# taz.de -- Soziale Infrastruktur am Mehringplatz: Wenn die Zukunft wegbröckelt
       
       > Dem Jugend- und Stadtteilzentrum am Mehringplatz droht wegen
       > Baufälligkeit die Schließung. Für den armen Kiez wäre das eine
       > Katastrophe.
       
 (IMG) Bild: Undichtes Dach – unsichere Zukunft am Mehringplatz
       
       BERLIN taz | Der [1][Mehringplatz] am südlichen Ende der Friedrichstraße in
       Kreuzberg gilt als eines der ärmsten Gebiete der Stadt. In der
       Großwohnsiedlung am Halleschen Tor [2][leben besonders viele Menschen, die
       Sozialleistungen beziehen] und sich – nicht erst nach dem Auszug des
       letzten Supermarktes vor einem Jahr – von der Politik im Stich gelassen
       fühlen. Die massiven sozialen Probleme zeigen sich auch im Straßenbild.
       Viele Geschäftsräume stehen leer, Müllberge sammeln sich in den
       Hausdurchgängen, Junkies sitzen auf Parkbänken.
       
       Besonders für Kinder und Jugendliche ist die Situation dramatisch. Hier
       kommen materielle Armut der Elternhäuser und Bildungsarmut zusammen. Die
       Einschulungsergebnisse sind die schlechtesten bezirksweit. Viele Wohnungen
       sind überbelegt, Jugendliche gezwungen, ihren Alltag ausschließlich
       außerhalb der beengen Wohnverhältnisse zu verbringen. Die Folgen davon
       benennt der Quartiersrat Mehringplatz nun in einem offenen Brief, der der
       taz vorliegt. „Es grassieren Jugend- und Drogenkriminalität, Vandalismus
       sowie gewalttätige Auseinandersetzungen. Kaum ein Tag vergeht mehr ohne
       Polizeieinsatz, bei den Anwohner:innen wächst die Angst.“
       
       Eine Anlaufstelle, die dafür sorgen will, den jungen Menschen eine
       Perspektive zu geben, ist das Kinder-, Jugend- und Kulturzentrum KM Antenne
       in der Friedrichstraße 2–3, Jugendclub und Musikschule in einem. Etwa 300
       Kinder und Jugendliche nutzen die Einrichtung täglich, kriegen Mittagessen,
       spielen, tanzen, rappen, machen Sport. Alles kostenlos. Offene Kinder- und
       Jugendarbeit, die „den Kiez zusammenhalten soll“, wie deren Mitarbeiterin
       Mareike Stanze bei einem Besuch vor Ort erzählt. Der Bedarf sei nach Corona
       und durch die Inflation noch einmal „deutlich gestiegen“. An der Fassade
       hängt ein großes Plakat: „Wann wird Jugendarbeit ausfinanziert?“
       
       Doch was die ebenso fröhliche wie resolute Frau auch sagt: „Das Haus steht
       kurz vor der Schließung. Wenn nichts gemacht wird, ist die Bude nächstens
       dicht.“ Neben ihr steht Matthias Klockenbusch vom Union Hilfswerk, der
       zusammen mit weiteren sozialen Trägern und Vereinen den anderen Teil des
       Hauses bespielt. Das F1, Friedrichstraße 1, ist ein Stadtteilzentrum mit
       Kantine, in der täglich Hunderte Mahlzeiten ausgegeben werden,
       Begegnungstreff, Garten und Beratungsangeboten. In einem Raum in der ersten
       Etage sitzen an diesem Dienstagmittag etwa 20 Frauen, viele mit Kopftuch,
       bei ihrem wöchentlichen Frauentreff.
       
       ## Es regnet rein
       
       Das ehemalige Kindergartengebäude erstreckt sich in einem Teil auf zwei, im
       anderen auf drei Etagen. 3.500 Quadratmeter als Zentrum eines abgehängten
       Kiezes. Doch das Haus ist in einem bemitleidenswerten Zustand. Draußen
       bröckelt die Fassade, drinnen gibt es gesperrte Toiletten, Räume mit
       Wasserschäden, teilweise Schimmel. „Rohre, Elektrizität, Brandschutz –
       alles muss gemacht werden“, sagt Klockenbusch.
       
