# taz.de -- Syrisches Dialogtreffen in Berlin: Die Suche nach einem Ausweg
       
       > Einflussreiche Syrer haben sich in Berlin getroffen. Auch Vertreter aus
       > Regimegebieten ließ das Assad-Regime nach Deutschland ausreisen.
       
 (IMG) Bild: In Damaskus hat Präsident Baschar al-Assad alles im Blick, Straßenszene von 2023
       
       An diesem Dienstagvormittag im Hinterzimmer eines Berliner Hotels geht es
       um die syrische Identität. Draußen ziehen Touristen ihre Rollkoffer hinter
       sich her, ein Kellner stellt seine Cafétische auf den Bürgersteig. Drinnen
       im holzvertäfelten Besprechungsraum sind die Kaffeetassen schon geleert.
       „Wollen wir unsere verschiedenen Identitäten verschleiern oder multiple
       Identitäten zulassen, etwa im Religionsunterricht?“, fragt eine
       Teilnehmerin. „Auf keinen Fall verschleiern“, sagt ein anderer. Diversität,
       das müsse der Ausgangspunkt sein.
       
       13 Jahre nach Ausbruch des Syrienkriegs haben längst andere Konflikte das
       Land aus den globalen Schlagzeilen verdrängt. Doch eine [1][Lösung steht
       weiter aus]. Das Regime von [2][Baschar al-Assad] hat nur zwei Drittel des
       Landes von Aufständischen zurückerobert; zwischen den unterschiedlichen
       Herrschaftsbereichen verschieben sich die Grenzen schon seit Jahren nicht
       mehr. Was aber die Versammelten in Berlin beschäftigt: Auch
       gesellschaftlich ist Syrien ein Flickenteppich und Trümmerhaufen zugleich.
       Der Krieg, die jahrelange Gewalt und Hetze wirken nach, [3][in den Köpfen],
       in den Herzen.
       
       Vor mehr als zehn Jahren, nachdem Assad zunächst friedliche Proteste brutal
       niederschlagen ließ und einen landesweiten Aufstand provozierte, trafen
       sich – ebenfalls in Berlin – einflussreiche Oppositionelle, um mit
       Unterstützung der Bundesregierung Grundlagen für einen politischen Übergang
       zu legen. Pläne für den „Tag danach“ wollten sie schmieden, für die Zeit
       nach dem erwarteten Sturz des Diktators. Dass der „Tag danach“ noch kommen
       wird, davon scheint in dem Berliner Besprechungszimmer in der ersten
       Juniwoche 2024 keiner mehr auszugehen.
       
       Die Gruppe, die nun in Berlin zusammengekommen ist, ist schwer zu fassen.
       Auffällig viele der Versammelten stammen aus Tartus, also aus dem vom
       Regime kontrollierten Gebiet, und sind für das Treffen nicht etwa aus dem
       Exil angereist, sondern aus Syrien selbst. Die Stadt an der Mittelmeerküste
       ist eine Hochburg der Alawiten, jener Bevölkerungsgruppe, zu der auch Assad
       gehört. Wenn man den komplexen Syrienkonflikt herunterbrechen müsste, dann
       wären die Alawiten als gesellschaftliche Basis des Regimes der Antagonist
       der syrischen Opposition, zu der besonders viele Sunniten zählen.
       
       Doch genau diese konfessionellen, ethnischen und ideologischen Gräben
       möchte die Gruppe überwinden. Sie nennt sich „Rat der syrischen Charta“.
       Die Original-Charta mit ihren elf Prinzipien liegt auf dem Tisch. Zu den
       Unterzeichnern gehören neben Alawiten und Sunniten auch [4][Kurden],
       Christen und Turkmenen. Die Oppositionelle Basma Kodmani, die letztes Jahr
       in Paris verstorben ist, hat unterzeichnet, wie auch der Islamgelehrte und
       Ex-Parlamentsabgeordnete Mohammed Habash, der 2012 in die Emirate
       auswanderte.
       
       Nach Berlin gekommen ist dieses Mal die Richterin Iman Shahoud, aus ihrem
       schwedischen Exil. Auch Mitglieder altehrwürdiger Großfamilien sind
       vertreten „Familien, nicht Stämme!“, betont ein Anwesender. Gemeinsam
       meinen sie, die syrische Gesellschaft zu repräsentieren, auch wenn hier
       natürlich keiner irgendwie gewählt worden ist.
       
