# taz.de -- 60. Geburtstag von Judith Butler: Antigones Moralismus
       
       > Das „Unbehagen der Geschlechter“ hat sie weltberühmt gemacht. Doch die
       > Israelkritik der Philosophin wird der komplexen Wirklichkeit nicht
       > gerecht.
       
 (IMG) Bild: Hier steht sie nun, sie kann nicht anders: Butler bei einer Lecture in Fribourg, Schweiz.
       
       Judith Butler, die am 24. Februar ihren sechzigsten Geburtstag begeht,
       wirkt gelegentlich wie ein philosophischer Popstar, der begeisterte Säle
       füllt; Säle, die einer Denkerin und Polemikerin dafür danken, dass sie wie
       keine andere verhärtete heteronormative Ordnungen und starre
       Geschlechterrollen kritisiert hat.
       
       Gleichwohl: Butler, deren Auszeichnung mit dem renommierten Adorno-Preis
       der Stadt Frankfurt am Main im Jahr 2012 Gegenstand heftiger Polemik war,
       ist gar nicht anders zu verstehen denn als eine Philosophin, deren
       Ausgangspunkt die Philosophie des deutschen Idealismus ist.
       
       Als Kind einer Familie von Überlebenden aus Ungarn, die viele Angehörige im
       Holocaust verlor, aufgewachsen, genoss sie in Cleveland, Ohio, eine
       jüdische Erziehung, die sie schon im Alter von vierzehn Jahren drei
       entscheidende Fragen stellen ließ: „Warum wurde Spinoza aus der Synagoge
       exkommuniziert? Ist es denkbar, dass der deutsche Idealismus für den
       Nationalsozialismus verantwortlich ist? Sowie: „Wie soll man die
       existenziale Theologie einschließlich des Werks von Martin Buber
       verstehen?“
       
       Die Antwort auf diese Fragen entfalten sich in einem Lebenswerk, das sehr
       viel mehr enthält als lediglich die Kritik heteronormativer Ordnungen. So
       wird Butler nicht zuletzt als Feindin staatlicher Ordnung wahrgenommen,
       obwohl sie als politische Theoretikerin keineswegs eine grundsätzliche
       Feindin jener Form menschlichen Zusammenlebens, die als „Staat“ bezeichnet
       wird, ist, sondern „nur“ deren Kritikerin. Und zwar in jenem Sinn, der das
       griechische Wort „krinein“ ursprünglich bedeutet: zu unterscheiden.
       
       ## Kritik am Staat Israel
       
       Dabei fällt auf, wie stark Prägung und Einfluss der strukturalistischen und
       poststrukturalistischen Debatten auf ihre theoretische Entwicklung ist;
       Debatten, die bei Butler ihre eigentümliche Note dadurch erhalten, dass sie
       deren Annahmen in einer für diese Theorietradition ganz ungewohnten Weise
       mit den Ergebnissen der analytischen Philosophie, der Sprechakt- sowie der
       „Ordinary language“-Tradition verbindet.
       
       Ausgehend von Foucault, dessen These von der Herstellung von Subjektivität
       durch Macht sie grundsätzlich akzeptiert, über Althussers Theorie der
       ideologischen Staatsapparate ist Butler an einer Erkenntnis von
       Handlungsfeldern und -möglichkeiten interessiert, die – mit Walter Benjamin
       – auf eine universelle Einsetzung von Recht, das allerdings seinen Namen
       verdient, also von Gerechtigkeit, zielt.
       
       Dabei haben sich ihre Überlegungen, zumal in den letzten Jahren, der
       Dialektik von „Gouvernementalität“ und „Souveränität“ als einander
       wechselseitig verstärkenden Machtstrukturen zugewendet. Konkrete Gestalt
       nehmen ihre politischen Überlegungen jedoch nicht nur in ihrer Kritik der
       Ausgrenzung anderer als heteronormativer Formen des Begehrens an, sondern
       auch an ihrer Selbstidentifikation als Jüdin sowie ihrer Kritik am Staat
       Israel und dessen gewaltsamer, kolonialer Gründungsgeschichte. In diesen
       Schriften bezieht sich Butler auf Quellen jüdischer Ethik, ein Unterfangen,
       das zu einer ihrer letzten Publikation geführt hat: „Am Scheideweg.
       Judentum und die Kritik am Zionismus“.
       
       Das alles wird nur verständlich, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass sich
       Butlers Denken ursprünglich an der Auseinandersetzung mit Hegel und dessen
       Theorie des Staates gebildet hat. Nicht umsonst studierte sie in den späten
       1970er Jahren in Heidelberg Philosophie, um schließlich in den frühen
       1980er Jahren in Yale mit einer Arbeit über Hegels Begriff der Begierde zu
       promovieren.
       
