# taz.de -- Aktivismus auf Tiktok: Buckelwale gegen die AfD
       
       > Rechte nutzen Tiktok, um ihre Inhalte zu verbreiten. Langsam formiert
       > sich eine Gegenbewegung. Anthony Moriss ist Teil davon. Was kann man von
       > ihm lernen?
       
       NÜRNBERG taz | Herzchen sollen jetzt also gegen die AfD helfen. Zumindest
       scheint Anthony Moriss genau zu wissen, was er da gerade tut. Mit dem
       Zeigefinger tippt er stakkatoartig aufs Smartphone, dass es in seiner
       Tiktok-App nur so vor animierten Herz-Emojis wimmelt. „Erhöht die
       Reichweite“, sagt er, den Bildschirm vor ihm unverwandt anstarrend. So
       einfach kann das sein? Kräftig Likes verteilen und schon ist die rechte
       Überpräsenz auf der Plattform wieder austariert?
       
       Ein bisschen mehr braucht es schon, Zeit zum Beispiel. Fast vier Stunden
       hockt Moriss, 32, an einem Aprilnachmittag schon auf seiner mausgrauen
       Wohnzimmercouch unweit des Nürnberger Zentrums. Bis gerade lief über
       Moriss’ Tiktok-Kanal [1][„anthony161_“] ein Livestream, in dem es wie so
       oft darum ging, was man gegen die Menge an AfDlern und anderen
       Rechtsextremisten tun könne. Er muss da nicht immer zuhören, es gibt
       nämlich auch die „Community“, wie er sein Netzwerk befreundeter
       Tiktokerinnen und Tiktoker nennt. Auch diese wissen nach all den Monaten,
       wie man AfD-Fans ausdauernd Kontra gibt.
       
       Gleich hat sich Ricarda Lang, Bundesvorsitzende [2][der Grünen], per
       Liveschalte angekündigt. Sie findet es wohl gut, wie ein paar private
       Nutzerinnen und Nutzer da gerade erfolgreich eine Gegenbewegung zur AfD auf
       Tiktok an den Start bringen. „Ich glaube, das ist ihr erster Livestream“,
       sagt Moriss. Organisiert wurde er von Gwenny, einer anderen Tiktokerin, auf
       deren Kanal das Gespräch stattfinden soll. Sie habe, um Lang zu
       kontaktieren, ihren „ganzen Mut zusammengefasst“, sagt sie vorab in einem
       Ankündigungsvideo. So oft haben sie das in der Community noch nicht
       gemacht, mit anderen Politikerinnen und Politikern reden. Wobei man Lang
       schon vorab eine gewisse Grundaffinität unterstellen kann. Seit vielen
       Jahren postet sie [3][Videos bei Tiktok].
       
       Bis vor Kurzem galt die Plattform als ein Ort, an dem sich hauptsächlich
       die Jugend im Internet herumtreibt. Rund 73 Prozent der befragten 16- bis
       19-Jährigen in Deutschland gaben im Jahr 2022 [4][laut Statista-Angaben]
       an, Tiktok zu nutzen. Wer nicht dort aktiv ist, hat zumindest schon einmal
       gehört, dass es dort kurze, schrille, schnell aufeinanderfolgende Videos zu
       sehen gibt. Es geht ums Tanzen und lebensgefährliche Mutproben,
       gleichzeitig nutzen Rechte Tiktok schon länger für sich, ohne dabei groß
       Gegenwind von demokratischer Seite zu bekommen. Vor allem die AfD,
       unterstützt von rechten Influencer*innen und Anhängern, verbreitet auf
       der Plattform politische Inhalte.
       
