# taz.de -- Ungelöste Mysterien der Menschheit: Amnesie und Erdrutschsieg
       
       > Unser Autor rätselt darüber, warum Jahrhundertüberschwemmungen wie jetzt
       > im Süden nicht für einen fetten Wahlsieg von Ökoparteien sorgen.
       
 (IMG) Bild: Klimawandel? War da was? Hochwasser nach Dauerregen in Süddeutschland am Neckar
       
       Mein Schreck war groß: Eine halbe Stunde Radfahren am Rhein, Ankunft bei
       der [1][Klimakonferenz in Bonn], ein Blick in den Fahrradkorb – verdammt,
       das Jackett? Ich hatte es oben in den Rucksack getan, den aber nicht
       zugemacht. Schnell den holperigen Weg am hochwässerigen Rhein
       zurückgestrampelt – nichts. Nochmal die Route abgefahren und überall
       geschaut – wieder nüscht. Wo bleibt ein dunkelgraues Sakko mit feinen
       Nadelstreifen, nicht ganz neu, aber noch ganz gut? Wer findet so was und
       nimmt es mit? Polstern die Gänse und Enten in den Rheinauen damit ihre
       Nester? Schwimmt das Sakko bereits Richtung Amerika?
       
       Die verschwundene Jacke reiht sich ein in die größten ungelösten Rätsel der
       Menschheit: Wie entstand das Leben? Wie heißt die letzte Primzahl? Wo
       bleiben all die Kugelschreiber und einzelnen Socken, die wir verlieren?
       Warum geben Menschen Markus Söder ihre Stimme? Und: Warum führt eine
       [2][Flutkatastrophe wie in Süddeutschland] bei der Wahl nicht zu
       Rekordergebnissen von Öko-Parteien?
       
       Der große Selbstbetrug der Umweltbewegung lautet ja: „Erst wenn der letzte
       Baum gerodet ist etc., werdet ihr sehen, dass ihr die Falschen gewählt
       habt.“ Die Theorie der Verelendung – es muss nur schlimm genug kommen,
       damit die Menschen den echten Ausweg sehen – funktioniert nur begrenzt: Die
       [3][Flutwelle von Fukushima] spülte Winfried Kretschmann ins Amt, die
       Dürresommer vor fünf Jahren [4][die Fridays auf die Straßen] und 20 Prozent
       Grüne nach Brüssel.
       
       Aber sonst? Seit Jahrzehnten Waldsterben, verschwindende Vogelarten,
       Hitzestress, Dieselskandal, Bahndesaster, Globalisierung des Plastikmülls
       und 160 Tote im Ahrtal – und wer steht auf der roten Liste der bedrohten
       Polit-Spezies? Konservative mit der Öko-Abrissbirne oder Marktfans, die
       jeden Deichbau für Verschwendung von Steuergeld halten? Populistische
       Dumpfbacken, die Märchen über eine schöne alte heile Welt von vorgestern
       verbreiten, als noch nicht „die Ausländer“ oder „Brüssel“ an unseren
       hausgemachten Problemen schuld waren? Nein. Kritisiert werden
       UmweltschützerInnen, die versuchen, den Irrsinn des Spätkapitalismus
       schrittweise und schön legal so umzubauen, dass auch morgen noch was zum
       Ausbeuten übrigbleibt. Die aber dafür – Achtung Trigger! – ganz sachte und
       mit maximaler sozialer Abfederung etwas ÄNDERN wollen. Schreck!
       
       ## Abgewrackte Atomrezepte
       
       Ein wirklich kniffliger Fall, Watson. Wie kann das sein? Union und SPD
       vergeigen in schöner Eintracht über Jahrzehnte die Klima- und
       Energiepolitik und geben jetzt mit ihren alten und abgewrackten Rezepten
       (Atom! Verbrenner! Technologie!) plötzlich wieder den Ton an. Und die, die
       gerade mühsam und mit Bauchschmerzen die Scherben ihrer Politik wegfegen,
       werden dafür als verbohrte Ideologen beschimpft. Bayern meldet landunter,
       auch weil die Regierung Poldergebiete nicht mag und Klimaschutz sabotiert,
       bis sie von der grünen Bundesumweltministerin Margot Honecker (so Söder
       über Steffi Lemke) Geld für den Hochwasserschutz will. Und dann geht es
       immer so weiter: Kaum ist die Flut vorbei, genehmigen dieselben
       PolitikerInnen [5][Neubauten auf Überschwemmungsflächen], nur um bei der
       nächsten Flut zu meinen, damit „konnte nun echt keiner rechnen“. Aber
       Politikpersonal mit solcher Rechenschwäche kommt offenbar bei WählerInnen
       mit akuter Öko-Amnesie gut an.
       
       Am Sonntag wäre die Möglichkeit, das zu ändern. Warum es aber auch [6][bei
       dieser EU-Wahl] nicht passieren wird, bleibt „XY ungelöst“. Uns ist der
       echte Erdrutsch offenbar immer noch lieber als ein Erdrutschsieg der
       UmweltschützerInnen. Mir bleibt nur der Trost der Freundin, die mich in
       Bonn nach meinem Sakko-Desaster verabschiedet: „Verlier nicht wieder was“,
       sagt sie, „vor allem nicht den Verstand.“
       
       7 Jun 2024
       
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