       ## Für einen ewigen Boykott
       
       In der 2011 auf Englisch und auf Deutsch erschienenen Studie über das Drama
       „Antigone“ des Sophokles sowie dessen Deutung durch Hegel in den
       „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ setzt sich Butler zwar kritisch
       von Hegels Begriff der „Weiblichkeit“ und seiner Staatstheorie ab, votiert
       aber mit einem erstaunlich positiven Blick für das, was beim Hegel der
       „Rechtsphilosophie“ im weitesten Sinne „Familie“ im Unterschied zum „Staat“
       heißt.
       
       In ihren Überlegungen zu Sophokles’ Tragödie „Antigone“ entwirft Butler
       eine theoretische Hochschätzung von Verwandtschaft, die von der Autorin des
       „Unbehagens der Geschlechter“ nicht zu erwarten war. Einem Zitat ist etwas
       vorauszuschicken: Der von ihr verwendete Begriff der „Katachrese“ bedeutet
       hier „unstimmiger Zusammenhang von Metaphern“.
       
       So heißt es in Butlers „Antigones Verlangen“ aus dem Jahr 2001: „Wenn
       Verwandtschaft die Voraussetzung des Menschlichen ist, dann eröffnet sich
       mit Antigone ein neues Feld des Menschlichen, das erreicht wird durch die
       politische Katachrese, die sich ereignet, wenn diejenigen, die weniger als
       Menschen zählen, beginnen, als Menschen zu sprechen, wenn die
       Geschlechterzugehörigkeit verschoben wird und die Verwandtschaft an ihren
       eigenen begründenden Gesetzen zerbricht.“
       
       Dann aber wird klar, warum sich Judith Butler berufen wähnt, als Angehörige
       des jüdischen Volkes, einer Familie von Holocaustüberlebenden, in
       besonderer Weise den israelischen Staat – bis zur Forderung nach Boykott
       seiner Waren – zu kritisieren. Mehr noch: Tritt sie doch massiv dafür ein,
       sich bei Boykottmaßnahmen gegen Israel nicht auf Waren aus dem
       Westjordanland zu beschränken, sondern den Boykott aller israelischen Waren
       solange aufrechtzuerhalten, bis entweder das israelische Rückkehrgesetz
       aufgehoben oder ein Rückkehrrecht für Palästinenser anerkannt ist: also
       nie!
       
       ## Radikaler Moralismus
       
       Butlers an Antigone erinnernder radikaler Moralismus entspricht einer
       Blindheit gegenüber der Wirklichkeit. So stellte sie doch noch vor mehr als
       zwei Jahren in „Am Scheideweg“ eine empirische Hypothese auf, über deren
       Blauäugigkeit man sich angesichts des Kriegs in Syrien nur an den Kopf
       greifen kann: „Der Verlust der demografischen Überlegenheit der jüdischen
       Bevölkerung“, so die Philosophin, „würde mit Sicherheit die Aussichten für
       die Demokratie in dieser Region verbessern.“
       
       Zudem wäre Butler, die Staatskritikerin, zu fragen, warum sie, der es doch
       darum geht, die Legitimität der israelischen Staatsgründung zu
       dekonstruieren, übersehen hat, dass – nach rein moralischen Kriterien –
       ausnahmslos jede historische Staatsgründung, keineswegs nur die Israels,
       illegitim ist? Die Antwort findet sich bei ihrem Vorbild Antigone: Moral
       bewährt sich zuerst und vor allem in der Kritik des „eigenen“ familiären
       Zusammenhangs. Tatsächlich aber ist Butler nicht radikal genug: Die an die
       Wurzel gehende Frage nach einer Moral der Moral angesichts einer verwirrend
       komplexen politischen Wirklichkeit jedenfalls stellt sie nicht.
       
       Immerhin: Der Jerusalem Post gab sie 2012 folgende Auskunft: „Ich
       akzeptiere keinen Boykott, der Individuen aufgrund ihrer
       Staatsangehörigkeit diskriminiert, und ich arbeite eng mit vielen
       israelischen Wissenschaftlern zusammen.“ Judith Butler bleibt eine
       Kämpferin: Ihr jüngstes Buch, es erschien im November 2015 unter dem Titel
       „Notes Toward a Performative Theory of Assembly“, entwirft eine
       leibbezogene Theorie von Öffentlichkeit, in der sich Menschen selbst
       ermächtigen, die in prekäre Verhältnisse gezwungen sind – vom Arabischen
       Frühling bis Pegida.
       
       24 Feb 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Micha Brumlik
       
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