# taz.de -- Agrarlobby gegen Naturschutz: Natur auf der Todesliste
       
       > Von den Plänen zur Renaturierung ist nicht viel übrig. Wie sie abgeräumt
       > wurden, liest sich wie ein Schurkenstück. In der Hauptrolle: EVP-Chef
       > Weber.
       
 (IMG) Bild: Eigentlich ganz schön: renaturierte Flusslandschaft an der Unteren Havel
       
       BERLIN taz | Das Häsener Luch nördlich von Berlin braucht keine
       Schützenhilfe aus Europa. Das Feuchtgebiet, einst Brutstätte seltener Vögel
       wie Rotschenkel, Bekassine oder Großer Brachvogel, ist vor ein paar Jahren
       vom Naturschutzbund (Nabu) aufgekauft worden. Auf 20 Hektar setzt er den
       ehemaligen Moorstandort umsichtig wieder unter Wasser. [1][Allein in
       Deutschland warten aber 1,5 Millionen Hektar entwässerte Moorböden auf eine
       neue, nachhaltige Nutzung]. „Wir müssten jährlich 50.000 bis 70.000 Hektar
       Moorböden wieder vernässen, um unsere Klimaziele zu erreichen“, sagt
       Tilmann Disselhoff, Leiter des „Teams European Wetlands“ des Nabu, „das ist
       eine ungeheure Aufgabe.“
       
       Den politischen Rahmen dafür wollte die EU-Kommission 2022 mit dem „Nature
       Restauration Law“ liefern, auf Deutsch in etwa [2][„Gesetz zur
       Wiederherstellung der Natur“]. Als Teil des ambitionierten „Green Deal“
       sollten Wälder, Moore, Meere und Wiesen Europas wieder in einen Zustand
       versetzt werden, der das Überleben von Tieren und Pflanzen und ihre
       Funktion als Senke für Treibhausgase sichert.
       
       Nötig wäre es: Über 80 Prozent der europäischen Biotope sind laut des
       Zusammenschlusses der europäischen Wissenschaftsakademien EASAC, zu der
       unter anderem die Leopoldina in Halle gehört, in einem schlechten Zustand.
       Doch im Laufe der vergangenen zwei Jahre ist das ursprünglich ambitionierte
       Vorhaben zwischen den Mühlsteinen von Machtpolitik und persönlichen
       Eitelkeiten zermahlen worden. Inzwischen ist unklar, ob es überhaupt noch
       verabschiedet wird.
       
       Gestartet war das Gesetz mit der Vorgabe, auf 20 Prozent der Land- und
       Meeresfläche der EU Wiederherstellungsmaßnahmen durchzuführen. Etwa sollten
       auf 25.000 Kilometern in Flüssen und Auen Barrieren abgebaut werden, die
       nicht mehr für die Energieerzeugung, die Schifffahrt oder den
       Hochwasserschutz benötigt werden. Außerdem gab es Zielvorgaben für die
       Pflanzung von Hecken, um auf riesigen Äckern Unterschlüpfe für Vögel und
       Insekten zu schaffen, in Wäldern sollten zu ähnlichen Zwecken alte
       „Habitatbäume“ erhalten werden, und so weiter.
       
       Das Gesetz, urteilten Wissenschaftler, sei von entscheidender Bedeutung für
       die Ernährungssicherheit, die biologische Vielfalt und das Klima. Es biete
       die einzigartige Gelegenheit, Landwirte für die Erbringung von
       Ökosystemleistungen zu entlohnen. Nachhaltige Ökosysteme seien gut sowohl
       für die Ernährungssicherheit in Europa als auch für das
       Wirtschaftsinteresse der Landwirtinnen und Landwirte, hieß es in einer
       Stellungahme der EASAC.
       
       ## Ränkespiele im Parlament
       
       Wie üblich überstellte die Kommission ihren Gesetzesvorschlag dem Parlament
       zur Beratung und Abstimmung. Dort aber ging nichts seinen üblichen Gang.
       Schon der parlamentarische Umweltausschuss konnte sich nicht auf eine
       Fassung einigen – Konservative, Liberale und Rechtsextreme lehnten das
       Gesetz ab.
       
       Grundsätzlich habe man den Green Deal unterstützt, sagt Christine Schneider
       (CDU), parlamentarische Geschäftsführerin der CDU/CSU-Gruppe im
       Europäischen Parlament und Berichterstatterin der EVP-Fraktion für das
       Nature Restoration Law. Doch dieses Gesetz sei „über das Ziel
       hinausgeschossen“. Nach sorgfältiger Prüfung habe man sich zur Ablehnung
       entschieden.
       
