# taz.de -- Die Wahrheit: Gewalttätige Halbstarke
       
       > Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (192): Meisen sind
       > zänkisch und unleidlich, aber auch hingebungsvoll und klug.
       
 (IMG) Bild: Am gefährlichen Meisenknödel hängt das Leben der Blaumeise
       
       Jetzt brüten sie wieder. Während der Coronapandemie fiel nur wenig für sie
       ab, viele Leute fütterten und tränkten sie aber. Das Wissenschaftsjournal
       Spektrum riet jedoch: „Wichtig ist, Vogeltränken und Futterstellen sofort
       zu entfernen.“ Die Blaumeisen, erklärte der Naturschutzbund Deutschland
       (Nabu), leiden seit 2020 unter einer Pandemie, an der sie reihenweise – an
       Lungenentzündung – sterben.
       
       Dazu gibt es eine Nabu-Karte über die Verteilung des „Meisensterbens“ in
       Deutschland – mit auffälligen Ähnlichkeiten zu den Coronakarten: In
       Westdeutschland starben danach viel mehr Menschen und viel mehr Blaumeisen
       als in Ostdeutschland. Man vermutete, dass die Vögel quasi an
       Solidar-Corona starben, aber die Ursache war ein Bakterium. An den
       Vogeltränken und Futterstellen steckte eine Meise die andere an.
       
       Bei den meisten Tierforschungen ist das Objekt mehr oder weniger fixiert.
       Die „Wahrheitssuche“ ist eine Art „peinliche Befragung“. Nur selten ist es
       umgekehrt, so zum Beispiel als man Rosa Luxemburg 1916 in einem Breslauer
       Gefängnis inhaftierte, weil sie gegen den Krieg agitiert hatte, und sie
       dort von ihrem Zellenfenster aus Kohlmeisen beobachtete. In Briefen an ihre
       Freundin Sophie Liebknecht berichtete sie darüber. Darin gestand sie: „Ihr
       innerstes Ich gehöre doch mehr ihren Kohlmeisen als den Genossen.“
       
       ## Gewaltbereite Arbeitsvögel
       
       Auch der Vogelforscherin Len Howard waren die Meisen lieber als Menschen,
       wie die Philosophin Eva Meijer berichtete (in: „Das Vogelhaus“ – 2018). Die
       Vogelbuchautoren Jürgen und Thomas Roth sprechen von Howards „bedenklicher
       Verherrlichung der Kohlmeisen“ (in: „Minima Ornithologica“ – 2021). Sie
       betonen dagegen eher das Zänkische und Unleidliche dieser kleinen Vögel,
       von denen es fast 100 Arten gibt: An den Futterplätzen drängeln, rempeln
       und meckern sie, ihre Jungen haben „etwas Halbstarkes an sich“ und in
       Insektenhotels richten sie wahre „Massaker“ unter der Brut der Wildbienen
       an. Auch der Vogelkundler Wilhelm Schuster bezeichnete sie als
       „gewalttätig“ und Charles Darwin schrieb, dass sie anderen Vögeln „durch
       Hiebe auf den Kopf den Garaus machen“.
       
       Der DJ und Ökologe Dominik Eulberg erwähnt dagegen (in: „Mikroorgasmen
       überall“ – 2021), wie hingebungsvoll Blaumeisenpaare ihre Nester bauen, in
       die sie „Lavendel, Schafgarbe und Minze einarbeiten. Die ätherischen Öle
       enthalten chemische Substanzen, die viele Bakterien, Viren, Parasiten,
       Pilze und Insekten abwehren“.
       
       Freude machen den Roth-Brüdern einzig die Schwanzmeisen, weil sie so
       aufwendige Kugelnester bauen. Sie sind jedoch mit den Meisen nicht näher
       verwandt. Echte „Arbeitsvögel“, wie der Ornithologe Einhard Bezzel die
       Blaumeisen nennt, sind aber beide Arten.
       
       Ein besonders inniges Verhältnis zu den Meisen hatte der Taigajäger Dersu
       Usala aus dem an Amur und Ussuri lebenden Volk der Golden, er nannte sie
       lachend „komische Leute“ – während er dem zaristischen Offizier Wladimir
       Arsenjew bei seinen Expeditionen als Führer diente. Arsenjews berühmtes
       Buch über ihn: „Der Taigajäger Dersu Usala“ wurde 1975 von Akira Kurosawa
       verfilmt, er bekam dafür einen Oscar.
       
