# taz.de -- Artenschutz gegen Energiewende: Der Himmel über Eiderstedt
       
       > An der windreichen Nordseeküste in Schleswig-Holstein wollen Einheimische
       > einen Windpark errichten. Doch was passiert dann mit den Vögeln?
       
 (IMG) Bild: Ein Leuchtturm auf Eiderstedt. Und viele Vögel
       
       Ein weiter Himmel spannt sich über der Halbinsel Eiderstedt im Nordwesten
       von Schleswig-Holstein. Das Land ist flach und grün, die Wellen der Nordsee
       rauschen gegen die Deiche, der Wind weht gefühlt immer und meistens von
       vorn. Fast von jedem Punkt auf der Halbinsel ist mindestens eine Kirche zu
       sehen – aber Windräder, sonst ein Wahrzeichen der Nordseeküste, drehen sich
       nur wenige am Horizont. Der Landwirt und Oberdeichgraf Jan Rabeler aus
       Tönning will mit anderen Landwirt:innen einen Bürgerwindpark errichten.
       Anne Evers, Umweltwissenschaftlerin und Leiterin einer Naturschutzstation
       des Nabu, will das verhindern.
       
       Beide eint die Sorge um Natur und Klima. Rabelers Hof und Evers’
       Schutzstation liegen nur wenige Kilometer voneinander entfernt. Aber einen
       Weg zueinander zu finden, scheint schwierig. Und noch schwieriger wird es,
       weil es außer den beiden eine Bürgerinitiative, die Gemeinden, die
       Landesregierung und eine neue Rechtslage gibt.
       
       Über dem Aussichtssturm im Schutzgebiet Katinger Watt bricht die Sonne
       durch die Regenwolken und lässt die Tümpel in den Wiesen schimmern.
       Trillernd steigt eine Lerche aus dem Gras. Unter pompösen Wolkenformationen
       ziehen Gänse in langen Bändern durch die salzige Luft, ihre Rufe hallen
       über die Niederung. Andere Vogelstimmen mischen sich ein, bis sie einen
       ganzen Chor bilden. Hunderte Stimmen zwitschern, flöten, trillern, rufen
       durcheinander, sie übertönen den Lärm der Straße, die einige hundert Meter
       entfernt vom Beobachtungsturm am Deich vorbeiführt. Dahinter liegt die
       Nordsee, bei Ebbe das Watt, in dem die Vögel Nahrung finden.
       
       Ein Touristenpaar klettert die Metallstufen des Aussichtsturms empor. Auf
       der Plattform angekommen, schraubt der Mann ein langes Objektiv an seine
       Kamera. „Ah, ein Seeadler“, sagt er zufrieden. „Und so viele Brachvögel.“
       Seine Frau steht an der Brüstung und atmet tief ein: „Was für ein
       Paradies.“
       
       Anne Evers würde das unterschreiben. Die Diplom-Umweltwissenschaftlerin
       hatte zum Besuch des Turms geraten und den Tipp gegeben, einfach nur zu
       hören. „Und dann mal vergleichen, wie es woanders klingt.“ Schon klar: Im
       Schutzgebiet Katinger Watt ist es laut. Auf anderen Wiesen leise. Und es
       wird immer leiser, denn die Vögel verschwinden, selbst auf Eiderstedt,
       einer Drehscheibe des transatlantischen Vogelzugs.
       
       ## Besonders gefährdet und bedroht
       
       Im Büro im Obergeschoss der Nabu-Station, einer alten Bauernkate inmitten
       eines Gartens voller insektenfreundlicher Pflanzen, klappt Evers ihren
       Laptop auf und zeigt Grafiken, die den Niedergang vierfarbig und mit
       Verlaufstabellen belegen. Die besonders gefährdeten oder bedrohten Arten
       Uferschnepfe, Austernfischer, Kiebitz und Rotschenkel sind trotz aller
       Maßnahmen weiter auf dem Rückzug. Laut der jüngsten Zählung brüten auf
       Eiderstedt nur 118 Uferschnepfen-Paare, bei den Austernfischern sind es
       555. Kiebitz-Paare gibt es noch über 1.300, aber die Art ist in Deutschland
       seit 1980 um fast 93 Prozent ihres Bestandes geschrumpft. Denn trotz aller
       Bemühungen schwindet jenseits der Schutzzonen ihr Lebensraum.
       
