# taz.de -- Alice Hasters über Diskriminierung: „Ich hatte Fluchtgedanken“
       
       > Alice Hasters will nicht alles immer wieder erklären. Was Rassismus
       > anrichtet, beschreibt sie in ihrem Buch, das sich an weiße Menschen
       > richtet.
       
 (IMG) Bild: Alice Hasters sagt: „Ich hatte lange das Gefühl, dass über Rassismus zu sprechen mir nicht zustehe“
       
       Taz: Frau Hasters, Sie haben ein [1][Buch] geschrieben mit dem Titel „Was
       weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“. Wie
       kam es dazu? 
       
       Alice Hasters: Nach der Bundestagswahl 2017, als die AfD in den Bundestag
       kam, habe ich einen Facebook-Post geschrieben. Normalerweise sage ich in
       den sozialen Netzwerken nicht viel über meine innere Welt, aber nach der
       Wahl ging's mir ganz schlecht, ich hatte plötzlich Fluchtgedanken.
       
       Wieso? 
       
       Mir sagten weiße Menschen oft, dass meine Rassismuserfahrungen keine seien,
       rassistische Kommentare nicht so gemeint seien, dass ich übertreiben würde,
       dass alles nur Hirngespinste seien. Wenn man das so oft hört, glaubt man
       auch als Betroffene dran. Ich hatte lange das Gefühl, dass andere es
       schlechter haben als ich und über Rassismus zu sprechen mir nicht zustehe.
       Ich musste zuerst einmal lernen, dass auch das eine typische Machtdynamik
       ist.
       
       Wie lief dieser Lernprozess ab? 
       
       Bücher aus der afrodeutschen Bewegung wie „Farbe bekennen“, „Deutschland
       Schwarz Weiß“ von Noah Sow, „exit RACISM“ von Tupoka Ogette und andere
       halfen mir, die Strukturen klarer zu sehen, und dienten als eine Art
       Argumentationshilfe.
       
       Sie erzählen viel Persönliches in Ihrem Buch. Wie war der emotionale Aspekt
       der Arbeit, dieses Buch zu schreiben? Wo haben Sie die Kraft hergenommen,
       sich auf dieser Ebene mit Rassismus auseinanderzusetzen? 
       
       Die emotionale Ebene des Schreibens war tatsächlich das Schwierigste dabei.
       Manchmal fühlte es sich an, als würde ich eine Lawine durch ein Nadelöhr
       pressen. Meine eigenen Diskriminierungserfahrungen so geduldig und ruhig
       aufzuschreiben war anstrengend, aber ich wollte ja, dass der Text
       zugänglich für das weiße Publikum ist. Ich wollte es nicht abstrakt machen,
       sondern persönlich, damit das greifbar und verständlich ist.
       
       Ihre unaufgeregte Art erinnert an den Brief an Ihren weißen Partner, in dem
       Sie ihm sagen: „Du wirst viel dazulernen, ich aber nicht.“ 
       
       Die Aufklärungsarbeit, die man im Alltag bewältigt, kann in einer
       romantischen Beziehung stärker auftreten. Man gelangt manchmal an einen
       Punkt, an dem man nicht mehr drum herumkommt, über Rassismus zu sprechen.
       Ich kenne die Lebenswelt von weißen Menschen, insbesondere von weißen
       Männern. Ich lese sie jeden Tag in der Zeitung, ich habe Bücher von weißen
       Menschen gelesen, Filme über sie geschaut. Wenn ich Gespräche mit weißen
       Menschen über Rassismus führe, ist es oft so, dass ich nichts dazulerne,
       sie aber von mir sehr wohl. Diese Unausgeglichenheit ist ein Dilemma, daher
       kann ich jede Person, die in irgendeiner Form marginalisiert ist,
       verstehen, wenn sie diese Gespräche eben nicht führen möchte.
       
       In Ihrem Buch fordern Sie eine bessere Aufarbeitung des deutschen
       Kolonialismus in der Schulbildung, um die NS-Zeit richtig einzuordnen. Was
       meinen Sie damit? 
       
       Rassismus in Deutschland ist für viele Menschen unbegreiflich, weil er im
       Geschichtsunterricht nur über die NS-Zeit vermittelt wird. Der Diskurs
       steht so aber abgeschnitten und allein da. Als hätte das Ganze mit Hitler
       begonnen und geendet. Es gibt eine Kontinuität, Antisemitismus und
       Rassismus gibt es nicht erst seit 1933. Es hat schon viel früher in der
       Kolonialzeit zu massenhaften Morden geführt, es hat auf deutscher Seite den
       Genozid an den Herero und Nama gegeben, aber das lernen wir nicht in der
       Schule, zumindest nicht so, dass wir uns damit wirklich auseinandersetzen
       müssen. Es gibt kein kollektives Bewusstsein dafür, dass die Kolonialzeit
       bis heute Konsequenzen hat.
       
       Sie fordern also eine Aufnahme des deutschen Kolonialismus in den
       Schulunterricht im Zusammenhang der rassistischen Kontinuität … 
       
       … in Bezug auf Deutschland, aber auch gesamteuropäisch. In Deutschland
       identifiziert man sich gern als europäisch, aber sobald es um Kolonialismus
       geht, sagt man, England und Portugal waren schlimmer, es war ihr
       Verbrechen, und zieht sich so aus der Verantwortung zurück. Wie soll eine
       neue, europäische Identität aufgebaut werden, wenn man sich mit einem so
       großen Teil der europäischen Geschichte nicht auseinandersetzt?
       