       Jutta Paulus, für die Grünen im EU-Parlament zuständig für das Thema, hat
       das anders erlebt. Manfred Weber, Chef der EVP-Fraktion und nachhaltig
       erbost darüber, dass Ursula von der Leyen an seiner statt
       Kommissionspräsidentin geworden war, habe an seine Abgeordneten eine
       „Kill-List“ von Vorhaben des Green Deal verteilt, darunter das Gesetz zur
       Wiederherstellung der Natur. „Das Narrativ war: Wir sind die Partei der
       Bauern, alles in der Landwirtschaftspolitik soll so bleiben, wie es ist,
       nur mit mehr Geld“, sagt Paulus. EVP-Frau Schneider bestreitet eine
       „sogenannte Kill-List“; für Klimaschutzpolitik „mit der Brechstange“ gebe
       es eben keine Mehrheiten.
       
       Nach harten Verhandlungen einigte sich das Parlament schließlich im Juli
       2023 auf einen Gesetzestext. „Er ergab keinen Sinn mehr, war chaotisch und
       in sich widersprüchlich“, sagt die Grüne EU-Abgeordnete Jutta Paulus. Aber
       immerhin, es gab einen Text. Über diesen verhandelten Kommission, Parlament
       und der Rat der Mitgliedsstaaten im Trilogverfahren hinter verschlossenen
       Türen.
       
       ## Widerstand im Rat
       
       Doch auch hier wartete Ärger. Denn während das Parlament im Februar 2024
       dem Verhandlungsergebnis – einem arg geschliffenen Rumpf des ursprünglichen
       Gesetzes, dem jede Verbindlichkeit in Zielen und Finanzierung fehlte –
       zustimmte, versagte ihm nun der Rat der Mitgliedsstaaten die Zustimmung.
       Ungarn wechselte vom Lager der Befürworter in das der Gegner.
       
       Seitdem liegt das Gesetz auf Eis, hinter den Kulissen wird nach wie vor
       nach Mehrheiten gesucht. „Wenn wir das nicht durchbringen“, sagt Jutta
       Paulus, „wird es im Herbst in Kolumbien peinlich.“ Auf dem nächsten großen
       Naturschutzgipfel werden die Mitgliedsstaaten des
       UN-Biodiversitätsabkommens sich genau anschauen, ob die angebliche
       progressive Treiberin EU zu Hause Schritte unternommen hat, den Verlust der
       Biologischen Vielfalt zu stoppen.
       
       Die Bauern könnten mit dem Nature Restauration Law leben, wenn die
       finanzielle Unterstützung etwa für Moorvernässungen oder Heckenpflanzungen
       gesichert worden wäre, sagt Henrik Maaß, Referent für europäische
       Agrarpolitik bei der [3][Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft]
       (AbL). Die Fraktion um Weber sei Sprachrohr der Lobbyvertretung der
       europäischen Landwirte [4][Copa-Cogega] und der Agrarindustrie gewesen.
       
       Er habe von der Leyen vor sich hergetrieben, sagt Maaß, „es ging ja nicht
       nur um das Wiederherstellungsgesetz“. Auch die Verordnung für einen
       nachhaltigen Umgang mit Pestiziden oder für ein nachhaltiges
       Ernährungssystem habe man fallen lassen, die Ziele der Gemeinsamen
       Agrarpolitik insgesamt aufgeweicht. „In vielen Punkten sind wir jetzt auf
       einen Stand von vor zehn Jahren zurückgefallen“, sagt Maaß, „die
       Aufbruchstimmung, die es nach der Vorstellung des Green Deals gab, ist
       weg“.
       
       Aufbruchstimmung herrscht auch bei Tilmann Disselhoff vom Nabu derzeit
       nicht, eher Trotz: „Natürlich bräuchten wir klare politische Vorgaben für
       einen Ausstieg aus der entwässerungsbasierten Landwirtschaft“, sagt er.
       Wenn es dafür künftig keine Mehrheiten gebe, dann müsse man eben ohne
       weiter machen. Ob in der notwendigen Größenordnung, bezweifelt er.
       
       31 May 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Torfabbau-in-Niedersachsen/!5972785
 (DIR) [2] /EU-Einigung-bei-Land--und-Meeresschutz/!5972166
 (DIR) [3] https://www.abl-ev.de/start
 (DIR) [4] https://copa-cogeca.eu/
       
       ## AUTOREN
       
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