# taz.de -- Nordsee oder Ostsee?: Ans Meer!
       
       > Von Hamburg aus kann man gleich an zwei Hausmeere fahren. Eine Art
       > Liebeserklärung an braunes Wasser, Schlick und tiefe Stille.
       
 (IMG) Bild: Manchmal ist die Nordsee, hier bei Sankt Peter-Ording, nur eine große Pfütze
       
       Wer in Norddeutschland geboren und aufgewachsen ist und in Hamburg lebt,
       hat, so aus dem Süden der Republik betrachtet, sein Leben an der [1][Küste]
       verbracht. Und auf eine Weise stimmt das auch, binnen einer Stunde kann
       man, wenn es gut läuft, auf einem Deich an der Nordsee sitzen oder am
       Ostseestrand im Sand rumliegen. Aber um es gleich am Anfang mal klar zu
       sagen: Alle beide Meere sind B-Ware, Aushilfskandidaten, zweite Wahl.
       
       Rätselhaft, wieso Menschen aus dem Süden Deutschlands Hunderte Kilometer
       hier hochfahren, wo sie doch auf der entgegengesetzten Seite dem Mittelmeer
       so nah sind – mit glitzerndem Wasser, mit Salz, das am Ende des Badetages
       jedes Härchen auf dem Unterarm umschließt, und mit lauschigen
       Sommerabenden, die erfüllt sind von zirpenden Grillen.
       
       ## Eine große Pfütze, die streng riecht
       
       Stattdessen fahren so viele Urlauber an die Nordsee, die nicht mal ein
       richtiges Meer ist, bloß ein Randmeer des Atlantiks. Ein Anhängsel. Eine
       große Pfütze, die oft etwas streng riecht und trüb an ihre rund Hunderte
       Kilometer lange deutsche Küstenlinie schwappt oder eben nicht schwappt,
       weil mal wieder gerade Ebbe ist. Wie oft schon den Deich hochgeflitzt,
       gleich, gleich endlich am Meer! [2][Und dann: Schlick, Schlick bis zum
       Horizont]. Bleibt nur, sich in einen der Nordseestrandkörbe zu setzen, die
       ordentlich aufgereiht auf dem mit Klee übersäten grünen Deich stehen.
       
       Es gibt tatsächlich Strandkörbe für die Nordsee und für die Ostsee, sie
       unterscheiden sich in ihrer Bauform. Das Modell Ostsee soll mit seinen
       geschwungenen Seitenteilen und der abgerundeten Haube an Dünen und Wellen
       erinnern. Ist eben etwas gefälliger, die Ostsee, mehr weiße Strände, klares
       Wasser und bisweilen Felsküste. Beim Nordseemodell ist alles von der Haube
       bis zu den Seitenteilen gerade und kantig, passend zur Rasenkante am
       Wattrand.
       
       Viele Urlauber fahren an die geschwungene Ostsee, an das Baltische Meer,
       wie sie international irreführend heißt. Die ist auch kein eigenständiges
       Meer, sondern nur ein Binnenmeer des Atlantiks. Von Hamburg aus ist die
       Ostsee nah, zum Timmendorfer Strand, so was wie Hamburgs Hausstrand, sind
       es keine 100 Kilometer. Lebt man hier oben, fährt man nämlich dauernd an
       eines der beiden Behelfsmeere. Alle Wege gen Norden, egal ob man sich links
       hält und an der Nordsee landet oder rechts zur Ostsee fährt, führen von
       Hamburg aus irgendwann an ein Meer. Das ist, was Hamburg so erträglich
       macht. Ist das Wasser nah, sind die Sorgen fern.
       
       Nach der Arbeit mal eben ins Auto und [3][nach Sankt Peter-Ording (SPO)
       fahren]? Kein Problem, die Fahrt über die A23 durch Schleswig-Holstein
       dauert gute 1,5 Stunden – mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ist es nicht
       mal eben so machbar, da dauert ein Weg drei oder vier Stunden.
       
       ## Das Meer ist weg
       
       Bis vor wenigen Jahren gab es in SPO Leute wie Frau Schebara, die für 20
       Euro die Nacht ein Zimmer bei sich zu Hause vermieteten. Da konnte man gut
       auch übers Wochenende am Meer bleiben. Heute heißen viele Hotels irgendwas
       mit Urban (englisch ausgesprochen), und eine Übernachtung für unter 100
       Euro die Nacht abzustauben ist schier unmöglich. Aber morgens hin und
       abends zurück und dazwischen einen lieben langen Tag am schier endlos
       breiten Sandstrand verbringen, das ist immer drin. Kann halt sein, dass das
       Meer weg ist. Wer in der Nordsee baden will, muss laufen oder warten
       können.
       
