# taz.de -- Prozess gegen Klima-Aktivist*innen: Zweierlei Maß bei Nötigung
       
       > Vor dem Amtsgericht Achim müssen sich Klimaaktivisten wegen schwerer
       > Nötigung rechtfertigen. Eine ähnliche Anklage in Bremen wurde nicht
       > zugelassen.
       
 (IMG) Bild: Zur Verkehrsministerkonferenz 2021 haben Aktivist*innen Autobahnschilder neu beklebt. In Achim sieht man darin Nötigung
       
       BREMEN taz | Manchmal kommt es auf Kleinigkeiten an: Ob man die beim Lotto
       die Neun angegeben hat oder die Elf, ob man über Rot gefahren ist oder
       gerade noch über Dunkelgrün, ob man sich beim Klimaprotest über der
       Airbus-Allee vorm Bremer Flughafen abgeseilt hat oder über der A27 bei
       Achim. Beim Abseilen in Bremen folgt: nix. In Achim hingegen stehen zwei
       Klimaaktivist*innen nun wegen Nötigung vorm Amtsgericht.
       
       Nötigung, um genau zu sein, sogar Nötigung im besonders schweren Fall.
       Sechs Monate bis fünf Jahre Haft drohen darauf. Der Vorfall, der verhandelt
       werden soll, ist nun bereits gut drei Jahre her. Im [1][April 2021,
       anlässlich der Verkehrsministerkonferenz] in Bremen, sollen sich die
       Verkehrswendeaktivist*innen von der Autobahnbrücke abgeseilt und
       Transparente angebracht haben, „in der Aufmachung eines Autobahnschildes“,
       liest der Staatsanwalt vor. „.Weiter so! Immer weiter Richtung
       Klimawandel!“ habe darauf gestanden.
       
       Die Vorwürfe, die die Staatsanwaltschaft aufzählt: Gemeinschaftlich
       handelnd in abgeschlossene Räume eingedrungen zu sein; rechtswidrig
       Gegenstände zum öffentlichen Gebrauch zerstört zu haben; Tausende Menschen
       menschenrechtswidrig genötigt zu haben. Oder, konkret gefasst:
       Aktivist*innen hätten eine abgesperrte Schilderbrücke an der Autobahn
       betreten; das Autobahnschild sei durch Klebeband beschädigt worden; und als
       sie von der Brücke geholt wurden, da gab es einen Stau. Einen
       menschenrechtswidrigen.
       
       Der Vorwurf der schweren Nötigung erfordert für gewöhnlich den
       bedenkenlosen Einsatz physischer Gewalt. Das Strafgesetzbuch nennt zwei
       Beispiele für besonders schwere Fälle: Eine Schwangere zum
       Schwangerschaftsabbruch nötigen und Nötigung durch Amtsmissbrauch. „Dass
       die Aktion an der A27 damit verglichen wird, das ist“, der Angeklagte Ruben
       G. sucht nach Worten, „widerlich“, ruft ein Zuschauer im Prozess.
       
       ## Nötigung oder Wahrnehmen von Grundrechten
       
       Der Vorwurf der Nötigung wurde nach der Verkehrsministerkonferenz auch von
       der Staatsanwaltschaft Bremen für die ähnlich gelagerten Aktionen auf
       Bremer Landesgebiet erhoben – der damit begründete Antrag auf eine
       Hausdurchsuchung wurde aber sowohl vom Amts-, als auch in zweiter Instanz
       vom Landgericht abgelehnt. Dem Ziel der Aktion – auf die Notwendigkeit des
       Klimaschutzes hinzuweisen, stünde als „existenzielle Frage der
       Allgemeinheit“ größeres Gewicht zu als Eigeninteressen – hier also den
       Eigeninteressen der Autofahrer.
       
       „Eigentlich wird bei jeder Versammlung jemand genötigt“, findet auch Tabea
       M., die heute in Achim angeklagt ist. „Wer das anklagt, untergräbt
       wesentliche Freiheitsrechte.“ Schließlich schreibe das [2][Grundrecht auf
       Versammlungsfreiheit nicht vor, wo man sich versammeln] solle – in der
       Fußgängerzone, auf einer Autostraße oder auch auf einer etwas größeren
       Straße.
       