       In den USA wird wegen der chinesischen Besitzstrukturen und des möglichen
       Einflusses aus Peking über ein mögliches Verbot der App diskutiert. Ein
       Gesetz, wonach der chinesische Mutterkonzern Bytedance die App innerhalb
       eines Jahres verkaufen soll, um so ein Verbot zu verhindern, hat bereits
       den Kongress passiert. In Deutschland weht ein anderer Wind. Immer mehr
       Politiker:innen melden sich trotz der Sicherheitsbedenken auf der
       Plattform an. Das könnte auch mit den Europawahlen, bei denen man erstmals
       ab 16 Jahren seine Stimme abgeben kann, zusammenhängen. Der Bundes- und
       Vizekanzler sind jetzt auf Tiktok. Die FDP-Spitzenkandidatin Marie-Agnes
       Strack-Zimmermann auch. Parteien wie die Grünen oder die SPD mitsamt ihren
       Bundestagsfraktionen ebenso. Was können sie von Tiktokern wie Anthony
       Morris lernen?
       
       Fünf Minuten, bevor sich die Grünenchefin dazuschalten will, hat der
       Livestream auf Gwennys Kanal bereits knapp 800 Zuschauer. Die Prominenz von
       Lang hilft. Normalweise schalten sich etwa 60 bis 70 Leute zu. Laut Moriss
       sind es in rechten Livestreams durchschnittlich etwa 200 bis 300. Der
       32-jährige trägt einen Nasenring und Tunnelpiercings in dafür ausgedehnten
       Ohrläppchen, seine Haare sind hinten und an den Seiten kurz geschoren.
       Konzentriert schaut er weiter auf sein Smartphone. Es klemmt in einem
       kleinen, dreibeinigen Stativ, was auf dem Wohnzimmertisch vor ihm steht.
       Links daneben ist ein Laptop aufgeklappt, rechts steht hochkant ein Tablet.
       
       Sie haben sich die Aufgaben in der „Community“ gut aufgeteilt: Gwenny soll
       das halbstündige Gespräch mit Ricarda Lang moderieren, eine andere Nutzerin
       bereits vorher gesammelte Fragen stellen. Die Aufgabe von Moriss ist es,
       möglichst alle im Chat aufploppenden Hassnachrichten, blauen Herzchen oder
       rechte Propaganda zu löschen. Sollte trotzdem jemand während des Gespräches
       mit Fake News um die Ecke kommen, kann Moriss diese auf seinem Laptop
       schnell faktenchecken. In den vergangenen Monaten hat er sich dafür ein
       Dokument in Google Docs angelegt. Darin hat er eine Art Best-of-Glossar der
       am häufigsten benötigten Faktenchecks aufgelistet, zum Beispiel wie hoch in
       Deutschland der Anteil von Straftaten durch Ausländer wirklich ist.
       
       Tiktok-Livestreams, das kann man schon nach ein paar Minuten sagen, sind
       ein anderes Umfeld der politischen Kommunikation. Immer wieder klirrt und
       rauscht es im Livestream, weil Menschen aus dem Publikum Geldgeschenke
       machen. Moriss kommentiert: „Das waren mal eben 20 Euro.“ Visuell wird das
       dadurch verstärkt, dass etwa plötzlich ein Buckelwal durchs Bild schwimmt.
       Das Geld sowie Reaktionen wie Herzchen machen den Livestream sichtbarer auf
       der Plattform. Denn sie signalisieren dem Algorithmus von Tiktok: Aha, hier
       ist ein Livestream, der vielen Menschen gefällt, deswegen sollte er noch
       mehr Usern beim Durchscrollen angezeigt werden.
       
       Oft kämen Geldgeschenke in den Livestreams nicht vor. Sowieso könne man mit
       Tiktok kaum Geld verdienen, so lange man nicht viele Follower hat. Denn
       Geldgeschenke für normale Videos können Userinnen und User erst ab 10.000
       Followern erhalten. Etwa 20 Stunden verbringt Moriss pro Woche auf Tiktok,
       damit verdient er umgerechnet circa 1,30 Euro pro Stunde, der Rest landet
       bei der Plattform. „Würde ich viel Geld verdienen wollen, würde ich
       rechtsradikalen Content machen“, sagt Moriss. Bei rechten Livestreams sind
       laut Moriss die Geldgeschenke um ein Fünf- oder Sechsfaches höher.
       
