# taz.de -- Angriff auf Hilfskonvoi in Gaza: „Katastrophe ist menschengemacht“
       
       > Die israelische Armee hat einen Hilfskonvoi in Gaza beschossen. Riad
       > Othman von Medico International spricht von einem gezielten Angriff.
       
 (IMG) Bild: Langwierig und uneffektiv: Ein mit Lebensmitteln beladener Lastkahn der World Central Kitchen kommt vor der Küste von Gaza an
       
       wochentaz: Herr Othman, Israel hat nach einem Gespräch mit US-Präsident Joe
       Biden angekündigt, nun endlich den nördlichen Erez-Übergang nach Gaza für
       Hilfslieferungen zu öffnen, außerdem sollen mehr Güter durch den
       Kerem-Schalom-Übergang kommen. 
       
       Riad Othman: Die Entscheidung geht in die richtige Richtung. Aber die
       Sinnhaftigkeit solcher Entscheidungen steht und fällt natürlich damit, wie
       viele Lastwagenladungen tatsächlich täglich über jeden Übergang abgewickelt
       werden. Und das ist die Krux. Es gab ja völlig erratische
       Zulassungskriterien; ganze Lastwagenladungen wurden zurückgeschickt, und
       anders als die israelische Armee behauptet, kamen nicht genügend Ladungen
       rein und deren Verteilung konnte aufgrund von Zugangsbeschränkungen wegen
       der Sicherheitslage teilweise nicht gewährleistet werden. Die Entscheidung,
       Erez zu öffnen, ist kein Selbstläufer, solange die Amerikaner nicht mit
       entsprechendem Druck festgelegt haben, wie viele Ladungen an humanitärer
       Hilfe Israel hineinlassen muss. Der Teufel steckt auch hier im Detail.
       
       [1][US-Präsident Biden hatte das Gespräch mit dem israelischen Premier
       Benjamin Netanjahu wegen eines Angriffs auf einen Konvoi der
       Hilfsorganisation World Central Kitchen (WCK) anberaumt.] Sieben
       internationale Mitarbeiter*innen der WCK wurden bei dem Angriff
       getötet. Wie haben Sie diesen Vorfall aufgenommen?
       
       In meinen Augen ist das eine Fortsetzung der Politik, die wir in den
       letzten Monaten gesehen haben: Israel greift humanitäre Strukturen,
       Gesundheitseinrichtungen, Ambulanzen systematisch an; humanitäre Hilfe wird
       entgegen dem Völkerrecht systematisch vorenthalten oder zumindest nicht in
       ausreichendem Maße zugelassen. Das lässt sich auch festmachen an der Zahl
       von Hunderten Mitarbeiter*innen des Gesundheitssektors, die seit dem
       7. Oktober in Gaza getötet wurden. [2][Alleine bei der UNRWA sind das
       bislang 176.] Viele dieser Fälle sind nicht mit der Präsenz der Hamas oder
       militanten Palästinenser*innen zu rechtfertigen.
       
       Kann man denn Hamas-Präsenz in den Krankenhäusern ausschließen? 
       
       Wenn eine Armee systematisch eigentlich alle Krankenhäuser in Gaza so
       schwer beschädigt oder zerstört, dass am Ende nur noch 10 von 36 in Teilen
       funktional sind; wenn auch einfachere Gesundheitszentren zerstört worden
       sind, dann liegt meines Erachtens nach den 412 Angriffen seit dem 7.
       Oktober ein systematisches Vorgehen zugrunde. Im selben Zeitraum hat es im
       Westjordanland übrigens 450 Übergriffe auf Gesundheitseinrichtungen und
       Ambulanzen oder Angriffe auf diese gegeben, die sich nicht mit dem Krieg
       rechtfertigen lassen.
       
       Halten Sie den Angriff auf den Konvoi von WCK auch für einen gezielten? 
       
       In den Medien ist öfter von „einem Luftangriff“ die Rede. Man erkennt aber
       aus den Geodaten der Bilder, dass die drei Fahrzeuge der WCK über eine
       Strecke von 2,5 Kilometern gezielt angegriffen wurden. Zuerst wurde ein
       Fahrzeug getroffen. Dann etwa 800 Meter weiter das zweite, in das
       Überlebende aus dem ersten verfrachtet worden waren. Das dritte Fahrzeug
       wurde dann nochmal 1,6 Kilometer weiter südlich angegriffen. [3][Da kann
       man nicht mehr von einem Versehen sprechen.]
       
       WCK hat ihre Mitarbeiter nach dem Angriff aus Gaza abgezogen. 
       
       Abziehen klingt so endgültig. Meines Erachtens suspendieren sie
       vorübergehend ihre Arbeit genauso wie andere Organisationen, etwa Project
       Hope, bis geklärt ist, wie denn in Zukunft sichergestellt werden kann,
       [4][dass keine humanitären Helferinnen und Helfer mehr angegriffen werden].
       
       Wie kann ihre Sicherheit denn sichergestellt werden? 
       
       Ich glaube, bei der Art der Kriegsführung kann nicht wirklich
       ausgeschlossen werden, dass so etwas nochmal passiert. Nicht bei dem
       Vorgehen und nicht bei der Bevölkerungsdichte. Das kann eigentlich nur
       geschehen, indem es endlich eine Waffenruhe gibt.
       
       Allerdings scheint die Hamas auch ihre zivilen Opfer in Kauf zu nehmen. 
       