       Und welche Konsequenzen hat das heute? 
       
       Dass wir nicht über Rassismus sprechen können. Wenn wir so tun, als hätte
       alles erst mit Hitler angefangen und wäre mit ihm verschwunden, dann ist
       auch klar, dass Menschen sich als „Nazi“ beleidigt fühlen, wenn ihre
       rassistischen Ausdrücke kritisiert werden. Rassismus geht aber über Hitler
       hinaus.
       
       In Ihrem Buch sagen Sie, dass Schüler*innen of Color weniger
       Gymnasialempfehlungen bekommen als weiße. Für arme Schüler*innen sieht das
       doch aber ähnlich aus. 
       
       Ja, ich möchte Rassismus und Klassismus auch nicht gegeneinander
       ausspielen. Es sind unterschiedliche Benachteiligungen, und dann gibt es
       Schüler*innen, die von beiden betroffen sind. Das Entscheidende bei
       Rassismus sind die subtilen Botschaften: dass von Rassismus betroffene
       Schüler*innen bestimmte Dinge im Unterricht nicht verstehen können, dass
       also die Abwertung ihres Potenzials und ihrer Intelligenz nicht auf einer
       klassistischen, sondern auf einer rassistischen Ebene passiert. Und diese
       Botschaften können Betroffene prägen, sie können das selbst verinnerlichen.
       
       In Ihrem Buch denken sie viel über romantische Beziehungen nach, unter
       anderem über Fetischisierung. Woran erkennt man das? 
       
       Manchmal glauben weiße Menschen, dass sie sich aus rassistischen
       Denkmustern herausschlafen, indem sie mit nichtweißen Menschen was
       [2][anfangen]. Mit Fetischisierung ist das Interesse für „das Andere“
       gemeint und der Versuch, sich über eine Beziehung mit einer nichtweißen
       Person zu profilieren und zu transzendieren, außerhalb des Weißseins. Eine
       solche Beziehung kann dazu führen, dass Weiße ihre Macht nicht mehr
       reflektieren oder nicht wahrhaben wollen, dass sie weiß sind, und dass das
       mit bestimmten Privilegien einhergeht. Da gilt: You can't fuck yourself out
       of racism. Eine Beziehung ist kein Weißseinseskapismus.
       
       Ein Kapitel Ihres Buchs handelt von kultureller Aneignung, über die Sie
       differenziert nachdenken. Wie sieht denn eine positive kulturelle Aneignung
       aus? 
       
       Kulturelle Aneignung ist zum Teil ein ganz natürlicher Prozess. Man muss
       dabei nur anerkennen, dass weiße Menschen bestimmte Teile der Welt
       kolonialisiert und Menschen vor Ort teilweise verboten haben, ihre Kultur
       auszuleben. Das führte und führt zur Benachteiligung und Abwertung jener,
       die ihre Kultur weiterhin ausleben möchten. Wenn heute weiße Menschen durch
       die Welt reisen, neuen Kulturen begegnen und sich diese aneignen, müssen
       sie verstehen, dass sie auf einer kolonialen Geschichte aufbauen.
       
       Mit Ihrem Buch richten Sie sich an ein weißes Publikum, das aber oft
       beleidigt ist, wenn man es als weiß bezeichnet. Woran liegt das?
       
       Es herrscht noch der Gedanke, dass privilegiert nur jene seien, die es
       leicht hatten. Wenn wir aber über Privilegien sprechen, geht es nicht
       darum, welche Erfahrungen man gemacht hat, sondern darum, welche
       Erfahrungen man nicht machen muss. Eine weiße Frau beispielsweise würde
       Sexismuserfahrungen machen, aber eben keine Rassismuserfahrungen. Und dann
       gibt es auch noch intersektionale Diskriminierungserfahrungen, wie zum
       Beispiel gegenderten Rassismus. Wir müssen diese Gespräche aushalten. Es
       gibt noch eine Menge, was über Rassismus gesagt werden muss.
       
       Eine Ihrer Thesen im Buch lautet, dass Worte ihre Macht von der Person
       erhalten, die sie ausspricht. Finden Sie, dass es wirklich empowert, sich
       das N-Wort oder das Wort Kanake anzueignen? 
       
       Das ist was Persönliches. Für manche funktioniert das, für andere nicht.
       Diese Debatte muss allerdings von den Communitys selber geführt werden. Und
       wenn das für weiße Menschen schwer zu verstehen ist, dass man sich selber
       mit dem N-Wort bezeichnen will, dann haben sie sich nicht genug mit der
       Sklaverei auseinandergesetzt.
       
       Kann man Rassismus mit (Un-)Wissen erklären, wenn es auch Akademiker*innen
       unter AfD-Wähler*innen gibt? 
       
       Kann man nicht. Aber ich bin zuversichtlich, dass es auch Menschen gibt,
       bei denen das tatsächlich die Ursache ist – und dass man viele mit
       Aufklärung überzeugen kann.
       
       24 Sep 2019
       
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