       Im vergangenen Jahr war SPO der beliebteste deutsche Nordsee-Ort und lag
       bundesweit auf dem fünften Rang der deutschen Lieblingsurlaubsziele. Sieger
       dieser Top-50-Liste sind die Seebäder Binz und Göhren auf Rügen geworden,
       gefolgt vom Seebad Heringsdorf auf der Insel Usedom und dem Ostseebad
       Dierhagen.
       
       Cuxhaven, das direkt an der Elbmündung an der Nordsee liegt, taucht in
       dieser Liste nicht auf, dabei liegt hier immerhin der nördlichste Punkt von
       Niedersachsen. Mit solchen Superlativen warten sie hier oben eh gern auf:
       Heide will den größten Marktplatz Deutschlands haben, wollen aber auch
       andere, und die offiziell „Tiefste Landstelle der Bundesrepublik
       Deutschland“ liegt mit 3,54 Metern unter Normalnull in der Wilstermarsch in
       Schleswig-Holstein.
       
       ## 30 Meter hohe Kugelbake
       
       Der nördlichste Punkt Niedersachsens jedenfalls ist nicht zu übersehen,
       weil dort die knapp 30 Meter hohe Kugelbake steht, einst wichtiges
       Seezeichen und heute bloß noch Wahrzeichen. Heute werden in Cuxhaven jedes
       Jahr knapp 7 Millionen Übernachtungen und 8 Millionen Tagesgäste gezählt,
       es ist das größte Heilbad an der deutschen Nordseeküste, ein Kurort also.
       
       In seiner allerersten Saison als Seebad, 1816 war das, kamen 295 Gäste ins
       damalige hamburgische Amt Ritzebüttel, um zu baden und durch das Watt zu
       laufen. Eher was für ein paar spinnerte Adelige und reiche Bürger. Wasser
       war vielen Leuten nicht geheuer, galt mit seinen Ausdünstungen gar als
       ungesund – nix da Reizklima oder Seeklima oder Kurort – und Natur als
       gefährlich. Baden in der wilden und freien Nordsee war absolut unbekanntes
       Terrain.
       
       In England waren Ende des 18. Jahrhunderts die ersten Seebäder entstanden,
       und der Göttinger Physikprofessor Georg Christoph Lichtenberg schlug 1793
       in einem Artikel vor, in Cuxhaven ebenfalls ein solches Bad zu gründen. Im
       selben Jahr ging in Heiligendamm an der Ostsee das erste deutsche Seebad in
       Betrieb – jenes Heiligendamm übrigens, in dem im Juni 2007 die G8-Staats-
       und -Regierungschefs [4][in einem riesigen blau-weiß gestreiften
       Strandkorb] fürs sogenannte Familienfoto Platz nahmen. Kanzlerin Angela
       Merkel in der Mitte, die Männer links und rechts von ihr.
       
       Es folgten Seebäder auf den ostfriesischen Inseln, etwa Norderney. Es war
       dann der Hamburger Senator Amandus Augustus Abendroth, der Lichtenbergs
       Idee 1816 umsetzte, eine Aktiengesellschaft gründete und so Cuxhavens
       erstes Badehaus finanzierte.
       
       Heute ist das Baden in der Nordsee so normal wie das Radfahren hinterm
       Deich und das allgegenwärtige vollgemoint werden an der gesamten deutschen
       Küste, egal ob Nord- oder Ostsee: Tassen, Regenschirme, T-Shirts und
       anderes Dies-und-das, auf denen Moin und/oder irgendwas mit Schietwetter
       steht. Moin hier, winkende Robben und Möwen da. Zum Auswachsen.
       
       ## Ein Anleger namens „Alte Liebe“
       
       Den Touristen gefällt das, in Cuxhaven hängen die den ganzen Tag oben
       [5][auf dem Anleger namens „Alte Liebe“] – kommt von „ole Leef“,
       niederdeutsch für „alte Liebe“ – ab, der hier seit 1733 steht, stützen sich
       mit den Ellenbogen auf das weiße Holzgeländer und gucken zu, wie die Elbe
       aus Hamburg angeflossen kommt und sich in die Nordsee ergießt. Im Rucksack
       haben die bestimmt alle eine Moin-Tasse. Oder unterm Windbreaker ein Shirt
       mit winkender Möwe, die Moin ruft. Das hat das Mittelmeer alles nicht
       nötig.
       
