# taz.de -- Evakuierung aus Gaza-Stadt: Unsere Reise ins Elend
       
       > Evakuieren oder nicht? Unsere Autorin in Gaza erinnert sich an die ersten
       > Tage des Kriegs. Bis heute konnte sie nicht in ihr Zuhause zurückkehren.
       
 (IMG) Bild: Palästinenser*innen fliehen in Richtung der südlichen Gebiete des Gazastreifens, November 2023
       
       Da ich besorgt war, dass der Veranstaltungsort für elf Personen zu klein
       sein könnte, reservierte ich einen Tisch im Restaurant Nu Level in
       [1][Gaza-Stadt] und wartete auf Bestätigung. Wenige Augenblicke später
       erhielt ich eine positive Antwort. Es war der 6. Oktober und meine Familie
       hatte geplant, am nächsten Morgen in dem Restaurant mit der Dachterrasse zu
       frühstücken.
       
       Wir freuten uns darauf, uns zu treffen, Geschichten auszutauschen und zu
       lachen. Die Kinder telefonierten schon den ganzen Tag über und planten
       aufgeregt den kommenden Tag. An diesem Abend des 6. Oktobers, während wir
       uns auf das Frühstück am nächsten Morgen einstellten, gingen wir alle mit
       einem Gefühl des Friedens ins Bett – ein Gefühl, nach dem wir uns jetzt
       sehnen.
       
       Geräusche der Zerstörung unterbrechen die Ruhe 
       
       In den frühen Morgenstunden des 7. Oktober durchbrachen Geräusche der
       Zerstörung unsere Ruhe und kündigten etwas an, das unser Leben verändern
       sollte. Erschrocken stolperten meine Eltern und ich aus dem Bett, ohne zu
       wissen, was passiert war. Nach rund 15 Minuten anhaltender Bombardierung
       erfuhren wir von dem [2][Angriff am 7. Oktober] und dem Beginn des Krieges.
       
       Als jemand, der bereits Kriegserfahrungen gesammelt hatte, dachte ich
       zunächst, es würde ähnlich sein wie bei den vier Kriegen, die ich bislang
       erlebt hatte. Die Situation eskalierte jedoch schnell und am Ende des Tages
       waren überall die nicht aufhörenden Bombenangriffe zu hören.
       
       Trotz der Bombardierung waren die folgenden drei Tage zu Hause
       überraschenderweise weniger beängstigend, sogar eher erleichternd. Unser
       Haus bot uns Trost und Schutz. Es ließ uns nicht gehen.
       
       Eine Welle der Angst 
       
       Am 10. Oktober entdeckten wir im Laufe des Tages eine [3][von der
       israelischen Armee veröffentlichte Karte], auf der die Blöcke verzeichnet
       waren, die aus Sicherheitsgründen evakuiert werden mussten. Wir wohnten
       östlich von [4][Gaza-Stadt] und wussten nicht genau, wo sich unser
       Wohnblock befand. Nach einer angespannten und angsterfüllten Suche
       entdeckten wir, dass unser Haus nicht auf der Evakuierungskarte verzeichnet
       war, sich aber in der Nähe des letzten Blocks befand, der für die
       Evakuierung vorgesehen war.
       
       Es folgten Momente ängstlicher Stille. Dann, plötzlich, ertönte eine Reihe
       heftiger Bombardements, als ob sie uns befehlen würden: „Raus jetzt!“
       
       In extremer Panik rannten wir umher, kauerten uns zusammen und beteten für
       unsere Sicherheit. Als ich die Tür öffnete, um nachzusehen, was los war,
       sah ich meine Onkel die Treppe hinunterlaufen. Ihre Kinder zitterten vor
       Angst. „Wir müssen sofort weg!“, rief mein Onkel.
       
       Schweren Herzens packten wir unsere Wertsachen und die wichtigsten
       Dokumente zusammen und machten uns auf den Weg zum Haus meines Onkels im
       Westen von Gaza-Stadt. Dort verbrachten wir drei Tage in einer kleinen
       Wohnung und sehnten uns vom ersten Tag an nach Hause zurück.
       
       Ist heute der Tag des Jüngsten Gerichts? 
       
       Am 13. Oktober um 3 Uhr morgens wurde ich durch die leisen Geräusche von
       Benachrichtigungen meines Handys aus dem Schlaf geweckt. „Hend, wach auf!“,
       flüsterte meine Schwester eindringlich. Verschlafen blinzelte ich sie an.
       „Was ist denn los?“, murmelte ich. „Hast du etwas von deiner Arbeit gehört?
       Dass du in wenigen Stunden in den Süden des Gazastreifens evakuiert
       wirst?“, fragte meine Schwester besorgt. „Was?“, rief ich ungläubig aus.
       
       Wenige Minuten ging es im ganzen Gebäude nur noch um die Evakuierung in den
       Süden. Kaum jemand konnte in dem Durcheinander eine Entscheidung treffen,
       bis wir eine Stunde später draußen Lärm hörten. Als wir vom Balkon
       blickten, sahen wir zu unserem Entsetzen Hunderte von Menschen, die in
       Richtung Süden strömten. „Ist das der Tag des Jüngsten Gerichts?“, fragte
       ich mich laut. Es kam mir vor wie ein Alptraum, aus dem ich hoffte, bald zu
       erwachen.
       
       Bevor wir eine endgültige Entscheidung trafen, kehrten wir schweren Herzens
       noch einmal nach Hause zurück. Trotz der Ungewissheit klammerte ich mich an
       die Hoffnung, dass das alles nur ein böser Traum war. Dann erklärte meine
       Mutter entschlossen: „Wir werden alle zusammen in den Süden gehen, ob wir
       leben oder sterben.“
       
       Als wir unser Haus besichtigten, rangen wir erneut mit der Entscheidung,
       was wir mitnehmen sollten, da wir nicht wussten, wohin wir gehen würden.
       Nur mit unseren wichtigsten Sachen verließen wir das Haus. Wir dachten
       immer noch, dass wir nicht länger als eine Woche von zu Hause wegbleiben
       würden.
       
       Doch aus der Woche sind mittlerweile sechs Monate geworden. Als wir uns
       damals von unserem geliebten Zuhause verabschiedeten, begann unsere Reise
       ins Elend …
       
       Hend Al Qataa, 32 Jahre alt, ist als Lehrerin für das UN-Hilfswerk UNRWA
       tätig. Sie lebt mit etlichen anderen Personen in einer Wohnung in Zawaida
       im mittleren Gazastreifen. Übersetzung: Jannis Hagmann 
       
       In der Reihe „Gaza-Tagebuch“ berichten unsere Autor*innen von ihrem
       Leben im Gazastreifen. Alle Beiträge finden Sie [5][hier.]
       
       29 Mar 2024
       
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