       Auf Tiktok hat der 32-jährige knapp 8.500 Follower. Das ist nicht besonders
       viel, auch wenn diese Zahl, anders als bei Instagram, nicht dafür
       entscheidend ist, wie vielen Menschen seine Videos oder Streams angezeigt
       werden. Allerdings stößt man bei der Recherche nach anderen Akteuren, denen
       noch mehr Menschen folgen und die ähnlich wie Moriss engagiert sind,
       schnell an die Grenzen. So richtig wer anderes ist da einfach nicht.
       „Jemand, der politisch links ist, ist halt auch oft Individualist. Der
       hockt nicht den ganzen Tag auf Tiktok rum und sagt, links ist geil, sondern
       der hat auch anderes zu tun.“ Die Gegenseite hingegen sei da fokussierter:
       „Die haben eine Mission und die ist, alles Rechte nach vorne bringen“.
       Linke hätten ein solches Ziel hingegen nicht.
       
       Das ändert sich jedoch langsam. Im Frühjahr initiierten Personen aus dem
       Umfeld von Fridays for Future etwa die [5][#reclaimTikTok“-Bewegung]. Diese
       möchte Tiktok von den Rechtsextremen zurückerobern. Auch Anthony Moriss
       blendet am Ende seiner Videos den Hashtag ein. Es soll damit eine Art
       Sammelbecken für eine Anti-rechts-Gegenbewegung geschaffen werden.
       
       Zudem wurde Anthony Moriss in den vergangenen Wochen zu einem kleinen
       Medienphänomen. Er musste viel erzählen, wie er und die anderen die
       Demokratie auf Tiktok zu retten gedenken. Als Autor beim Spiegel schrieb er
       darüber im März einen Artikel. Noch am Tag der Veröffentlichung rief das
       ZDF bei Moriss für ein Interview an, ein paar Tage später saß er bei „hart
       aber fair“ mit Karl Lauterbach und Sascha Lobo. Bevor er einwilligte, sich
       für den Artikel in seiner Wohnung zu treffen, hatte Moriss bei der taz
       angerufen, um zu fragen, ob der Reporter auch wirklich dort arbeite. Es
       gebe genug Leute, die einfach nur seine Adresse herausfinden wollen, auch
       Morddrohungen von Rechten erhalte er regelmäßig über Tiktok. Das „Anthony
       Moriss“ in Wirklichkeit ein Künstlername ist, erfährt man zufällig später
       im Gespräch.
       
       Genug zu tun hat Moriss eigentlich auch. 30 Stunden in der Woche arbeitet
       er als Pfleger in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie, nebenher jobbt er
       noch an einer Tankstelle. Er ist Mitglied von zwei Metalcore-Bands, spielt
       regelmäßg Konzerte. Und trotzdem kann man das Gefühl haben, dass die
       Hauptrolle seines Lebens gerade die des Tiktokers „Anthony“ ist. „Ich
       wollte die Leute ärgern“, beschreibt Moriss seine Motivation, als er im
       vergangenen Oktober mit den ersten Videos und Livestreams anfing.
       
       Er kannte das ja schon aus der Coronazeit, als er sich im Kittel von der
       Arbeit vor die Handykamera setzte und sich mit Schwurblern auf Tiktok
       anlegte. Auch damals habe er fast 10.000 Follower gehabt, allerdings sei
       der Account von Gegnern „totgemeldet“, also so oft bei Tiktok etwa wegen
       angeblich anstößiger Inhalte angezeigt worden, bis er gesperrt wurde.
       Derlei konzertierte Meldeschlachten sind auch heute ein gerne genutztes
       Mittel, um politisch unliebsame Nutzer lahmzulegen.
       
       ## Livestreams in der Nachtschicht
       
       Erst am Tag zuvor, so erzählt Moriss, seien wieder zwei seiner Videos wegen
       Verstößen gegen die Plattformregeln gesperrt worden. [6][„AfDler] haben
       natürlich Schiss davor, dass Content, wie ich ihn mache, eine größere
       Reichtweite bekommt.“ Auch deswegen sei es nach Ansicht von Moriss schwer,
       andere große Tiktok-Accounts gegen rechts zu finden. Gerade ist er auf der
       Suche nach einer Agentur, die derlei Probleme mit willkürlichen Sperrungen
       für ihn löst. Mit seinen Einnahmen von der Plattform würde er diese
       finanzieren.
       