       ## Gefährliche Wohnstätten
       
       Die Meisen bleiben den Winter über hier, für sie gibt es dann
       „Meisenknödel“. Der Nabu warnt, dass sie sich am Plastiknetz des Knödels
       mit ihren Krallen verharken und verletzen können. Aber es gibt noch andere
       Gefahren für sie: Auf der taz-Terrasse hing ein Brutkasten, den ein
       Kohlmeisenpaar beanspruchte – und darin drei Junge aufzog. Im nächsten Jahr
       passierte das Gleiche, aber dann riss ein Sturm den Kasten von der Wand und
       die gerade geschlüpften Jungen starben. Das Meisenpaar verschwand.
       
       Bei einer Freundin in Pankow brüteten die Blaumeisen viele Jahre auf dem
       Balkon, sie kamen sogar in ihr Zimmer und schauten zu, was sie am
       Schreibtisch tat. Aber dann fraß ein Elsternpaar alle gerade flügge
       gewordenen Jungen, und das mehrere Bruten nacheinander – bis die Meisen den
       Balkon-Brutkasten aufgaben und verschwanden.
       
       Meine Freundin hängte daraufhin einen neuen, schöneren Kasten auf – von
       Maria-Leena Räihäläs Kunstprojekt „Morgenvogel Real Estate“. Die Kästen
       werden von ihr gebaut und verkauft, wenn gewünscht auch aufgehängt und
       gepflegt. Die Pankower Blaumeisen waren damit aber auch nicht wieder auf
       den Balkon zu locken.
       
       Anders im saarländischen Neunkirchen: Dort hat man an allen Eichen, die von
       Raupen des Eichenprozessionsspinners befallen waren, Nistkästen für Meisen
       aufgehängt – statt wie früher Schädlingsbekämpfer gegen die giftigen Raupen
       zu beauftragen. Die Kreisstadt-Pressestelle teilte mit, dass „sich der
       Einsatz mehr als gelohnt“ habe.
       
       ## Überwachte Feldforschung
       
       Der norwegische Autor Andreas Tjernshaugen bringt in seinem Buch „Das
       verborgene Leben der Meisen“ (2017) unser „Wissen über die Meisen auf den
       neuesten Stand“, schreibt sein Verlag – und übertreibt nicht. Tjernshaugen
       zitierte eine Unzahl von Meisenstudien, betrieb eigene Feldforschung und
       führte Experimente durch. Das begann, als er sich etwas kaufte, wogegen er
       sich lange gesträubt hatte: „einen Nistkasten mit eingebauter Kamera“.
       
       Eine Kollegin von mir hat ein Fenster an ihrem Nistkasten eingebaut – und
       mit einem Vorhang verhängt, aber ihrem Meisenpaar war dieser Umbau nicht
       geheuer – sie verschwanden.
       
       Tjernshaugen überwachte im Frühjahr am Bildschirm das Innere des noch
       leeren Brutkastens: „Vielleicht übernachtet eine der Meisen in dem Kasten,
       bevor sie endgültig einziehen. Das tun sie oft … Manche Paare nisten Jahr
       für Jahr zusammen. Im Herbst und Winter geben viele Kohl- und Blaumeisen
       (sie sind eng verwandt und ähneln sich in ihrer Lebensweise) ihr Revier auf
       und streifen auf der Suche nach Futter frei umher.“
       
       ## Gelbe Brust durch grüne Raupen
       
       Der Autor ist allerdings nicht vorm Menscheln gefeit, wenn er
       beispielsweise mit der sexuellen Selektion der Darwinisten übereinstimmt:
       „Eine kräftige gelbe Farbe auf der Brust dürften beide Geschlechter
       attraktiv finden, die Blaumeisen genauso wie die Kohlmeisen.“ Die Farbe ist
       eine direkte Folge der Nahrung, vor allem der grünen Spannerraupen. Wenn
       die Farbe kräftig ist, habe das Meisenweibchen den Eindruck, das Männchen
       sei gesund und verpaart sich mit diesem starken Ernährer. Aber, sagt er,
       „wir haben keine Anhaltspunkte dafür, dass die Vögel auch so denken“.
       
       Lange hat man gemeint, dass sich Blaumeisen-Männchen und -Weibchen sehr
       ähnlich sehen. Seit man aber entdeckt hat, dass sie auch im ultravioletten
       Bereich sehen können, weiß man, dass sich nicht nur die Geschlechter
       voneinander unterscheiden, es gibt auch bedeutende Unterschiede zwischen
       den einzelnen Individuen.
       
       6 May 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Helmut Höge
       
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