       Die Uferschnepfe etwa baue tiefe Nester, in die sie sich ducke und über die
       Grasnarbe nach Feinden ausspähe, sagt Evers’ Kollege und
       Wiesenvogel-Experte Frank Hofeditz. Daher meiden die Wiesenbrutvögel
       aufragende Strukturen, weil sie die Sicht versperren: „Selbst Reet kann
       schon zu viel sein.“ Auch Windräder wären eine Störung, der Lebensraum wäre
       „degradiert, die Vögel nutzen ihn nicht mehr“, sagt der Biologe Hofeditz.
       
       „Der Nabu ist für den Ausbau erneuerbarer Energien, wir wollen, dass Kohle-
       und Gaskraftwerke rasch abgeschaltet werden“, betont Evers, und Hofeditz
       nickt dazu. Es ist ihr erster Satz im Gespräch. Dann folgt das Aber:
       „Artensterben, der Verlust von Biodiversität, wird uns schneller vor die
       Füße fallen als der Klimawandel. Wenn wir eine Wiese mit 200 Arten haben
       und eine mit fünf, welche überlebt wohl den nächsten trockenen Sommer?“
       
       Nur mit Artenvielfalt habe die Welt eine Chance, davon ist Evers überzeugt.
       Und auf Eiderstedt sind nun einmal die Vögel die wichtigsten Arten. Zehn
       bis zwölf Millionen Vögel nutzen das Wattenmeer und die angrenzenden
       flachen Landflächen beim Vogelzug. Hinzu kommen die Tiere, die auf
       Eiderstedt selbst brüten. „Deutschland hat eine hohe Verantwortung für
       diese teils stark gefährdeten Arten“, sagt Evers.
       
       Wer über die Halbinsel fährt, sieht eine scheinbar heile Landschaft. Die
       Wiesen sind gesprenkelt mit Schafen, der Himmel ist dunkel von Vögeln, Raps
       leuchtet gelb auf den Feldern. Auf Warften, künstlich aufgeschütteten
       Hügeln, stehen weiße Häuser unter Reetdächern, umgeben von blühenden
       Bäumen. Auf Eiderstedt sieht Schleswig-Holstein aus wie seine eigene
       Postkarte.
       
       Das lockt nicht nur Vögel, sondern auch Menschen: 2,72 Millionen
       Übernachtungen im Jahr 2023 zählte allein St. Peter-Ording, [1][der
       wichtigste Ferienort der Halbinsel]. Im Sommer rollen die Wagen der
       Urlauber:innen auf dem Weg zur Küste wie an einer Kette aufgefädelt
       durch Dörfer wie Popenbüll, Witzwort, Kotzenbüll, Katharinenheerd, Kating
       und Tating.
       
       Doch trotz des Andrangs an sonnigen Tagen, trotz der grünen Wiesen und wie
       von Emil Nolde gemalten Wolken ist Eiderstedt eine arme Region. Die
       Gemeinde Tating etwa, in der knapp 1.000 Dauer- plus 200
       Zweitwohnungsbesitzer:innen leben, kann ihren Haushalt schon lange
       nicht mehr ausgleichen, der Schuldenstand nähert sich drei Millionen Euro.
       Tating ist einer der wenigen Orte auf Eiderstedt, die bereits Windkraft
       zugelassen haben. Von den Steuern der zwei kleinen Parks profitiert auch
       die Gemeindekasse.
       
