# taz.de -- Neues Buch über ultraorthodoxe Juden: Es bleibt kompliziert
       
       > Tuvia Tenenbom hat sich für sein neues Buch unter ultraorthodoxen Juden
       > umgesehen. Der 7. Oktober 2023 hat auch dort eine Veränderung gebracht.
       
 (IMG) Bild: Unterwegs im Jerusalemer Viertel Mea Shearim
       
       „In Jerusalems extremen Charedi-Vierteln gibt es keinen einzigen Jungen,
       der nicht sexuell missbraucht wurde'“, titelte einst die Ha’aretz. Der
       Vorwurf massenhaften Kindesmissbrauchs ist nicht der einzige, der gegen
       Israels Ultraorthodoxe erhoben wird. Sie seien Sozialschmarotzer, die sich
       ihr Thora-Studium vom Staat bezahlen ließen, und ruhten sich auf ihrer
       Befreiung von der Wehrpflicht aus.
       
       Dass eine wachsende Mehrheit der Charedim berufstätig ist und der
       Wehrdienst in Israel auch für muslimische Araber, Drusen und andere
       Nichtjuden freiwillig ist, wird dabei gerne übergangen. In seltener
       Einigkeit pochen Israelfreunde wie Israelfeinde darauf, dass
       Ultraorthodoxe energische Antizionisten seien, was wahlweise skandalisiert
       oder gefeiert wird.
       
       Der [1][Theatermacher und Journalist Tuvia Tenenbom] kennt die charedische
       Welt. Als Spross einer Rabbinerfamilie geboren, ist er im ultraorthodoxen
       Teil Jerusalems aufgewachsen, bis er im Teenageralter nach New York
       übersiedelte. Für sein neues Reportagebuch „Gott spricht Jiddisch. Mein
       Jahr unter Ultraorthodoxen“ ist er zurückgekehrt nach Mea Shearim, das
       berüchtigte Jerusalemer Viertel, in dem Frauen zu züchtiger Bekleidung
       aufgefordert sind und Autofahrer am Sabbat angeblich gesteinigt werden.
       
       Ein ganzes Jahr hat Tenenbom mit den dortigen charedischen Gemeinden
       verbracht und ein nuancierteres Porträt dieser jüdischen Strömung
       gezeichnet, als es etwa [2][Deborah Feldmans] beliebte Aussteigerbiografie
       „Unorthodox“ vermittelt.
       
       Dass auch Tenenbom als Jugendlicher die Charedim verließ, lag an deren
       Sexualmoral. Die Frage, die ihn damals umtrieb, stellte er nun vielen
       Bewohnern Mea Shearims: Warum darf ein Mann keine fremde Frau ansehen?
       
       Kompliziert verhält es sich mit dem Antizionismus einiger charedischer
       Schulen. Ursprünglich aus der religiösen Überzeugung erwachsen, dass erst
       der Messias einen neuen Judenstaat begründen könne, sammeln sich einige
       Radikale inzwischen unter der palästinensischen Fahne und liefern sich
       Scharmützel mit den „Nazis“ von der israelischen Polizei. Dass extreme
       Antizionisten die Außenwahrnehmung von Mea Shearim bestimmen, gefällt
       beileibe nicht allen im Quartier. 
       
       ## Graffiti übermalen
       
       Tenenbom berichtet über Anwohner, die regelmäßig propalästinensische
       Graffiti übermalen. Es bleibt der Widerspruch, dass es zwar alte Vorbehalte
       gegen eine säkulare Staatlichkeit gibt, es ohne die Zionisten aber keinen
       rettenden Hafen für die aus Osteuropa stammenden charedischen Gemeinden
       gegeben hätte. Kein Wunder also, dass ein „antizionistischer“ Rebbe mit dem
       Bekenntnis überrascht: „Ich bin der größte Zionist auf Erden.“
       
       Anders als bei seinen früheren Reportagen wie [3][„Allein unter Deutschen“]
       oder „Allein unter Juden“, für die Tenenbom teils unter falscher Identität
       unterwegs war, hat er diesmal auf jegliche Tarnung verzichtet. Gerade ihm
       als Jiddisch sprechendem Urenkel des Radzyńer Rebbe öffneten sich die Türen
       Mea Shearims.
       
       Damit gerät seine Entdeckungsreise auch zu einer Auseinandersetzung mit der
       eigenen Biografie: „Die Charedim sind meine Familie, ob ich will oder
       nicht, ob sie wollen oder nicht.“ Vielleicht ist das der Grund, weshalb
       sein neuer Buchtitel gerade nicht lautet: Allein unter Ultraorthodoxen.
       Allein dürfte Tenenbom sich keine Sekunde gefühlt haben.
       
       Am 7. Oktober, dem Tag des antisemitischen Massakers, weilte Tenenbom
       wieder in Mea Shearim. Der Angriff traf besonders die Kibbuzim im Süden
       Israels, Hochburgen der säkularen Linken. Isaac Deutscher schrieb einst:
       „Kibbuz und Mea Shearim sind die beiden Gegenpole im geistigen Leben
       Israels.“
       
       Seit dem 7. Oktober verliert diese Sentenz möglicherweise an
       Erklärungskraft. Nachdem die Bewohner Mea Shearims von den Gräueltaten der
       Hamas erfahren hatten, so berichtete es Tenenbom der Jüdischen Allgemeinen,
       „waren sie mit Lautsprechern auf Autos und Motorrädern unterwegs und riefen
       die Menschen zum Gebet für die Rettung der Nation Israel auf. Ja, der ganze
       Antizionismus verschwand irgendwie in diesem Moment.“
       
       Ihre erste Reaktion war: „Dass sie uns das antun, was sie unseren
       Großeltern in Berlin und in Warschau angetan haben.“ Tausende Charedim
       haben sich daraufhin freiwillig zur Landesverteidigung gemeldet. Tenenboms
       Buch wird damit zur letzten Momentaufnahme dieses wesentlichen Teils der
       israelischen Gesellschaft vor der Zäsur des 7. Oktobers.
       
       25 Apr 2024
       
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