       Die großen, eigentlich begehbaren Flachdächer sind für Besucher:innen
       geschlossen und undicht. „Wenn es regnet, stehen hier im Flur überall
       Eimer“, sagt Stanze. Aufgrund mangelhaften Brandschutzes dürfen sich nur
       noch sieben Personen gleichzeitig in der obersten Etage des Jugendclubs
       aufhalten.
       
       Dem Bezirk, dem das Haus gehört, ist die Situation bekannt, seit Langem,
       doch genauso lange ist nichts passiert. Inzwischen beläuft sich der Bedarf
       für eine umfassende Sanierung auf 22 Millionen Euro, weit mehr, als
       Friedrichshain-.Kreuzberg alleine stemmen könnte. Damit die so notwendige
       Arbeit weitergehen kann, soll zeitnah das Nötigste instandgesetzt werden,
       Bauplanunterlagen lägen vor. Der Bedarf dafür: 1,5 Millionen Euro. Ein
       Drittel davon hat der Bezirk zusammen, erzählt Stanze, wo der Rest
       herkommen soll, ist unklar. Die ausgerufene Sparrunde des Senats verstärkt
       bei ihr die Sorgen, dass es nicht gelingt.
       
       ## Bezirk verschiebt Beginn der Arbeiten
       
       Ein Rückschlag kam noch am Dienstag: Der Bezirk teilte in einer Mail mit,
       „dass der geplante Baubeginn am 30. 9. 2024 nicht mehr eingehalten werden
       kann, weil die Bauplanungsunterlage noch nicht abschließend geprüft und
       bestätigt ist“. Baubeginn soll nun Anfang des nächsten Jahres sein – wenn
       sich denn Geld findet: „Allerdings ist auch diese Planung weiterhin als
       vorläufig zu betrachten, da die Finanzierung erst zum Teil gesichert ist.“
       Der offene Brief hatte dagegen gerade noch gefordert: „Kein Aufschieben
       mehr! Sofortige Einleitung der Sanierungsmaßnahmen, bevor noch ein größerer
       Schaden entsteht – am Gebäude und in der sozialen Struktur des Gebiets!“
       
       Tatsächlich sind die Probleme viel größer als das Haus. Laut Stanze
       verliere die benachbarte Galilei-Grundschule aufgrund eines
       englischsprachigen Zweigs, der Kinder aus ganz Berlin anziehe, bald ihre
       Förderung des [3][Startchancenprogramms], da dadurch die Quote der Kinder
       aus dem Kiez mit besonderen Bedarfen sinke. Eine weitere Grundschule werde
       seit 14 Jahren saniert. Durch Neubauprojekte kommen zukünftig wohl noch
       weitere Tausende neue Bewohner:innen in dem dicht besiedelten Gebiet
       hinzu. Stanze sagt: „Wenn man sämtliche öffentliche Einrichtungen derart
       verfallen lässt, hat man ein ernsthaftes Problem.“
       
       Wie das aussehen kann, zeigte sich vor zwei Wochen bei einer
       Auseinandersetzung zwischen Jugendlichen und dem Besitzer des Fahrradladens
       gegenüber der Sozialeinrichtung. Die Kids hätten wohl einfach aus
       Langeweile mit einem Ball gegen die Scheiben der Geschäfte geschossen,
       erzählt der Ladenbesitzer. Als die Lage eskaliert und die Polizei anrückt,
       verschwinden die meisten.
       
       Einige bleiben vor Ort, darunter Gerry. Er selbst bezeichnet sich als der
       „Anwalt“ seiner Gang, gibt Tipps im Umgang mit der Polizei und rät von
       aggressivem Verhalten ab. Das erzeuge nämlich noch mehr Verdacht. „Ganz
       ehrlich, wir machen all diesen Blödsinn nicht, weil uns nur langweilig ist.
       Wir wollen natürlich provozieren. Wir wollen Aufmerksamkeit und wir wollen,
       dass sich auch hier was endlich verändert. Kein Jugendclub bedeutet für
       uns, auf der Straße oder eben auf dem Platz abhängen“, sagt Gerry.
       
       Einen Lichtblick für das Viertel gibt es aber doch. Gegenüber des
       geschlossenen Edeka haben die Arbeiten in einem leerstehenden Geschäft
       begonnen. Bald soll hier ein türkischer Supermarkt eröffnen.
       
       Mitarbeit: Derya Türkmen
       
       25 Jun 2024
       
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