chefclique hat gerade [1][so viel Nerviges] um die
       Ohren – Ausrüstertheater, [2][Rüdiger]-Finger-Trouble, Trikotaufregung
       wegen Pink (verkauft sich immerhin top) –, dass sie sich gedacht haben: Wir
       müssen irgendwas unternehmen, um das Land geschlossen hinter uns zu
       bringen.
       
       Wenn schon der Habeck mit einer [3][Patriotismus]-Forderung kommt, um sein
       schlechtes Image zu polieren, dann können wir das erst recht. Wir haben
       doch jetzt eine Entertainment-Partnerschaft mit Tiktok. Könnten wir also
       nicht irgendwas mit Internet und Community und Viralgehen hinkriegen?
       Fragen wir doch mal Adidas, die bei uns ja noch in der Schuld stehen, weil
       wir [4][nicht schon 2007 zu Nike] gewechselt sind, obwohl die uns damals
       bereits das Fünffache des Adidas-Geldes geboten hatten.
       
       Adidas, so meine Theorie, hat’s eingesehen, auch aus Patriotismus. Sodann
       haben sie den Werbespot für das neue pinke DFB-Trikot mit dem schönen alten
       NDW-Hit „Major Tom“ unterlegt und einen Social-Media-Aktiven in die Spur
       geschickt, der das Lied [5][als neue Torhymne] für die Nationalmannschaft
       fordert. Der Netzhopper, ein Max Kirchi, sollte natürlich nicht zu bekannt
       sein, damit es glaubwürdiger wirkt. Und dann ging es ab, völlig losgelöst
       von den Hintermännern.
       
       Natürlich mit einer Online-Petition, eine der Top-5-Entbehrlichkeiten
       unserer Zeit. Der Initiator trommelte mit Gemeinschaftsgefühlen – „alle
       waren sich einig, dass der Song zu einem Gefühl des Neuanfangs in der
       Nationalmannschaft passte“ – und dann noch mit Nostalgie. „Er steht für
       mich für diesen Zeitgeist – einer Zeit, die wir durch unsere Eltern als die
       goldene Ära kennen.“ Neuanfang, Zeitgeist, goldene Ära. Vokabeln wie von
       PR-Einflüsterern.
       
       ## Praktisch läuft alles anders
       
       Kein Wunder, dass im Nu Zehntausende drauf ansprangen und die mit dem
       Niedergang der Nationalmannschaft verbundene [6][DFB-Torhymne „Kernkraft
       400“] des Technoprojekts Zombie Nation abwählten. Obwohl sich der DFB erst
       zierte, hat er des Volkes Stimme dann doch erhört und beim
       Niederlande-Spiel eingesetzt (wird das eigentlich auch auf die
       Frauen-Auswahl ausgedehnt?). Aus DFB-Sicht super gelaufen. Ähnliche
       Sanierungsarbeiten am Nationalelf-Image kann man mit dem offiziellen
       Entertainment-Partner Tiktok noch öfters machen.
       
       Soweit meine Verschwörungstheorie. Praktisch läuft das natürlich anders.
       Da kriegt jemand einen Ohrwurm, weil er sich zu oft den Adidas-Werbeclip im
       Internet angeguckt hat, und denkt sich: Ach, da müsste man doch mal wieder
       was in die Welt blasen, was die nicht braucht, aber irgendwie auch gute
       Laune bringt. Und gleich in doppelter Hinsicht landet man da halt beim
       Thema Torhymne. Die Zehnsekundenmelodie tut nicht wirklich weh, weil sie
       für den Fan ja mit etwas Tollem, einem Tor der eigenen Mannschaft,
       verbunden ist. Es sei denn, man hat auch im Jubel noch ein Ohr frei und
       spürt schmerzlich das torbegleitende Nervstück, wie im Falle von Oliver
       [7][Pochers „Schwarz und weiß“], das jahrelang bei den DFB-Heimspielen aus
       den Stadionboxen schallte.
       