       Ja, das stimmt. Doch die Hamas allein für alles verantwortlich zu machen,
       was in Gaza passiert, ist eben auch falsch. Der Chefankläger des
       Internationalen Strafgerichtshofes, Karim Khan, war da ganz klar: Auch wenn
       die Hamas sich inmitten von Zivilbevölkerung aufhält oder geschützte
       Einrichtungen missbraucht, gelten weiterhin die Regeln des Internationalen
       Rechts, und da trägt die prinzipielle Verantwortung die Partei im Konflikt,
       die den Abzug drückt. Hamas andererseits trägt die Verantwortung für das,
       was am 7. Oktober geschehen ist, für die ermordeten Zivilist*innen und
       die Geiseln. Auch für den unterschiedslosen Beschuss israelischer Städte
       mit Raketen. Das sind auch Kriegsverbrechen und für die wird sich die Hamas
       zu verantworten haben.
       
       Hilfsorganisationen – wie auch Medico – warnen nach wie vor, dass Gaza kurz
       vor einer Hungersnot steht. 
       
       Ja. [5][Laut IPC, einem international anerkannten Instrument zur
       Feststellung von Hungerkrisen, befinden sich eineinhalb Millionen Menschen
       in den zwei höchsten Stufen des Warnsystems für die Hungersnot] – vor allem
       im Norden von Gaza, den die israelische Armee kontrolliert. [6][Weitere
       knapp 600.000 Menschen befinden sich auf Stufe drei, also bereits in einer
       schweren Krise.] Es gibt vor allem unter kleinen Kindern bereits einige
       Hungertote. Die Menschen sterben ja oft nicht direkt durch die Einwirkung
       des Hungers, sondern durch Infektionskrankheiten, mit denen der Körper
       unter normalen Umständen fertig werden würde.
       
       Droht mit dem Rückzug von WCK und anderen Hilfsorganisationen aus Gaza eine
       weitere Verschärfung der Situation? 
       
       Ich halte die Auswirkungen auf die humanitäre Lage in Gaza für
       vernachlässigenswert. Die Mengen, die WCK über den Seekorridor umsetzen
       kann, sind sehr gering im Vergleich zu dem, was über Land reinkommen
       könnte. WCK hat eine wichtige Aufgabe übernommen in einer Situation, in der
       Hilfsorganisationen die Wahl zwischen Pest und Cholera hatten. Sie haben
       sich dazu bereit erklärt, bei dem Seekorridor mitzumachen, den andere
       Hilfsorganisationen, die schon lange in Gaza arbeiten, zu Recht kritisiert
       haben.
       
       Wieso zu Recht? 
       
       Es war beispielsweise nicht klar, wie die Verteilung laufen soll. WCK hatte
       ja keine Verteilungsstruktur, die irgendwie vergleichbar wäre mit dem, was
       lokale, palästinensische Organisationen [7][und vor allem die UNRWA dort
       seit Jahrzehnten aufgebaut haben]. Das Hauptproblem aber ist, dass auch mit
       diesem maritimen Korridor die Hilfslieferungen nach Gaza völlig
       unzureichend bleiben. Da muss man einfach mal rechnen: Wie lange braucht
       ein Schiff mit 240 Tonnen Hilfsgütern von Zypern an die Küste von Gaza? Wie
       lange braucht die Entladung auf diesem schwimmenden Pier, wenn er denn mal
       fertig ist? Wie lange braucht es dann, um die Lieferungen in die flachen
       Küstengewässer von Gaza zu bringen? Zum Vergleich: Ein Lkw allein kann
       mindestens 27 Tonnen laden. Zehn Lkws könnten also auf einfachem Weg
       liefern, was als Ladung per Schiff viel länger unterwegs ist und mehrfach
       umgeladen werden müsste.
       
       Würden Sie sagen, die Lieferung per Schiff hätte nicht erfolgen sollen? 
       
       Nein, ich sage, dass das Vorgehen Irrsinn ist. Die humanitäre Katastrophe
       in Gaza ist rein menschengemacht, und um die zu beheben, braucht es keinen
       Seekorridor, sondern den Zugang über Land – der ja prinzipiell möglich ist.
       Luftabwürfe oder auch ein Seekorridor – das sind wirklich Mittel der
       allerletzten Wahl. Ich habe als humanitärer Helfer ein einziges Mal
       Luftabwürfe erlebt, das war nach dem Erdbeben in Pakistan 2005, als ganze
       Berghänge abgerutscht waren und in den ersten Tagen selbst mit Maultieren
       kaum Hilfe in die Bergdörfer gelangen konnte. Da hat eine Naturkatastrophe
       den Zugang verhindert. Aber das ist hier nicht so. Hier verhindert –
       bislang – eine Armee auf Anordnung ihrer Regierung den Zugang [8][und wird
       dabei noch mit Waffen aus den USA und der Bundesrepublik beliefert]. Das
       ist inakzeptabel.
       
       Was fordern Sie als Medico von der deutschen Regierung? 
       
       Unter den gegebenen Umständen, mit weithin tatsächlich zum Teil durch
       israelische Streitkräfte selbst dokumentierten Kriegsverbrechen in Gaza,
       wäre es geboten, Waffenlieferungen umgehend einzustellen. Dabei geht es
       nicht um Munition für den Raketenschild, sondern um kriegstaugliche
       Waffenlieferungen. [9][Die Bundesregierung sollte die eigenen
       Verpflichtungen nach internationalem Recht endlich wahrnehmen] …
       
       … Sie meinen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit
       durch Drittstaaten zu verhindern? 
       
       Ja, laut ihren Verpflichtungen nach Genfer Konvention und Römischem Statut.
       Und: Deutschland sollte Druck auf die israelische Regierung ausüben, dass
       auch sie sich an internationales Recht halten muss. Und das geht eigentlich
       nur mit einer Waffenruhe beziehungsweise dann auch einem Waffenstillstand.
       
       5 Apr 2024
       
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