# taz.de -- An der Front bei Charkiw: Gleitbomben auf Lypzi
       
       > Nur zwei Kilometer hinter dem Dorf Lypzi liegt die Frontlinie. Unser
       > Autor hat dort einen Polizisten begleitet, der die letzten Bewohner
       > retten will.
       
 (IMG) Bild: Polizist Viktor Jena (links) und seine Kollegen wollen die letzten 17 Bewohner aus dem Dorf Lypzi bei Charkiw evakuieren
       
       LYPZI taz | Er gilt als einer der gefährlichsten Orte im ganzen Charkiwer
       Gebiet: der kleine Ort Lypzi. Nur zwei Kilometer vom Ort entfernt verläuft
       die Frontlinie. Und bis ins zwanzig Kilometer weiter südlich gelegene
       Charkiw hinein hört man jeden Tag die anhaltenden Kämpfe und die
       Explosionen der schweren Bomben, die russische Flugzeuge über dem Dorf
       abwerfen.
       
       Nach Lypzi zu kommen, ist fast unmöglich. Denn russische Drohnen,
       Artillerie, Flugzeuge und Mörser gefährden jeden, der sich auch nur in die
       Nähe des Ortes wagt. Doch einige wenige Menschen fahren dennoch nach Lypzi.
       Einer von ihnen ist Viktor Jena, Leiter der örtlichen Polizeistation und
       Fahrer des gepanzerten Kleinbusses, mit dem auch der taz-Reporter mitfahren
       kann.
       
       „Keine Angst, wir haben unsere eigene elektronische Kampfausstattung“,
       scherzt Jena vor der Abfahrt und zeigt auf eine große Ikone des heiligen
       Nikolaus, dem Wundertäter, hinter der Windschutzscheibe. Die Stimmung im
       Bus ist angespannt. Dazu kommt eine Innentemperatur von fast 50 Grad – die
       Klimaanlage ist schon lange kaputt. Selbst die Fotoausrüstung gibt bei
       solchen Temperaturen den Geist auf.
       
       Viktor Jena stammt aus Lypzi, bereits nach 2014 hat er auf ukrainischer
       Seite gekämpft. Kurz nach Beginn des russischen Großangriffs, im Frühling
       2022, brachte er Waffen aus der Polizeistation Lypzi nach Charkiw. Direkt
       nach seiner Abfahrt rollten die russischen Panzer ins Dorf und schnitten es
       quasi von der Außenwelt ab. Jenas Frau, die Kinder und ihre Eltern blieben
       im besetzten Lypzi, Jena konnte nicht mehr zu ihnen zurück. „Das war
       wirklich die schwerste Zeit“, erinnert sich der Polizist. Später gelang es
       seiner Familie, über russisches Staatsgebiet nach Westeuropa auszureisen.
       
       Im Zuge der zweiten russischen Offensive im Gebiet Charkiw im Mai 2024
       haben russische Militärs dann auch Jenas Haus zerstört. Aber trotz allem
       fährt der Polizist noch immer fast täglich nach Lypzi, weil er hofft, die
       letzten siebzehn Dorfbewohner zur Evakuierung zu überreden. Er kennt sie
       alle persönlich.
       
       Jena meint, dass die russische Armee die Anhöhen bei Lypzi einnehmen will,
       [1][um von dort Charkiw besser mit Artillerie beschießen zu können].
       Außerdem werfen die russischen Streitkräfte schwere Fliegerbomben auf Lypzi
       ab, erzählt der Polizist. So wurde das zivile Krankenhaus des Ortes zum
       Beispiel von einer FAB-1000-Gleitbombe getroffen. Die Russen übten an den
       Hochhäusern von Lypzi wohl das gezielte Abwerfen schwerer Bomben, so Jena.
       Auch die Petro-Schschepkin-Schule, ein historisches Gebäude von 1936, wurde
       durch zwei Gleitbomben zerstört. Die Schule hat den Zweiten Weltkrieg und
       wechselnde Besatzungen überstanden. Russlands „Krieg gegen die Nato“ und
       [2][Putins „Deeskalation“] konnte sie nicht standhalten.
       
       ## „Testgelände“ der russischen Armee
       
       Die Gleitbomben, mit denen die russische Armee das Gebiet Charkiw
       beschießt, haben den Kämpfen in der Ostukraine eine neue Wendung gegeben.
       Auch Wolodymyr Timoschko, Polizeipräsident von Charkiw sagt, dass die Stadt
       sowie die umliegenden Regionen offenbar zu einem Testgelände für die
       russischen Streitkräfte geworden seien. Die russischen Piloten lernen neue
       Bombardierungs- und Zieltechniken, russische Ingenieure entwickeln neue
       Systeme, um noch schwerere Gleitbomben über noch größere Distanzen zu
       befördern.
       