       Um Job und Aktivismus unter einen Hut zu bekommen, nutzt Moriss auch seine
       Nachtschichten. Einmal in der Stunde schaut er in die Zimmer der kleinen
       Patientinnen und Patienten, ob alles okay ist. Danach zieht er sich in den
       Pausenraum zurück und macht Livestreams, um sich mit seiner Community über
       die AfD auszukotzen. „Nachts laufen auch ganz viele Pro-AfD-Livestreams.
       Die sind richtig wild, mit Beleidigungen, Reichsflaggen, dem N-Wort.“ Für
       Menschen, die ihm folgen oder seinen Kanal in der Suchmaske eingeben und
       vielleicht auch für diejenigen, die seinen Livestream beim Durchscrollen
       vom Algorithmus vorgeschlagen bekommen, biete er eine Art Safespace.
       
       Oder er bereitet Videos vor, die er am nächsten Tag posten will. Das ist
       oft ein Friemelwerk, denn erfolgreiche Tiktok-Clips leben davon, dass in
       ihnen in kurzer Zeit viel passiert. Gut eignen sich dafür fremde
       Videoausschnitte, diese kann man in der App ohne Weiteres in die eigenen
       Clips einbetten und hämisch kommentieren. In einer seiner erfolgreichsten
       Videos knüpft sich Moriss die letzte Neujahrsansprache von Alice Weidel
       vor. In Zwischenschnitten blendet er Grafiken ein, die ihre Aussagen über
       den angeblich dahinsiechenden Zustand Deutschlands konterkarieren sollen.
       Immer wieder verspottet er Weidel, fragt, wenn sie keine konkreten
       Beispiele nennt, ob sie so auch ihre Doktorarbeit geschrieben habe.
       
       Ohne ein bisschen Provokation funktioniert es nicht. Wenn Moriss
       beschreibt, wie seine Gegner ihn auf Tiktok sehen, spricht er immer
       selbstironisch von dem „kleinen Jungen“, der mal wieder die Politik
       erklären wolle. Da schwinge schon mit, was er mit seiner Präsenz auf der
       Plattform eigentlich erreichen will, nämlich den Rechten das Leben dort
       möglichst schwer zu machen. In seinen Livestreams fordert Moriss
       AfD-Sympathisanten auf, ihm einen guten Grund zu nennen, warum man die
       Partei wählen sollte. 161 Tage hat er ihnen dafür Zeit gegeben. Eine
       durchaus symbolische Zahl, denn 161 ist auch der Code der Antifa,
       „@anthony161_“ heißt auch sein Tiktok-Kanal.
       
       „Bisher“, sagt Moriss am Tag 118, „habe ich noch keinen guten Grund
       bekommen.“ Wobei er in den Gesprächen schon aufpasst, sich auf keinen Fall
       in eine diffuse, bauchgefühlige Ecke quatschen zu lassen. Irgendwann am
       Nachmittag meldet sich im Livestream auf Moriss’ Kanal der User „@djhotte“
       zu Wort. Er finde es unfair, wie mit dem ersten hauptamtlichen
       AfD-Bürgermeister in Raguhn-Jeßnitz, einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt,
       umgegangen wird. Dass dieser seine Wahlversprechen nicht einhalten kann,
       hänge doch mit der fehlenden Unterstützung zusammen. Überall werde nur noch
       gehetzt, egal ob links oder rechts. Das sei das Problem.
       
