# taz.de -- Angriffe auf Zivilbevölkerung: Aus dem Leben gerissen
       
       > In der zentralukrainischen Stadt Vinnytsia starben nach einem russischen
       > Raketenangriff 24 Menschen, darunter drei Kinder. Über eine Stadt in
       > Trauer.
       
 (IMG) Bild: Familie und Bekannte nehmen Abschied von der vierjährigen Liza, die bei dem Angriff getötet wurde
       
       VINNYTSIA taz | Plötzlich wird es laut am Himmel, die Menschen an der
       Bushaltestelle drehen die Köpfe nach oben. Mishas Gesicht wird starr. Dann
       atmet er laut hörbar aus. Nur ein Helikopter. Seit dem Angriff kann er
       nicht mehr anders. Als am vergangenen Donnerstag wenige hundert Meter
       weiter drei russische Raketen einschlugen, holte der Koch sich gerade einen
       Kaffee. Sein Körper vibrierte von dem Einschlag so sehr, dass er erst
       dachte, es hätte das Gebäude der kleinen Bäckerei getroffen, in der er an
       der Kasse stand.
       
       „Es ist die eine Sache, sich das vorzustellen, wenn man die Bilder in den
       Nachrichten sieht. Und eine völlig andere, auf einmal so nah dran zu sein“,
       sagt Misha Matsiuk. Wegen der dicken Rauchwolke, die sich bildete, konnte
       der 30-Jährige zunächst nicht sehen, ob seine Wohnung nebenan getroffen
       wurde. Einen Freund, der dort übernachtet hatte, erreichte er auch nicht.
       
       Hunderte von Kilometern von der Front entfernt, hat das russische Militär
       am vergangenen Donnerstagmorgen einen belebten Platz in der
       zentralukrainischen Stadt Vinnytsia attackiert. Der Angriff kam
       unvermittelt und erinnerte einmal mehr daran, dass dieser Krieg noch lange
       nicht vorbei ist. „Niemand in der Ukraine ist sicher. Die Russen greifen
       uns überall an“, sagt Misha. Ein militärisches Ziel ist im Umkreis des
       Einschlagsorts weit und breit nicht auszumachen. Terrorismus sei das. Ein
       Freund von Misha verbrannte an jenem Morgen in seinem Auto. 24 Menschen
       starben. Drei davon waren Kinder.
       
       Im Rathaus von Vinnytsia diktiert Bürgermeister Sergiy Morgunov der
       Reporterin beflissen ihre Namen in den Block: Liza, vier Jahre alt, Maksym,
       sieben Jahre alt, und Kyrylo, acht. Um 10.43 Uhr schlug die erste von drei
       Raketen ein, 67 Menschen wurden ins Krankenhaus eingeliefert, mehr als 80
       Gebäude seien beschädigt worden. Morgunov gibt im Stundentakt Interviews,
       ist seit Tagen im Dauereinsatz. Die Welt soll wissen, was in seiner Stadt
       passiert ist. Sie ist das jüngste Beispiel für den Charakter des russischen
       Angriffskrieges, in dem das Leben von Zivilisten noch nie viel gegolten
       hat.
       
       Die Stadt galt als sicher 
       
       Dabei wurde die Stadt, weit weg von den Gefechten im Donbass, als sicher
       eingestuft. Nachdem im März sechs Menschen beim Beschuss des
       Militärflughafens von Vinnytsia getötet wurden, blieb es vergleichsweise
       ruhig in der beschaulichen Großstadt. Die Region war eine von nur zehn in
       der Ukraine, in der es laut Bürgermeister seit Februar keine aktiven Kämpfe
       gegeben hat. Fast 40.000 Menschen aus den Hotspots des Kriegs seien in
       seine Stadt geflohen, die vor dem Krieg rund 400.000 Einwohner zählte.
       