       Derzeit werden neue UMPKs getestet, also Rüstsätze, um ungelenkte
       Freifallbomben wie die FAB-1000 und FAB-1500 in präzisionsgelenkte
       Gleitbomben zu konvertieren. Schon jetzt könne eine FAB-1500 40 Kilometer
       weit fliegen, sagt der Leiter der regionalen Staatsanwaltschaft von
       Charkiw, Oleksandr Filtschakow. Sobald diese Bomben mehr als 60 Kilometer
       fliegen können, ist Charkiw so gefährdet wie noch nie zuvor. Das einzige,
       was dies verhindern könnte, wäre die Erlaubnis westlicher Staaten, mit
       westlichen Raketen russische Militärflugplätze zu beschießen, auf denen die
       Bomben gelagert werden und wo die Flugzeuge stehen, mit deren Hilfe sie
       abgeschossen werden.
       
       ## Traumatisierte Zivilisten, die nicht fort wollen
       
       Kurz bevor wir mit dem Polizeibus nach Lypzi kommen, war eine der wenigen
       Bewohnerinnen des Dorfes in einen Bombenangriff geraten. Ihr Haus wurde
       fast vollständig zerstört, die Frau selber verletzt. Ein Rettungswagen kann
       den Ort nicht mehr anfahren, aber die Frau weigert sich trotzdem
       kategorisch, in den Polizeibus einzusteigen. „Die Menschen hier an der
       Frontlinie sind alle traumatisiert, sie verstehen nicht mehr so richtig,
       was um sie herum passiert“, sagt Jena.
       
       Eine andere Dorfbewohnerin, die 81-jährige Tante Nina, die ihr ganzes Leben
       in Lypzi verbracht hat, weiß nicht einmal, dass der Dorfkern durch
       russische Flugbomben zerstört wurde. Sie lebt mit ihrem Sohn zusammen, der
       eine Behinderung hat, und [3][will ihr Zuhause nicht verlassen]. „Tante
       Nina, wollen Sie nicht mitfahren?“ „Nein, Kinder, ich möchte nirgendwo hin,
       Gott bewahre.“ „Tante Nina, sollen wir Ihren Sohn mitnehmen, damit er
       behandelt werden kann?“ „Er will nirgends hin, er hat doch diese
       Rückenprobleme. Und ich kann ihn nicht alleine lassen.“
       
       Das Gespräch mit Tante Nina wird durch zwei über das Dorf fliegende
       Gleitbomben unterbrochen. „Früher war das irgendwie weiter weg und leiser.
       Ich habe den Gemüsegarten bestellt, Kartoffeln gesetzt. Und als das mit
       diesen Flügen losging, begann das Haus zu tanzen. Vier Nächte lang habe ich
       draußen geschlafen. Mein kleines Haus ist zwar stabil. Aber draußen ist es
       sicherer, und der Himmel fällt einem nicht auf den Kopf“, sagt die alte
       Frau. Mit Gewalt kann die Polizei die letzten Einwohner nicht mitnehmen,
       das wäre gegen geltendes Gesetz. Die Männer lassen Tante Nina Medikamente
       für ihr Herz und gegen den hohen Blutdruck da.
       
       ## Seit zwei Monaten ohne Versorgungsmöglichkeiten
       
       Später fahren sie noch eine zweite Adresse am Ortsrand an. Dort treffen sie
       auf einen betrunkenen Mann mittleren Alters. Er war im benachbarten Wald
       durch Maschinengewehrfeuer so verängstigt worden, dass er sich zum
       Mitkommen bereit erklärt. Woher er den Alkohol hatte, kann niemand sagen.
       Schon seit zwei Monaten gibt es keinerlei Versorgung mehr in dem Ort.
       „Sechzehn Menschen sind jetzt noch in Lypzi. Also müssen wir wieder hin“,
       sagt Polizist Jena.
       
       Die Frontlinie ist so nah, dass es in und um das kleine Lypzi herum
       keinerlei Sicherheit mehr gibt. Aus den Wälder hört man
       Maschinengewehrsalven. Am Polizeibus von Viktor Jena geht auf der Rückfahrt
       nach Charkiw eins der Hinterräder kaputt, vermutlich durch ein Schrapnell.
       Das Fahrzeug schafft nur noch 20 Stundenkilometer. Am folgenden Tag gerät
       der gepanzerte Polizeibus unter Granatbeschuss. Alle Insassen überleben.
       
       Aus dem Russischen: [4][Gaby Coldewey]
       
       18 Jul 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Juri Larin
       
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