       Im Prinzip sind Torhymnen nur die kleine Spitze des Berges an Musikmaterial
       (oder Schrott), das sich über die Jahrzehnte in den Stadien wie überhaupt
       rund um den Fußball angehäuft hat. Vor, während und nach dem Spiel werden
       die Fans beschallt, was dem Partygefühl beim Livefußball an einem Spieltag
       absolut zuträglich ist. Es kommt natürlich darauf an, ob man mit der Art
       der Musik, die der Stadion-DJ vorgibt, etwas anfangen kann. In vielen
       Stadien würde ich, ehrlich gesagt, die Krise kriegen.
       
       ## Tony Marshall und Franz Lambert als Vorgänger
       
       Bemerkenswert ist, dass die Torhymne auch beim ansonsten arg
       kommerzkritischen Fan offenbar nicht als Ärgernis gilt. Wo bei den Ultras
       der Vereine ansonsten möglichst viel Fußball pur gewünscht und der
       Fußballromantik gehuldigt wird, werden die Torjingles weitestgehend
       akzeptiert oder sogar gewünscht. Wogegen nichts zu sagen ist, jeder soll
       sich so vergnügen, wie er will. Wenn man sich als Verein nicht darauf
       verlassen will, dass seine Fans auch ohne Jingleeinsatz eine wilde Torparty
       unter Bierduschenspritzern veranstalten, soll er halt auch den Torjubel
       eventisieren. Auf die Nationalelf und auf Turniere wie die Welt- oder
       Europameisterschaften trifft das erst recht zu.
       
       Dort ist es in gewisser Weise geradezu konsequent, denn schon bei der
       ersten Fußball-WM, 1930 in Uruguay, erschallte Musik aus den
       Stadionlautsprechern. Im Stadion von Montevideo wurde das Publikum mit
       Tangoschlagern erfreut. Später traten oft Blaskapellen in der Halbzeit der
       Länderspiele auf. Und vor einem WM-Spiel beim Turnier 1974 sang sogar der
       Schlagersänger Tony Marshall auf dem Rasen des Berliner Olympiastadions.
       Richtig verrückt wurde es 1978, als der Hammond-Orgel-Spieler Franz Lambert
       nicht nur für die DFB-Elf zum Kaffee im argentinischen WM-Quartier spielte,
       sondern auch in der Halbzeitpause beim 2:3 gegen Österreich in Córdoba auf
       dem Platz, unter anderem den „Radetzkymarsch“ und „Buenos Dias Argentina“.
       
       Das Spiel selbst war lange Zeit tabu. Aber auch das änderte sich in den
       1970ern. In Düsseldorf wurde bei Toren von Fortuna eine Weile angeblich ein
       Werbejingle einer Brauerei eingespielt („Ein schöner Tag“). Dass
       irgendjemand statt einer Werbemelodie ein normales Stückchen Musik nach
       Toren spielte, war insofern ein Fortschritt. später kam es gar zu einer
       Diversifizierung, indem zuweilen Wunschmelodien den jeweiligen Torschützen
       eingespielt wurden. Hörbar auch auf der CD „HSV-Torjingles Saison 2007/08“,
       mit Songs wie „Life Is Life“ oder „Macarena“. Schlimm.
       
       Heute hat sich das obskure Kleingenre Torhymne in der ganzen Bundesliga
       durchgesetzt. Hier „Candan“, da Scooter, dort ein Karnevalsmarsch. Allein
       der 1. FC Union Berlin verzichtet zum Wohlgefallen seiner Fans auf die
       Jingelei an der Alten Försterei. Dafür haben sie dort in dieser Saison eine
       Art Gegentorhymne nicht gespielt, sondern gesungen. Nach dem 0:2-Treffer
       gegen Stuttgart stimmte das ganze Stadion „Always Look on the Bright Side
       of Life“ an. Taugt als dauerhaftes Partyritual aber auch nicht richtig.
       
       Von Gunnar Leue ist erschienen: „You’ll Never Sing Alone. Wie Musik in den
       Fußball kam“, Ventil-Verlag 2023, 256 S., 28 Euro.
       
       2 Apr 2024
       
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 (DIR) [5] https://www.youtube.com/watch?v=RrQfBPRMdvU
 (DIR) [6] https://www.youtube.com/watch?v=RBbcM8bj2nM
 (DIR) [7] https://www.youtube.com/watch?v=5-1qUOyUZoM
       
       ## AUTOREN
       
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