# taz.de -- Die dunkle Geschichte von Plexiglas: Flecken auf der Kunststoffscheibe
       
       > Der Künstler Franz Wanner erforscht den Zusammenhang von Plexiglas und
       > Zwangsarbeit. „Mind the Memory Gap“ heißt seine Ausstellung im Kindl.
       
 (IMG) Bild: Fundstück mit dunkler Geschichte: Franz Wanner, aus der Text-Bild-Konstellation Musterfolien, 2024
       
       Plexiglas ist ein tolles Material. In der ehemaligen Kindl Brauerei stapelt
       [1][der Künstler Franz Wanner] leere Schauvitrinen aus Plexiglas, wie sie
       weltweit in Ausstellungshäusern benutzt werden, sorgsam übereinander. Sie
       wirken harmlos, haben eine ästhetische Qualität als abstrakte Skulpturen.
       Doch ringsherum entfaltet Wanner eine Recherche zu Geschichte und
       Verwendung von Plexiglas, die in die NS-Zeit zurückreicht und die das
       Material in ganz neuem Licht erscheinen lässt.
       
       Ausgangspunkt ist eine unauffällig wirkende Schutzbrille aus Plexiglas.
       Wanner stieß auf sie als Fundstück von Ausgrabungsarbeiten auf dem Gelände
       des [2][Konzentrationslagers Sachsenhausen] bei Berlin. Vermutet wird, dass
       sie ein Zwangsarbeiter in der Rüstungsproduktion im weitverzweigten
       Lagersystem des nationalsozialistischen Deutschlands trug. Ein Foto der
       Brille befindet sich am Eingang der Ausstellung.
       
       Plexiglas selbst wurde 1933 von der Darmstädter Firma Röhm & Haas
       patentiert. Das leichte, aber stabile und zudem transparente Material wurde
       vor allem im Flugzeugbau eingesetzt. Auch dort war in den 1930er und 1940er
       Jahren Zwangsarbeit üblich.
       
       Wanner suchte für seine Recherche Orte auf, in denen zwischen 1933 und 1945
       [3][Zwangsarbeiter*innen] untergebracht waren, in denen sie starben,
       in denen sie auch die Rüstungsproduktion am Laufen halten mussten, die den
       Zweiten Weltkrieg Schuss um Schuss, Tag um Tag verlängerte. In kurzen
       Filmen zeigt er die Reste von Baracken, von Kellern und Bunkeranlagen.
       
       Geschichte der Orte 
       
       Und er dokumentiert die Folgegeschichte dieser Orte. Ein Komplex, in dem
       Zwangsarbeiter*innen eingesetzt wurden, ist heute der Ludwig Bölkow
       Campus in Taufkirchen bei München. Das nach dem Entwickler des Jagdbombers
       Messerschmidt Me 262 benannte Gelände soll der Entwicklung von Innovationen
       für die Luft- und Raumfahrt dienen. Namhafte Unternehmen wie Airbus, ein
       Fraunhofer-Institut und auch das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt
       haben sich dort angesiedelt.
       
       Ein Hinweis auf die dunkle Geschichte fehlt auf der sehr
       zukunftsoptimistischen Website des Campus aber. Eine Auseinandersetzung mit
       dem Namensgeber des Campus, einer wichtigen Figur der NS-Rüstungsbranche,
       ebenso.
       
       Da sind manche Firmen inzwischen weiter. Mehrere Regalmeter Literatur zur
       Rolle von Zwangsarbeit in deutschen Unternehmen wurden in den letzten 20
       Jahren produziert – teils tiefgehende Analysen, teils nur
       Beschwichtigungsversuche.
       
       Wanner stellt im spekulativen Filmprojekt „Mind the Memory Gap“ den
       fiktiven – aber nicht undenkbaren – Versuch eines Unternehmens vor, den
       Aspekt Zwangsarbeit in einem Themenpark zur Firmengeschichte zu
       integrieren. Herausgestellt werden dabei die Zweifel der damaligen
       Unternehmensführung an der NS-Ideologie und einzelne Hilfsleistungen für
       Zwangsarbeiter*innen.
       
       Zum Thema Plexiglas kommt Wanner auch wieder zurück. Er zeigt
       Plexiglasobjekte, die zu Materialforschungszwecken im Weltall angezündet
       wurden. Auch Schutzschilde der Polizei aus Plexiglas sind zu sehen.
       
       Aussparungen in der Firmenhistorie 
       
       Wenn man sich, angeregt durch die Ausstellung, tiefer mit der Firma Röhm &
       Haas beschäftigt, die das Plexiglas ja erfand, stößt man darauf, dass der
       amerikanische Zweig der Firma inzwischen zum US-Konzern Dow Chemicals
       gehört, der deutsche Zweig hingegen zum Private-Equity-Riesen Advent
       International. Auch Röhm & Haas beutete einst Zwangsarbeiter aus. Das wird
       bei der offiziellen Firmengeschichte auf der Website des Unternehmens
       allerdings ausgespart.
       
       Im Bericht zum Geschäftsjahr 1933, der dankenswerterweise [4][im
       DFG-Viewer] zu sehen ist, finden sich hingegen Beispiele für das auch
       sprachliche Unterwerfen unter die NS-Ideologie. Von der
       „nationalsozialistischen Erhebung“ wird geschrieben und betont, der
       deutsche Arbeiter wisse zwischen „raffendem und schaffendem Kapital“ zu
       unterscheiden. Was darüber wohl die Finanziers des Private Equity Funds
       denken mögen?
       
       Wie normal Zwangsarbeit im damaligen Alltagsdeutschland war, demonstriert
       Wanner mit Aufnahmen eines Filmamateurs. Der wollte 1943 lediglich Frau und
       Kind beim Spaziergang durch Berlin-Lichtenberg zeigen, doch im Hintergrund
       huschen Zwangsarbeiterinnen durchs Bild.
       
       Man hat viel gewusst und viel gesehen, auch damals. Und Plexiglas wird für
       alle, die diese Ausstellung besuchen, nie mehr nur das so hübsch
       transparente Material sein. Es enthält Einschlüsse, die von Tod, Leid und
       Ausbeutung erzählen. Mind the Gap, auch beim Erinnern.
       
       26 Apr 2024
       
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