# taz.de -- Studieren im Westjordanland: Der schwere Weg zur Universität
       
       > Wer in Nablus im Westjordanland studieren will, muss auf dem Weg zur
       > Universität oft Checkpoints passieren. Die reagiert mit Onlineangeboten.
       
 (IMG) Bild: „Wenn die Checkpoints geschlossen sind, kann ich nicht zum Unterricht.“ Student Ezz aus Burin
       
       NABLUS/BURIN taz | Wenn Ezz auf der Terrasse seines Hauses sitzt und
       schwarzen Kaffee aus einer kleinen goldverzierten Tasse trinkt, blickt er
       über einen gepflegten Garten mit Obst- und Olivenbäumen hinweg auf einen
       Hügel. Straßen winden sich im Zickzack hinauf, auf dem Gipfel ziehen sich
       Stromleitungen entlang und ein paar niedrige Häuser. Luftlinie trennen nur
       wenige Hundert Meter das Zuhause von Ezz [1][im Dorf Burin nahe Nablus im
       nördlichen Westjordanland], von den Häusern auf dem Hügel. Besucht hat er
       sie noch nie. Denn auf dem Hügel liegt ein israelischer Außenposten, und
       direkt daneben die Siedlung Har Brakha. Ezz wohnt im Tal, und damit in
       einer ganz anderen Welt als seine Nachbarn auf dem Hügel.
       
       Während eine Straße, die auf beschlagnahmtem Land liegt, die Siedler
       komfortabel mit der Autobahn Richtung Jerusalem bringt, kann Ezz an manchen
       Tagen sein Dorf kaum verlassen. Die Straße, die aus Burin zur Autobahn
       führt, ist seit Oktober nicht mehr passierbar. Geröll und Steine versperren
       den Weg, das Militär hat sie dort platziert. Die Umgehungsstraße entlang
       der Hügel und Dörfer dauert deutlich länger. Wer in der Siedlung aufwächst
       und auf eine Universität gehen möchte, zieht nach Tel Aviv oder in eine der
       anderen Universitätsstädte Israels – oder pendelt bequem über die
       Schnellstraße dorthin.
       
       Ezz, der nur seinen Vornamen gedruckt sehen möchte, ist 20 Jahre alt und
       studiert Informatik an der Universität An-Naja in Nablus. Die Uni hat einen
       guten Ruf, liegt auf den vorderen Plätzen vieler Ranglisten der über ein
       Dutzend Hochschulen im Westjordanland. Von Burin bis zum Campus beträgt die
       Autostrecke etwa 9 Kilometer. Ezz lebt weiter daheim – ein Zimmer in Nablus
       ist teuer. Normalerweise fahre er unter der Woche fast täglich nach Nablus,
       erzählt er, und besuche dort seine Seminare. Doch seit dem 7. Oktober wird
       das Pendeln immer schwieriger. [2][So geht es gerade vielen Studierenden].
       
       Nablus hat einen Ruf: Die über 150.000 Einwohner zählende Stadt ist berühmt
       für Knafeh, eine Süßspeise aus Teigplatten, geschmolzenem Käse und süßem
       Zuckersirup, für die kleine Minderheit der Samariter, für seine historische
       Altstadt. Und für die Miliz, die sich „Höhle des Löwen“ nennt und in
       ebenjener Altstadt ihren Hauptsitz haben soll. Die Bilder junger Männer in
       schwarzen Shirts, mit modernen Sturmgewehren in den Händen und schwarzer
       Stirnbinde zieren dort den gelben Stein des alten Marktes. Zwischen
       Gewürzständen und Shops mit günstigen Jeans aus der Türkei stehen immer
       wieder junge Männer und Jugendliche. Sie wirken, als würden sie Ausschau
       halten.
       
       ## „Dann kann ich nicht zum Unterricht“
       
       Es ist auch diese Gruppe, deretwegen Israel Nablus mit Checkpoints und
       orange Metallbügeln – ein Gitter, das geschlossen die Straße blockiert –
       umzingelt hat. Ohne die Checkpoints bräuchte er zehn, fünfzehn Minuten mit
       dem Auto zur Universität, sagt Ezz. Mit dem Checkpoint sei es mindestens
       eine Stunde. Und wenn die Straße ganz geschlossen ist? Ezz zuckt mit den
       Schultern: „Dann kann ich nicht zum Unterricht.“
       
       Im Jahr 2022 tauchte die Miliz „Höhle des Löwen“ zum ersten Mal auf und hat
       seitdem deutlich an Beliebtheit gewonnen, [3][gerade unter jungen
       Menschen]. Die seit Jahrzehnten anhaltende Besetzung des Westjordanlands,
       die vielen den Alltag erschwerenden Checkpoints und die so nah an Nablus
       herangerückten israelischen Siedlungen geben militanten Gruppen wie der
       Miliz „Höhle der Löwen“ Auftrieb. Vor allem im nördlichen Westjordanland,
       wo militante Gruppen mehr Rückhalt genießen als in der De-facto-Hauptstadt
       Ramallah, stoßen das israelische Militär und die Milizen immer wieder
       brutal zusammen. Checkpoints und Straßensperren gibt es überall im
       Westjordanland – doch gerade um Nablus häufen sie sich.
       
       Die Stadt wurde wiederholt – vor allem seit 2022 – vom israelischen Militär
       abgeriegelt. Etwa im Winter 2022, als drei Wochen lang die Checkpoints an
       den Straßen, die in die Stadt hineinführen, geschlossen blieben. Oder nach
       dem 7. Oktober 2023.
       