       Moriss: „Du sagst, du hast das AfD-Programm studiert, dann kannst du mir ja
       sicher sagen, was auf Seite 23 im unteren Absatz steht. Da steht, dass die
       AfD das AGG (Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, d. Red.) abschaffen
       möchte. Wie du weißt, werden Leute in Deutschland diskriminiert, weil sie
       schwul, lesbisch, jünger sind. Es gibt Gesetze, die dich schützen. Warum
       möchte die AfD das machen? Und warum findest du das gut?“ 
       
       @djhotte: „Das ist in jeder Partei so.“ 
       
       Moriss: „Ich hab das nur von der AfD gelesen.“ 
       
       @djhotte: „Und die anderen Parteien dürfen uns in den Ruin treiben?“ 
       
       Moriss: „Es geht ja gerade um Diskriminierung, nicht um in den Ruin
       treiben.“ 
       
       @djhotte: „Ich sag mal, soll jeder für sich selber entscheiden.“ 
       
       Moriss: „Ja schon, aber dann kannst du es nicht mehr.“ 
       
       @djhotte: „Ich habe das Gefühl, dass sich in den letzten 10 Jahren viel
       verändert hat.“ 
       
       Moriss: „Ja, weißt du, welche Partei es seit 10 Jahren gibt?“ 
       
       @djhotte: „Ja gut, äh, aber 2015 hatte sie doch kein Einfluss gehabt, wo
       das losging. Hätte man ja auch alles kontrollierter machen können. Ich
       möchte nicht Vater oder Mutter sein und meine Tochter muss ihr Leben
       lassen, weil so ein paar durchgeknallt sind auf der Straße.“ 
       
       Moriss: „Das hat ja nichts mit Flüchtlingen zu tun, das machen ja Deutsche
       genauso. (Er nimmt das Handy aus dem Stativ und filmt seinen Laptop ab.)
       Ich kann dir die Statistiken zeigen, zu 92 Prozent sind das nicht
       Zuwanderer, die das machen.
       
       @djhotte: „Na ja gut, ich kann dir das jetzt nicht gegenteilig beweisen. Du
       darfst den nächsten reinholen.“ 
       
       Geht man von der Stimme aus, müsste DJ Hotte um die 50 Jahre alt gewesen
       sein, eine Altersgruppe, die scheinbar gar nicht so selten auf Tiktok
       vertreten ist – besonders in den Kommentarbereichen der AfD-Accounts. „Aber
       sie sind auch die leichtesten Gegner“, sagt Moriss. Menschen mittleren
       Alters auf Tiktok in Gesprächen zu beeinflussen, sei am einfachsten: „Sie
       sind nicht jung genug, um sich schnell weitere Informationen in ihrem Sinne
       zu beschaffen, und auch nicht alt genug, dass ihnen alles egal wäre, was
       ich sage.“
       
       Letztlich enden die Gespräche sowieso immer bei den gleichen Themen.
       Atomstrom, angeblich aggressive Flüchtlinge, Frauen mit Kopftuch, für
       Moriss hat sich da mittlerweile eine gewisse Redundanz eingestellt. Er
       fühlt sich wie ein Schachspieler, immer weiß er eigentlich schon, wie wohl
       die nächsten fünf Züge des Gegners aussehen werden. Wichtig bleibt aber:
       Niemals selbst zu viel mit eigenen Behauptungen angreifen, so dass „die
       oder der dich im Würgegriff bekommen könnte“. Stattdessen lieber immer nur
       Nachfragen stellen, das bringt die Gegenseite wieder in Zugzwang.
       
       „Ich weiß“, sagt Moriss aber auch nach der Diskussion mit @djhotte, „das
       war jetzt auch nicht die feine Art von mir.“ Auf zwei von drei Aussagen sei
       er gar direkt eingegangen, „aber das machen die ja auch nicht“. Klar könne
       man ihn dafür kritisieren, aber er spiegele nur das Verhalten der Rechten,
       um ihnen zu zeigen, wie unfair sie sich in Diskussionen verhalten. Die App
       sei zwar für viele Menschen mittlerweile so etwas wie eine Suchmaschine.
       „Allerdings“, sagt Moriss, „guckt sich ein normaler AfDler kein
       5-Minuten-Infovideo an.“ Nur mit demokratischem Diskurs ist heute auch
       nicht mehr getan, so muss man ihn da wohl verstehen.
       
       Möchte Anthony Moriss also wirklich Rechte auf Tiktok überzeugen, etwas
       weniger rechts zu sein, hat er eine schwierige Aufgabe zu lösen: er muss
       mit kurzen, zuspitzenden Statements auf sich aufmerksam machen, zugleich
       aber der Komplexität der politischen Wirklichkeit irgendwie noch gerecht
       werden. Deswegen kommt für ihn vor dem Informieren immer auch das
       Provozieren.
       
