# taz.de -- Gedenken an Tiananmen-Massaker: Dem Schweigen besser zuhören
       
       > Der Soziologe Bin Xu sprach in Berlin über Erinnerung an das
       > Tiananmen-Massaker in China – und erzählte, was Taylor-Swift-T-Shirts
       > damit zu tun haben.
       
 (IMG) Bild: Ein Mann steht vor einem Panzerkonvoi: Ikone vom Tiananmen Platz, 5. Juni 1989
       
       Über 20 Jahre sollte die Odyssee andauern, die [1][der chinesische
       Schriftsteller Liao Yiwu] als Strafe für ein Gedicht antreten musste. Im
       Juni 1989, kurz nach der gewaltsamen Niederschlagung der
       Studierendenproteste auf dem Tiananmen-Platz in Peking, nahm Yiwu das
       Protestgedicht „Massaker“ auf Tonband auf. Im chinesischen Untergrund
       verbreitet, wurde das Gedicht auch von einem ausländischen Radiosender
       ausgestrahlt. Es folgten Folter, Gefängnis und Repression, bis Yiwu 2011
       schließlich nach Deutschland fliehen konnte.
       
       Über das Massaker selbst wird in China nicht gesprochen, auch online weist
       nichts auf die schätzungsweise mehreren tausend Todesopfer hin. Nur in
       Hongkong wurde bis 2019 jedes Jahr an den 4. Juni 1989 erinnert, bis die
       chinesische Regierung auch das unterband. Tiananmen, so die oft gestellte
       Ferndiagnose, ist 35 Jahre später in China in Vergessenheit geraten. Um
       dieses vermeintliche Vergessen geht es dem Soziologen Bin Xu, der an der
       Emory University in Atlanta (USA) lehrt und aktuell als Fellow des
       Wissenschaftskollegs zu Berlin in der deutschen Hauptstadt weilt.
       
       Jemanden des Vergessens zu bezichtigen impliziere moralisches Versagen,
       gilt das Erinnern doch gemeinhin als Bürgerpflicht, sagt Xu in einem
       Vortrag in den Räumen des Wissenschaftskollegs in Berlin am Mittwochabend.
       Er plädiert dafür, stattdessen dem Schweigen genauer zuzuhören.
       
       Der Soziologe nennt Fälle eigentümlicher Blaupausen, in denen sich die
       Erinnerung an das Massaker offenbart. Etwa, als plötzlich zahlreiche ältere
       Menschen in China zu Fans von Taylor Swift und ihrem Album „1989“ wurden
       und T-Shirts mit ihren Initialen kauften, die sich auch gut als „Tiananmen
       Square“ lesen ließen.
       
       ## Schweigen der Behörden weckt die Neugier
       
       Immer wieder kursieren Memes im streng kontrollierten chinesischen
       Internet, die das berühmte Foto des „Tank Man“, der sich 1989 unbewaffnet
       den Panzern entgegenstellte, abwandeln. Dass es mit dem 4. Juni eine
       besondere Bewandtnis hat, ahnt auch, wer an diesem Tag online ein Ticket
       für den Besuch des Tiananmen-Platzes buchen will: Das ist alljährlich zu
       dem Zeitpunkt nicht möglich.
       
       Für Wirbel sorgte zudem die Affäre um den Beauty-Influencer Li Jiaqi. Der
       fertigte in einem Video kurz vor dem Jahrestag des Massakers vor zwei
       Jahren einen „niedlichen Panzer“ aus Keksen und Eis. Die chinesischen
       Behörden reagierten, indem sie [2][seine Social-Media-Accounts sperrten.]
       Die Neugier von Millionen von Jugendlichen sei daraufhin geweckt worden,
       die von Tiananmen noch nie gehört hatten, erzählt Xu.
       
       Überhaupt sei es falsch, die chinesische Jugend als unpolitisch abzutun,
       sagt Xu und erinnert an das „White Paper Movement“, das als Reaktion auf
       die drakonischen Coronamaßnahmen entstand. Vorwiegend junge Menschen hatten
       gegen die Zensur protestiert, indem sie ein leeres Blatt Papier
       hochhielten.
       
       Erstaunlich viele der Protestierenden, sagt der Soziologieprofessor, hätten
       zuvor im Ausland studiert. Xu, der in Berlin zur weltweiten Aufarbeitung
       der Coronazeit forscht, weist auf die Kraft hin, die in der Stille stecken
       kann, so sie selbst zur Botschaft wird. Menschen, die heute schwiegen,
       könnten morgen die Triebkräfte des Wandels sein, hofft er.
       
       27 Jun 2024
       
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