       Wer auf einer der Hauptstraßen nach Nablus hineinfährt, passiert die
       orangefarbenen Metallbügel. An der schmalen Straße, die von Nablus in Ezz’
       Heimatdorf Burin führt, gibt es diese nicht, sondern einen Checkpoint des
       israelischen Militärs. Ein paar dienstschiebende Soldaten winken dort in
       voller Montur Auto um Auto durch. Manchmal sei der Checkpoint bemannt und
       manchmal nicht, sagt ein Mann, der ihn passieren möchte. An der Straße, die
       zum Checkpoint führt, hat jemand eine portable Toilette aufgestellt. An
       diesem Freitagmorgen – Wochenende im Westjordanland – ist der Stand, der an
       der Strecke Kaffee und Snacks verkauft, geschlossen. Manchmal, sagt der
       Mann, ziehe sich der Stau bis nach Nablus hinein. Deswegen die Toilette.
       
       ## Universität reagiert mit Onlineunterricht
       
       Es ist nicht nur Ezz, dem diese Checkpoints den Weg zum Studium erschweren.
       Die An-Najah-Universität hat darauf reagiert und setzt deswegen auf
       Onlineunterricht. Saida Affouneh ist Dekanin der Fakultät für
       Bildungswissenschaften und Begründerin des E-Learning-Centers an der
       Universität. Die Checkpoints begleiteten alle Palästinenser, in jedem
       Bereich ihres Alltags, erzählt sie mit sanfter Stimme. Ihre Tochter arbeite
       heute in den Emiraten. Zu Beginn, als sie mit ihren Freunden dort einmal
       weiter draußen etwas unternehmen wollte, habe sie vor Aufbruch gefragt: Hat
       jemand geprüft, ob auf dem Weg ein Checkpoint liegt? Affouneh lächelt. „Sie
       wussten nicht, wovon meine Tochter spricht. Doch für uns ist das die
       Normalität.“
       
       Nablus werde immer wieder abgeriegelt, erklärt Affouneh. „Die Stadt steht
       unter Belagerung, wird beschossen. Das geht schon mein ganzes Leben so.“
       Manchmal wache sie um vier Uhr morgens auf, weil es wieder eine Razzia des
       israelischen Militärs in Nablus gibt. „Und dann überlegen wir: Schließen
       wir die Universität für einen Tag? Und dann tun wir das.“ Denn wenn es über
       Nacht eine Razzia gab, sind am nächsten Morgen meist die Wege nach Nablus
       vom israelischen Militär versperrt. „Strategische Planung“, nennt Affouneh
       das.
       
       „Während der Coronapandemie hatten wir einen Heimvorteil“, sagt sie. Seit
       2012 gibt es das E-Learning-Center der Universität als Reaktion auf die
       Straßensperren und Checkpoints, so Affouneh. Während der Pandemie habe die
       Uni einfach auf das vorhandene Online-Learning-System umgestellt und andere
       Universitäten dabei unterstützt. Auch jetzt, wo nach dem 7. Oktober wieder
       mehr Straßensperren eingerichtet worden sind, setzt die
       An-Najah-Universität wieder auf dieses Instrument. An zwei Tagen pro Woche
       habe er Onlinekurse, berichtet Ezz. Und er gibt zu: Das mit der
       Konzentration, wenn man nur auf einen Bildschirm starre, sei nicht so
       einfach.
       
       ## Hilfe für Studierende in Gaza
       
       E-Learning sei keine Dauerlösung, findet auch Affouneh. Die Studierenden
       und Lehrenden interagierten zu wenig miteinander. Mit ihrem
       E-Learning-Programm versucht Affouneh zudem, Studierenden in Gaza zu
       helfen. „Sie können als Gasthörer Kurse bei uns besuchen“, sagt sie.
       [4][Denn viele Universitäten in Gaza sind schwer beschädigt, der Betrieb
       ist eingestellt, die Studierenden sind geflohen]. Weil das Internet in Gaza
       oft schlecht oder gar nicht funktioniert, arbeitet Affouneh nun daran, den
       Gasthörenden zuvor aufgezeichnete Kurse zur Verfügung zu stellen, die sie
       bei funktionierendem Internet herunterladen können.
       
       Für Studierende aus dem Westjordanland, die für praktische Kurse zum Campus
       in Nablus kommen müssen, versuche sie Unterkünfte in der Stadt zu finden.
       „Ich liebe das Sozialleben, das die Studierenden miteinander haben“, sagt
       Affouneh. „Das lässt sich nicht durch Onlinekurse ersetzen.“ Und weil so
       viele junge Menschen – 25.000 sind es in etwa – an der An-Najah-Universität
       studierten, lasse sich auch am Stadtbild, an den Restaurants und Cafés von
       Nablus erkennen, ob die Hochschule gerade geschlossen sei.
       
       Am Abend blüht im Sommer das Leben in Nablus auf. Tagsüber ist es heiß und
       trocken, viele Bewohnerinnen und Bewohner präferieren die klimatisierten
       Räume ihrer Häuser und Büros. Doch wenn es nach Sonnenuntergang kühler
       wird, sind die Restaurants und Parks voll. Gruppen junger Mädchen im
       Studierendenalter teilen sich Shishas, Pärchen spazieren unter den Bäumen,
       junge Männer fahren mit lauter Musik und röhrendem Motor durch die Stadt.
       
       Vor allem wenn er abends oder am Nachmittag mit seinen Freunden unterwegs
       sei, bleibe er gerne über Nacht in Nablus, sagt Ezz. Denn wolle er wieder
       zurückfahren nach Burin, habe er dasselbe Problem wie auf dem Weg in die
       Stadt hinein: Der Checkpoint sei in beide Richtungen besetzt.
       
       10 Jul 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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