# taz.de -- Abschied vom 1,5-Grad-Ziel: Ein Bungee-Sprung ohne Garantie
       
       > Das 1,5-Grad-Ziel ist nicht mehr haltbar, sagt UN-Generalsekretär Antonio
       > Guterres. Und die Populisten? Sagen, dass alles nicht so schlimm ist.
       
 (IMG) Bild: Würdet ihr euch in die Tiefe stürzen, wenn die Überlebenschance bei nur 70 Prozent liegt?
       
       Meister Lao, der berühmte Philosoph Lao-Tse, hat es vor 1.500 Jahren so
       formuliert: „Nur wer sein Ziel kennt, findet den Weg.“ Blöd, wenn
       ausgerechnet der UN-Generalsekretär erklärt, dass das Klimaziel der Welt
       nicht mehr zu erreichen ist. Wie schließlich soll man dann den Weg finden?
       
       Für die internationale Klimapolitik war lange Zeit das Ziel, die
       Erderwärmung unter 2 Grad zu halten. Spätestens seit dem Erdgipfel 1992 in
       Rio ist klar, dass wir mit unserem Tun die Erde aufheizen. Die Wissenschaft
       sagt: Werden es mehr als 2 Grad im globalen Durchschnitt, fallen
       Kippelemente um, die den Klimawandel unbeherrschbar machen für die
       Menschheit.
       
       Der Grönländische Eisschild ist so ein Kippelement. Viermal so groß wie
       die Bundesrepublik, ist er in seiner Spitze höher als 3.000 Meter. Jeder
       der in den Alpen wandern geht, packt sich einen Pullover ein, weil er weiß,
       auf dem Berg ist es kühler als unten im Tal. Das ist beim Grönland-Eis ganz
       genau so: Beginnt der Gletscher zu tauen, sinkt seine Oberfläche nach unten
       in immer wärmere Schichten. Die Eisschmelze – einmal angefangen – wird sich
       immer weiter beschleunigen. Schmilzt Grönland ab, steigt der Meeresspiegel
       um sieben Meter. Emden liegt einen Meter hoch.
       
       Der Golfstrom, der Amazonaswald, die Antarktis oder der Permafrost – gut
       ein Dutzend solcher Kippelemente gibt es. Und: Die Wissenschaft kann nur zu
       70 Prozent garantieren, dass [1][diese „Großrisiken im Erdsystem“] auch
       wirklich 2 Grad mehr standhalten. Wöllten wir hundertprozentige Sicherheit,
       müsste die globale Erderwärmung auf 1,5 Grad beschränkt werden.
       
       1,5 Grad also, mehr darf es nicht werden. Trotzdem feierten es die Öl- und
       Industriestaaten als „Revolution“, als 2010 auf der COP 12 in Cancún das
       2-Grad-Ziel beschlossen wurde. Immerhin hatten sie sich in den
       Klimaverhandlungen anfangs auf gar keine Obergrenze festnageln lassen
       wollen. Sonst hätten sie ja etwas verändern müssen. Gegen die 2-Grad-Grenze
       rebellierten aber vor allem die kleinen Inselstaaten. Ihr Argument war
       damals der Bungee-Sprung: Würdet ihr euch in die Tiefe stürzen, wenn die
       Überlebenschance bei nur 70 Prozent liegt?
       
       Weil dieses Argument nicht wegzuwischen war, beschlossen die Staaten 2015
       auf der 21. Welt-Klimakonferenz ein 1,5-Grad-Ziel. Allerdings war damals
       schon klar, dass dieses nur noch sehr schwer einzuhalten sein wird –
       einfach weil schon viel zu viele Treibhausgase in der Atmosphäre sind. Im
       Paris-Protokoll wurde deshalb als vages Ziel formuliert, dass
       „Anstrengungen unternommen werden“ für das 1,5-Grad-Ziel.
       
       ## Kein Veggieday, kein Tempolimit, kein Kohle-Aus
       
       Seitdem sind die Emissionen immer weiter gestiegen. 2023 lag die globale
       Mitteltemperatur laut der Weltorganisation 1,45 Grad Celsius über dem
       vorindustriellen Niveau. Und weil es in Staaten wie Deutschland eben noch
       immer kein Tempolimit, kein Verbot von Kohlekraftwerken, keinen Veggie-Day,
       noch nicht einmal überall Wärmepumpen gibt, hat der UN-Generalsekretär
       António Guterres jetzt mal Tacheles gesprochen: Vergesst das 1,5-Grad-Ziel!
       So wie es derzeit läuft, ist das nicht mehr zu halten.
       
       Ein großer Vorteil des Paris-Protokolls war, dass sich die Restmenge exakt
       berechnen lässt, die jedes Land noch ausstoßen darf – will es einen fairen
       Beitrag zur 1,5-Grad-Politik beisteuern. Deutschland hätte demnach im
       vergangenen Jahr noch 19 Millionen Tonnen produzieren dürfen.
       [2][Tatsächlich waren es aber 594 Millionen.] Wir sind als Nation also
       schon weit drüber.
       
       Unionschef Friedrich Merz hat zur Klimapolitik gerade erklärt: „Wenn wir in
       den nächsten zehn Jahren die Weichen richtig stellen, sind wir auf einem
       guten Weg.“ Es ist nicht bekannt, ob der Möchtegern-Kanzler auf dem Feld
       der Wirtschaftspolitik ähnlich kompetent ist. Unbekannt ist auch, ob Merz
       schon mal mit António Guterres telefoniert hat. Keinesfalls aber ist zu
       empfehlen, Friedrich Merz die Länge Ihres Bungee-Seils ausmessen zu lassen!
       
       6 Jun 2024
       
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 (DIR) [1] https://www.pik-potsdam.de/de/produkte/infothek/kippelemente/kippelemente
 (DIR) [2] https://www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/04_Stellungnahmen/2020_2024/2024_03_CO2_Budget.pdf?__blob=publicationFile&v=8
       
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 (DIR) Nick Reimer
       
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