       Die Einheimischen in Cuxhaven sind allerdings eh immun, sie sitzen manchmal
       unter dem Anleger, kehren dem Meer den Rücken, trinken Dosenbier und gucken
       auf ihre Stadt. Vor allem Menschen aus dem Ruhrpott kommen nach Cuxhaven;
       den Hamburgern, die es mit etwa 120 Kilometern durchs Alte Land nicht
       besonders weit hätten, ist das Nordseeheilbad vielleicht zu zurückhaltend,
       sie fahren jedenfalls lieber auf die Nordseeinsel Sylt oder ins von ihnen
       selbst gentrifizierte SPO.
       
       Der Reiz des Seebades Cuxhaven liegt im Schlick, der sich hier dunkel,
       saftig und samtig zwischen die Zehen schiebt und da kleben bleibt. Wird
       gräulich, wenn es trocknet. Hat man mal keine oder die falschen Klamotten
       dabei, kann man sich mit Schlick einfach welche aufmalen. Kniehohe Stiefel
       mit Wellenrand, eine Latzhose, ein Bikinioberteil? Kein Problem, alles
       schnell aufgeschlickt. Oder Anlauf nehmen, auf den Bauch werfen und
       schliddern, dann auf den Rücken rollen und dem weiten Himmel beim Weitsein
       zuschauen. Geht allerdings schwer wieder ab, das Zeug.
       
       Das Problem mit schwer abgehendem Schlick gibt es überall an der
       Nordseeküste. Auch in Büsum, einer kleinen Gemeinde in Dithmarschen –
       oberhalb von Cuxhaven und unterhalb von SPO. Hier leben rund 5.000 Büsumer,
       aber gemessen an den Übernachtungszahlen ist Büsum nach Sankt Peter-Ording
       und Westerland der drittgrößte Fremdenverkehrsort an der
       schleswig-holsteinischen Nordseeküste.
       
       ## Schlick an den Waden
       
       „Du hast da noch Schlamm“, sagt der Mann, der in norddeutschen Ohren wie
       ein Markus Söder oder so klingt, zu seiner Begleiterin. Der Dritte im Bunde
       steht nur da und guckt zu. Die drei sind gerade aus dem Büsumer Watt
       zurückgekehrt, bis zur Mitte ihrer Waden ist der Schlick hochgespritzt, der
       Saum ihrer hochgekrempelten Hosen ist auch ein bisschen eingesaut.
       
       Hier in Büsum, wo das Watt fest, nicht so weich und glipschig wie in
       Cuxhaven ist, haben sie es geschafft, sich damit vollzusudeln. „Wo, wo
       denn?“, sagt sie und dreht sich vor dem Wasserhahn um die eigene Achse,
       beim Versuch, ihre Wade von hinten anzusehen. Das heißt nicht Schlamm,
       möchte man ihnen aus dem blau-weiß gestreiften Strandkorb Marke Nordsee
       zurufen.
       
       Wären die Touristen statt in Büsum in Cuxhaven, würde ihnen der
       Schlamm-Fauxpas nicht passieren, da könnten sie das korrekte Vokabular an
       den Waschstellen hinterm Deich lernen. Da steht an den Fußbecken „Hier kein
       Geschirr spülen“ und an den Duschen „Schlickdusche“. An den Büsumer Hähnen
       und Duschen steht nichts. Woher sollen sie es also wissen.
       
       In Büsum liegen auf dem Nordseegrund bei Ebbe in regelmäßigen Abständen
       Algenpuschel herum, deswegen mieft es, dazwischen überall die
       spaghettiartigen Ausscheidungen der Wattwürmer. Vielleicht bekommt ja auch
       jeder die Meere, die passend sind. Die beiden B-Seiten-Meere hier oben sind
       immerhin in erreichbarer Nähe.
       
       Folgt man dem ablaufenden Wasser, lässt man alles hinter sich. Die Welt
       wird leise, nur das Platschen der Füße in den Nordseewasserpfützen ist noch
       zu hören, selbst die Möwen verstummen. Was bleibt ist eine stille Kulisse
       und das Gefühl, auf dem Meer zu schweben. Wer braucht da schon das
       Mittelmeer.
       
       13 Jul 2024
       
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