       M. und ihr Mitangeklagter stehen mit etwa zwanzig Unterstützer*innen
       vor der Tür des Amtsgerichts im Zentrum von Achim. Der Prozess verzögert
       sich, sodass sie die Möglichkeit haben, ihren Standpunkt zu erläutern.
       
       In ihrem Fall, sagt sie, sei der Vorwurf besonders absurd. „Es wurde ja
       überhaupt kein physisches Gewaltmittel angewandt“, sagt M.. Nicht einmal
       den Stau hätten die Aktivist*innen bei der fraglichen Aktion selbst
       verursacht – „den gab es nur durch die Polizeisperrung“.
       
       D[3][er Vorwurf der Nötigung wird dennoch gern i]n Prozessen gegen
       politische Aktivist*innen verwendet. Es ist schlicht schwierig, im
       Strafgesetzbuch andere mögliche Paragrafen gegen Aktionen zivilen
       Ungehorsams zu finden. „Es geht ihnen nicht wirklich um Strafparagrafen“,
       kritisiert der Angeklagte Ruben G., „sondern um eine moralische Ablehnung.“
       
       Einige ihrer Unterstützer*innen befinden sich auf einer Art
       Prozesstour durch Deutschland: Mittwoch war Lingen, Freitag folgt
       Flensburg.„Ich weiß, wie es sich anfühlt, vor Gericht zu stehen“, sagt
       Emma, die heute als Unterstützerin dabei ist. „Es hilft mir, meine Stimme
       zu finden, wenn ich weiß, dass Leute hinter mir stehen.“
       
       Deshalb sei es für sie selbstverständlich, dabei zu sein. „Das ist kein
       Spaß für uns, das ist einfach notwendig.“ Für manche ist derweil vielleicht
       auch ein bisschen Spaß dabei: Die Aktivistin Hannah Poddig erzählt gerade
       von ihren schönsten Prozessen, den derbsten Vorwürfen, den besten
       Verkleidungen. Im Gerichtssaal wird gescherzt und gelacht.
       
       ## Politische Prozessführung – mit Laienverteidigung
       
       Beide Angeklagten lassen sich von Laienverteidiger*innen vertreten.
       „Wir verteidigen uns gegenseitig“, erklärt Verteidigerin Salome. Jura hat
       sie mal studiert, wenn auch ohne zweites Staatsexamen. Laienverteidiger
       sorgten vor Gericht für eine andere Atmosphäre.
       
       Strafverteidiger wollten zumeist einen schnellen Prozess, drängten auf
       einen Vergleich, knieten sich nicht so rein. „Wenn es die Prozesse gegen
       uns schon gibt“, sagt Salome, dann wollen wir sie auch auf Augenhöhe
       führen. Wir führen sie politisch.“ So ein Prozess sei beides, sagt sie,
       [4][„Einschüchterung und Bühne] – die Frage ist, was wir draus machen“.
       
       Was das heißt? Ausschweifen, vor allem. Es geht um abgehackte Wälder und
       darum, wie grün Elektroautos sind, um Wirtschaftswachstum, um kranke
       Flüsse, fehlende Natur in Europa, um Nationalismus und abgeriegelte Grenzen
       gegenüber Geflüchteten – und viel um Prozessrechte, ein paar alberne Gags
       gibt es: „Nicht, dass das Gericht mich wegen Entziehung von elektrischer
       Energie anklagt.“
       
       Die Richterin ist ein bisschen genervt von dem Aktivismus, zeigt aber
       Humor. „Schade, dass wir heute nicht darüber sprechen!“, klagt Ruben G.,
       nachdem er die Nötigungen durch Feinstaub, Verkehrsunfälle und
       Umweltzerstörung beklagt hat. „Das wissen wir doch noch gar nicht“,
       entgegnet die Richterin. „Wir haben doch noch keinen einzigen Zeugen
       gehört. Wer weiß, zu was wir noch alles kommen.“ Der Prozess wird kommende
       Woche fortgesetzt.
       
       18 Jul 2024
       
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