       ## Willkürliche Verhaftungen und systematische Folter
       
       „Diese Initiative bringt alle Teile der Gesellschaft zusammen, die im In-
       und Ausland Einfluss haben“, sagt ein Teilnehmer mit tiefer Stimme. Wie
       alle im Raum hat er sich zwar namentlich vorgestellt, mit ihrem Klarnamen
       in der Zeitung stehen wollen aber nur wenige. Was die Versammelten vereint,
       ist die Überzeugung, dass es in Syrien so nicht weitergehen darf. Dass es
       möglich ist, etwas zu verändern.
       
       Der erste Artikel ihrer Charta, die 2017 unterzeichnet wurde, lautet ganz
       einfach: „Einheit der syrischen Territorien“. Das klingt wenig kontrovers,
       ist aber bedeutsam. Derzeit haben im Nordwesten Syriens islamistische
       Rebellen und protürkische Milizen das Sagen, während sich kurdisch
       dominierte Kräfte im Nordosten einen von Damaskus unabhängigen Quasi-Staat
       aufgebaut haben. Sie streben zwar offiziell nicht nach kompletter
       Unabhängigkeit, aber das Autonomiegebiet werden sie sich freiwillig nicht
       wieder nehmen lassen.
       
       Am meisten Sprengstoff birgt Artikel 5: „Rechenschaftspflicht“, heißt es
       da, „ist der Schlüssel zum Wiederaufbau des Landes. Dies darf nicht mit
       Rache oder kollektiven Anschuldigungen verwechselt werden.
       Rechenschaftspflicht ist individuell. Kein Mitglied einer Gemeinschaft darf
       für die Untaten eines Angehörigen oder Mitglieds seiner Gemeinschaft
       verurteilt werden.“ Wer die Forderung nach Rechenschaft weiterdenkt, landet
       schnell bei hohen Vertretern des Assad-Regimes, das mit willkürlichen
       Verhaftungen, systematischer Folter und zahlreichen Kriegsverbrechen seit
       Jahren die eigene Bevölkerung terrorisiert.
       
       In der ersten Sitzung im Jahr 2017 hätten Exil-Oppositionelle und Alawiten
       aus Syrien getrennt gesessen, erinnert sich der deutsch-syrische Jurist
       Naseef Naeem, der die Gespräche damals moderierte und auch jetzt wieder am
       Kopfende des Tisches Platz genommen hat. Aber damit sei es schon nach der
       Raucherpause vorbei gewesen.
       
       ## Im Visier der Regierung
       
       „Das Regime“, sagt Naeem, „kommt nicht vom Mars, sondern aus der Mitte der
       Gesellschaft. Ich habe das Gefühl, dass das vielen in Europa nicht bewusst
       ist.“ Aber unabhängig von der Frage, ob Assad an der Macht bleibt, müsse
       man sich fragen, wie die miserable Lage in Syrien zu managen ist. Den Zweck
       des „Rats der syrischen Charta“ sieht er darin, sowohl den Syrern als auch
       der internationalen Gemeinschaft vor Augen zu führen, dass Verständigung
       auf gesellschaftlicher Ebene durchaus möglich ist.
       
       Die Bundesregierung erklärte auf taz-Anfrage, ihr sei die Initiative
       bekannt und sie unterstütze „die Zielsetzung, eine innersyrische Plattform
       zu bieten, die langfristig einen Beitrag zu einer politischen Lösung
       leisten kann.“ Man sei aber nicht involviert.
       
       „Wenn irgendwann all die bewaffneten Gruppen abgezogen sind, werden die
       Syrer [5][mit all ihrem Leid auf sich allein gestellt sein]“, sagt Faissal
       Mulhem aus Tartus. Darauf müsse man sich vorbereiten. Mulhem ist einer der
       wenigen aus Syrien Angereisten, die ihren Klarnamen freigeben. Dem
       syrischen Regime, sagt er, sei die Initiative ohnehin bekannt.
       
       Dass die Verantwortlichen in Damaskus wissen, was vor sich geht, zeigte
       sich vergangenes Jahr. Im Herbst musste ein Treffen fast ausschließlich mit
       Exil-Syrern stattfinden. Die Teilnehmer aus Syrien wurden an der Ausreise
       gehindert und mussten sich beim Geheimdienst melden. Dieses Mal lief
       dagegen alles glatt. „Sie lassen uns machen“, sagt der Mann mit der tiefen
       Stimme selbstbewusst, weil man auch in den Reihen des Regimes wisse, dass
       es so nicht weitergehen kann –„weil es einen Exitplan aus der Krise
       braucht.“
       
       15 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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