       Tating könnte wieder dabei sein, wenn die „Bürgerenergie
       Eiderstedt“-Investorengruppe, deren Sprecher Jan Rabeler ist, ihre Pläne
       verwirklicht. Die Gruppe will dort, wo die Gemeinden Katharinenheerd,
       Tating und Kating zusammenstoßen, etwa 20 Mühlen errichten. Seit gut einem
       Jahr wirbt Rabeler für einen Bürgerwindpark, an dem alle Menschen der
       Region Anteile kaufen können. Damit hat Schleswig-Holstein gute Erfahrungen
       gemacht, es senkt die Widerstände gegen Windparks, weil nicht die einen das
       Geld und die anderen nur den versperrten Blick haben.
       
       Die Regionalplanung des Landes hatte Eiderstedt, anders als die restliche
       Nordseeküste, bisher aus der Windplanung herausgehalten – wegen der
       Vogelfluglinie und wegen der touristischen Bedeutung der Region. Aber im
       Frühjahr 2023 kam das „Osterpaket“, mit dem Bundeswirtschaftsminister
       Robert Habeck (Grüne) die Energiewende beschleunigen wollte. Unter anderem
       dürfen Gemeinderäte in gewissen Grenzen eigenmächtig Windenergie zulassen.
       Die Bürgerenergie Eiderstedt hat in mehreren Orten ihre Pläne vorgestellt.
       Zunächst gab es kein Ja, kein Nein. Doch in diesem Jahr hob das
       Verwaltungsgericht in Schleswig [2][die Windkraftplanung des Landes für den
       nördlichen Landesteil inklusive Eiderstedt auf]. Damit könnte nun jede:r
       einen Antrag bei der zuständigen Behörde stellen und losbauen. Daher macht
       sich Vogelschützerin Anne Evers Sorgen: „Alle sind nervös, was die
       potenziellen Investoren jetzt machen.“
       
       Jan Rabeler sitzt knapp vier Kilometer von der Schutzstation entfernt in
       seiner Wohnküche, aus dem Fenster sieht er den Deich, der das Katinger Watt
       begrenzt. „Die könnten mich ja mal fragen“, sagt er.
       
       Rabeler ist durch sein Ehrenamt als Oberdeichgraf – diesen Titel trägt der
       Vorsitzende des Deich- und Hauptsielverbandes (DHSV) nach alter Tradition –
       bestens bekannt auf Eiderstedt. Mit den Verantwortlichen der Umweltvereine
       von BUND bis WWF hat er regelmäßig zu tun. Allerdings sind das nicht immer
       freundschaftliche Treffen: Mit dem Nabu beispielsweise liegt der DHSV seit
       2009 in einem Rechtsstreit, es geht um den Wasserstand auf Eiderstedter
       Wiesen. Den hält der Sielverband traditionell niedrig, um den
       Landwirt:innen das Arbeiten zu erleichtern. Zu niedrig für Pflanzen und
       Tiere, findet der Nabu, vor allem niedriger als erlaubt: Auch
       bewirtschaftete Flächen sind Teil des Vogelschutzgebiets, und die
       Landbesitzer:innen sind verpflichtet, den Zustand der Wiesen nicht zu
       verschlechtern.
       
       „[3][Eiderstedt muss ständig entwässert werden, damit hier geackert,
       gewohnt und geurlaubt werden kann]“, heißt es auf der Homepage des DHSV.
       Aber können niedrige Wasserstände in Zeiten von Dürre das einzige Ziel
       sein? Der Ackerbauer Rabeler – die Viehhaltung, die sein Vater noch
       betrieb, hat er aufgegeben – sieht täglich die Folgen des Klimawandels auf
       seinen Feldern und glaubt, dass es der Mehrzahl der Berufskolleg:innen
       ähnlich geht: „80 Prozent der Landwirte haben die Lage kapiert.“
       