       Seit Beginn der Invasion ist es für alle Orte in der Ukraine sowieso nur
       eine Frage der Wahrscheinlichkeit, wer zum Ziel der russischen
       Kriegsmaschinerie wird. Bürgermeister Morgunov öffnet auf seinem Smartphone
       die Luftalarm-App, die schrille Sirenentöne von sich gibt, sobald das
       Militär Gefahr am Himmel wahrzunehmen glaubt. Lässt sich auf die Schnelle
       sagen, wie oft es Luftalarm gegeben hat seit Februar? Unmöglich. So oft
       jedenfalls, dass die Menschen inzwischen daran gewöhnt sind. Präsident
       Wolodimir Selenski hat die Bevölkerung deshalb jüngst eindringlich gewarnt,
       weiter auf Alarm zu reagieren und die Luftschutzbunker aufzusuchen, um im
       Ernstfall, so gut es geht, geschützt zu sein.
       
       Zwei Raketen verwandelten die Konzerthalle von Vinnytsia in ein
       Trümmerfeld. Eine dritte schlug direkt vor einem mehrstöckigen Gebäude ein,
       das Arztpraxen, Büros, Cafés und ein Fotostudio beherbergte. Kein einziges
       der Fenster ist intakt geblieben. „Das ist ein Terrorakt“, urteilt
       Bürgermeister Morgunov und schließt sich damit Präsident Wolodimir Selenski
       an, der die internationale Gemeinschaft erneut aufforderte, Russland als
       Terrorstaat einzustufen. Die russische Strategie sei es, Panik in der
       Bevölkerung zu verbreiten, damit diese Druck auf die Politiker ausübt, sich
       endlich zu ergeben. Aber diese Strategie gehe nicht auf, sagt Morgunov.
       Nicht in der Ukraine.
       
       „Diese Angriffe machen uns nur noch wütender. Und sie stärken unseren
       Willen zu kämpfen“, sagt Serhii Kovalchuk. Der 33-jährige Englischlehrer
       ist erst vergangenen Monat aus China zurück in seine Heimatstadt Vinnytsia
       gezogen. Freiwillig – denn Männer im kampffähigen Alter dürfen nur in
       Ausnahmefällen das Land verlassen. Serhii hofft darauf, dass der Augenarzt
       ihm grünes Licht gibt und er in den Krieg darf.
       
       Als die Raketen einschlugen, saß er in einem Bus, etwa einen halben
       Kilometer von der Konzerthalle entfernt. Der Bus stoppte, die Passagiere
       mussten zu Fuß weiterlaufen. Als später zum zweiten Mal die Sirene heulte,
       lenkte sich Serhii im Gespräch mit Nachbarn ab. „Was kann man am Ende schon
       gegen eine Rakete tun?“, fragt er achselzuckend.
       
       Noch am selben Tag gab es bei einem Raketenangriff auf zwei Universitäten
       in [1][Mykolajiw] im Süden der Ukraine mehrere Verletzte. Am Freitagabend
       heulten erneut in weiten Teilen des Landes die Sirenen. Nach Angriffen
       ereigneten sich mehrere Explosionen in Dnipro und Krementschuk. In Dnipro
       starben drei Menschen, 15 werden verletzt. Bei einem Angriff auf ein
       Einkaufszentrum in der Kleinstadt Krementschuk Ende Juni wurden 18 Menschen
       getötet und 59 verletzt. Anfang Juli wurden ein Wohnhaus und ein Hotel in
       der Region [2][Odessa] getroffen. 21 Menschen starben, 35 wurden verletzt.
       In einem Wohnhaus in Tschassiw Jar, nahe der Front, wurden am 9. Juli
       mindestens 48 Menschen getötet.
       
       Obwohl bei russischen Angriffen von Beginn des Krieges an
       überdurchschnittlich viele Zivilisten getötet wurden, glauben Beobachter,
       dass die Intensität den vergangenen Monat über zugenommen hat. „Sie haben
       beschlossen, unsere Zivilbevölkerung zu terrorisieren. Das ist nicht mein
       Gefühl, sondern das ist, was unsere Analysen zeigen“, sagte Oleksiy
       Danilov, Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats, dem
       Guardian in einem Interview.
       