       Mehr noch als bei den anderen sozialen Netzwerken zeigt der Algorithmus bei
       Tiktok den Nutzerinnen und Nutzern gezielt Videos an, die auf ihrem
       bisherigen Sehverhalten basieren. Wer da einmal Videos, in denen gegen
       Geflüchtete oder queere Menschen gehetzt wird, in voller Länge angeschaut
       hat, kommt so schnell aus der Blase nicht mehr raus. Hinzu kommt, dass
       besonders solche Clips nach vorne gespult werden, die der Algorithmus für
       besonders erfolgversprechend hält. Deswegen hat das viele Herzchen- und
       Geschenkeverteilen nicht nur eine symbolische Funktion.
       
       Von einem Verbot großer rechter Accounts oder einer
       Reichweiteneinschränkung, wie das Tiktok neulich beim
       AfD-Europaspitzenkandidaten Maximilian Krah gemacht hat, hält Anthony
       Moriss nichts. „An Reichweite verlieren die dadurch nichts, weil es dann
       eben 200 neue Accounts gibt, die das Zeug veröffentlichen.“ Außerdem würden
       die Rechten so wieder nur in ihre Opferrolle schlüpfen können. Effektiver
       sei es, wenn sich noch mehr Leute wie er auf Tiktok demokratisch
       positionieren würden. Ein rechter Account, erklärt er pragmatisch, könne
       sich niemals die Reichweite von einem linken Account klauen, weil dieser im
       Vergleich viel zu wenig habe. Aber ein linker Account könne sich umgekehrt
       immer was von der Reichweite der Rechten abgreifen. Deswegen finde er es
       grundsätzlich auch gut, wenn immer mehr Politikerinnen und Politiker, trotz
       all der Sicherheitsbedenken, jetzt zu Tiktok kommen.
       
       Vor der Liveschalte mit Ricarda Lang hat Moriss in einer Art Warm-up-Show
       auf seinem eigenen Kanal dazu aufgerufen, doch bitte teilzunehmen, wenn man
       der Meinung sei, dass die Grünen das Land kaputt machen. Das solle man der
       Parteivorsitzenden ruhig an den Kopf werfen. „Sagt ihr, dass sie in einer
       Sekte ist, vielleicht antwortet sie drauf.“ Nichts von alledem wird
       tatsächlich im Gespräch zu Lang durchdringen, dafür sorgen Moriss und die
       Community.
       
       Im Livestream bekommt die Grünen-Vorsitzende nur Fragen von ausgewählten
       Leuten gestellt. Man erfährt, dass die Partei das Fleischessen nicht
       verbieten wolle, dass man weiter mit Mopeds im Straßenverkehr fahren dürfe
       und dass es übrigens schon Langs zweiter Livestream auf Tiktok war. Nach
       einer halben Stunde verabschiedet sie sich zum nächsten Termin. „Haben sie
       gut gemacht“, meint Moriss über seine Community. Klar, einige rechte
       Botschaften und herablassende Kommentare über Langs Körper musste er
       während des Gesprächs löschen, aber gekapert wurde der Livestream nicht –
       ein kleiner Erfolg im mühsamen Kampf gegen rechts auf Tiktok.
       
       21 May 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.tiktok.com/@anthony161_
 (DIR) [2] /Personalentscheidung-bei-den-Gruenen/!6001166
 (DIR) [3] https://www.tiktok.com/@langricarda?lang=en
 (DIR) [4] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1318937/umfrage/nutzung-von-tiktok-nach-altersgruppen-in-deutschland/#:~:text=Laut%20einer%20Umfrage%20gaben%20rund,zu%20den%20TikTok-Nutzern%20z%C3%A4hlten.
 (DIR) [5] https://www.tiktok.com/discover/reclaimtiktok?lang=en
 (DIR) [6] /AfD-auf-TikTok/!5979204
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Marvin Kalwa
       
       ## TAGS
       
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