       ## Windräder oder Wiesenvögel
       
       Trockenheit auf den Feldern, steigende Meeresspiegel vor den Deichen, und
       das bei einem Lebensstil, der auf Konsum setzt: „Jeder fährt sein Auto
       weiter, keiner will einen Schritt zurück“, sagt Rabeler. Für ihn ist klar:
       „Wir müssen die Energiewende hinkriegen.“ Denn jede Chance müsse genutzt
       werden, um die Erderwärmung zu verlangsamen, gerade für die Rettung der
       Arten: „Die Trauerseeschwalbe zum Beispiel ist eine absolute Verliererin
       des Klimawandels.“
       
       Die Trauerseeschwalbe ist ebenfalls eine bedrohte Art mit nur noch wenigen
       Brutpaaren, um sie dreht sich der Rechtsstreit mit dem Nabu um die
       Wasserstände. Anne Evers will also Windräder verhindern, um die Wiesenvögel
       zu retten. Jan Rabeler will Mühlen bauen, um genau dasselbe Ziel zu
       erreichen. Im Gespräch mit ihm lautet einer seiner ersten Sätze: „Wir
       wollen möglichst wenig Eingriffe in die Natur. Wir wollen den
       Vogelflugkorridor nicht in Gefahr bringen – da müsste man ja bescheuert
       sein.“
       
       Das würde er gern auch den Verantwortlichen der Naturschutzverbände sagen,
       die sich mit einem offenen Brief an Ministerpräsident Daniel Günter (CDU)
       und Umwelt- und Energieminister Tobias Goldschmidt (Grüne) wandten und
       dringend baten, Eiderstedt als den „[4][letzten noch weitgehend offenen
       Korridor]“ für den Vogelzug freizuhalten.
       
       Rabeler fühlt sich verletzt von diesem Brief: „Unterschrieben haben Leute,
       die ich von verschiedensten Projekten kenne – meinen Sie, da ruft mal einer
       bei mir an?“
       
       Er hofft auf einen „gesunden Kompromiss“, an dessen Ende ein kleiner Park
       steht, eine „Wertschöpfung für die Region“ und ein Beitrag zur
       Energiewende. Über den genauen Ort, die Zahl der Mühlen könne man reden,
       meint er. „Ich will nicht gegen, sondern mit allen Beteiligten planen.“
       
       Für einige Gemeinderäte ist so ein Park durchaus interessant. Menschen wie
       Rainer Palm, Vorsitzender der Bürgerinitiative (BI) „Zukunft Eiderstedt“,
       sehen dagegen ein Horrorbild: „Eiderstedt könnte bald mit einem Wildwuchs
       an unzähligen Windrädern übersät werden – mit unabsehbaren Folgen für
       Natur, Landschaft und Tourismus“, sagte Palm, der in Tating lebt. Die BI
       warnt vor der „Verspargelung der Landschaft“, weist darauf hin, dass
       Eiderstedt schon heute mehr Energie einspeise, als die Haushalte
       verbrauchen. Die Gruppe ist nicht groß, aber stimmmächtig. Um den Streit im
       Ort zu beenden, findet Anfang Juni eine Bürgerbefragung in Tating statt:
       „Wir brauchen mehr Ruhe in der Gemeinde“, sagte Bürgermeister Friedrich
       Friedel den lokalen Husumer Nachrichten.
       
       Vogelschützerin Anne Evers hält nichts von einem Kompromiss. Auch kleine
       Windparks würden die Tiere stören, sagt sie und zeigt auf ihrem Laptop die
       Verteilung der Nester. Tatsächlich scheinen die Punkte rund um die
       bestehenden Mühlen dünner gesät. Vielleicht geht ihr Wunsch in Erfüllung,
       und ihr Fast-Nachbar Jan Rabeler schafft es nicht, den Park zu errichten.
       Denn zurzeit bewege sich gar nichts, sagt der Landwirt: „Keiner wagt, sich
       aus dem Fenster zu lehnen. Das ist ziemlich unglücklich.“
       
       Die Bürgerenergie Eiderstedt hat dennoch schon Verträge mit Landbesitzern
       gemacht – vorsorglich, damit auf den windreichen Stellen keine fremden
       Investor:innen bauen.
       
       14 May 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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