       Vermehrte Angriffe auf Zivilist:innen 
       
       Laut dem ukrainischen Verteidigungsministerium seien 70 Prozent aller
       Angriffe auf zivile Einrichtungen gerichtet. Ministeriumssprecher Oleksandr
       Motuzianyk geht noch weiter und sagt: „Die heimtückischen Raketenangriffe
       auf das Zentrum einer friedlichen Stadt sind ein weiterer Beweis dafür,
       dass Russland einen Völkermord in der Ukraine begeht.“
       
       Auffällig viele Angriffe fallen mit Terminen zusammen, an denen Russland
       ganz oben auf der Agenda des Westens steht. Als der UN-Generalsekretär
       António Guterres Anfang Juni nach Kyiv reiste, schlug zum ersten Mal seit
       Wochen wieder eine Rakete ein. Das nächste Mal griff Russland das
       Universitätsviertel der Hauptstadt am 26. Juni an – dem Beginn des
       [3][G7-Gipfels]. Vinnytsia wurde am selben Tag angegriffen, an dem
       europäische Minister in Den Haag diskutierten, wie Russland für seine
       Verbrechen in der Ukraine zur Rechenschaft gezogen werden könnte.
       
       Den Tag, an dem Russland für seinen Angriffskrieg bezahlen muss, sehnt auch
       Svitlana Yaroshenko herbei. In ihrem Schmuckgeschäft innerhalb des
       abgesperrten Gebiets um die Einschlagstellen ist kaum etwas ganz geblieben.
       Dass sie die Nachrichtenbilder aus anderen Teilen des Landes einmal selber
       erreichen würden, damit hat sie nicht gerechnet. „Ich habe mir immer
       vorgestellt, wie die Menschen sich nach Explosionen fühlen. Jetzt bin ich
       eine von ihnen.“
       
       Selbst war sie am Donnerstagmorgen ausnahmsweise nicht im Geschäft, die
       Verkäuferin kam mit einer Schnittwunde am Hals davon. Svitlanas Mann
       schleppt Eimer mit Glasscherben in den Hinterhof. Die beiden wollen ihren
       Laden, so schnell es geht, wieder aufmachen, sie wollen den Leuten
       Normalität vermitteln. Angst habe sie nicht, behauptet Svitlana. „Ich
       glaube an Gott und an unseren Sieg“, sagt sie kämpferisch.
       
       Vor der Kathedrale der Verklärung in Vinnytsia stehen die Menschen still
       und nachdenklich beieinander. Sie sind gekommen, um von Liza Abschied zu
       nehmen und denen beizustehen, die am meisten verloren haben: ein Kind.
       Bilder der Vierjährigen mit Downsyndrom gingen am Wochenende um die Welt.
       Kurz bevor die russische Rakete sie aus dem Leben riss, postete ihre Mutter
       ein Video, wie ihre Tochter fröhlich ihren Buggy vor sich herschob. Eine
       knappe Stunde später war sie tot.
       
       Dabei habe sich das Leben hier zuletzt wieder fast normal angefühlt, sagt
       die 18-jährige Valeria Shchebivok leise. „Vinnytsia galt als eine der
       sichersten Städte in der Ukraine. Und ich fühlte mich hier auch sicher.
       Jetzt geht es mir grauenhaft.“ Viele Menschen halten Blumen in den Händen.
       Manche Frauen bedecken ihr Haar mit Tüchern. Der kleine Sarg aus Holz wirkt
       verloren im Transporter, der vor der Kirche parkt. Eine Lokaljournalistin
       tippt in ihr Smartphone und wischt sich Tränen aus dem Gesicht. Sie könne
       nicht anders, es sei ja nun einmal ihre Stadt, sagt sie. „Denjenigen, die
       unsere junge Liza getötet haben, gilt für immer die Hölle. Der Teufel wird
       nie gegen Gott gewinnen“, sagt drinnen Priester Vitalii Holoskevych.
       
       „Es gibt keinen Ort mehr in der Ukraine, an dem man sich sicher fühlen
       kann. Putin dreht völlig durch“, wettert ein wenig abseits stehend die
       51-jährige Oksana Savytska über den russischen Präsidenten. Kurz zuvor
       regneten am Morgen im Süden der Ukraine erneut zehn Raketen auf Mykolajiw
       hernieder. In der nahegelegenen Hafenstadt Odessa warten [4][20 Millionen
       Tonnen Getreide] in Silos darauf, die Hungernden der Welt zu ernähren. Doch
       bisher hat der russische Präsident seine Blockade nicht aufgegeben. Oksana
       sagt: „Er ist ein Teufel, ein Mörder. Und ein Terrorist.“
       
       18 Jul 2022
       
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