# taz.de -- Osteuropa-Experte zum Ukrainekrieg: „Sanktionen können Armee stärken“
       
       > Für Alexander Libman können weder Verhandlungen noch ein militärischer
       > Sieg der Ukraine langfristig für Frieden sorgen. Ein Gespräch über den
       > Krieg.
       
 (IMG) Bild: Bewusste Inszenierung: Präsident Putin beim Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg im Juni
       
       taz: Herr Libman, Sie sind Experte für Osteuropa und beschäftigen sich seit
       vielen Jahren mit autoritären Regimen. Waren die Ereignisse vom 24. Februar
       ein Schock für Sie? 
       
       Alexander Libman: Sie kamen für mich völlig unerwartet, das will ich gar
       nicht leugnen. Schon Monate davor war mir klar, dass alle Versuche, eine
       umfassende und harmonische Lösung zu finden, sehr wahrscheinlich zu nichts
       führen würden. Aber dass man von drei Richtungen aus, also auch aus
       Belarus, Kiew angreifen würde – das hätte ich mir nicht vorstellen können.
       
       Was denken Sie, warum hat Wladimir Putin erst jetzt mit dieser großen
       Invasion begonnen? Warum nicht gleich nach der Annexion der Krim, als der
       Zustand der ukrainischen Armee noch sehr viel schlechter war? 
       
       Es gibt dafür zwei Thesen. Eine hat mit der Innenpolitik zu tun. Durch die
       Coronapandemie hat Putin an Beliebtheit verloren. Das wollte er mit einem
       kurzen siegreichen Krieg wieder ändern. Gegen diese These spricht meiner
       Meinung nach die Tatsache, dass die russische Gesellschaft nicht auf den
       Krieg vorbereitet war. Die zweite These hängt mit der Außenpolitik
       zusammen. Ich denke, Putin hat 2014 keinen Krieg begonnen, weil er damals
       noch dachte, er könne seine Ziele auch ohne einen solchen Krieg erreichen.
       So wie ich das verstehe, glaubt Putin nicht daran, dass Menschen
       irgendwelche Entscheidungen selbstständig treffen können und hinter allem
       Manipulationen anderer stehen. Als es zum Beispiel 2014 in der Ukraine zur
       Revolution der Würde kam, war das für Putin nicht etwas, was die Menschen
       selbst organisiert hatten, sondern der gut umgesetzte Plan amerikanischer
       Geheimdienste.
       
       Mit welcher Absicht hat die russische Armee Gewalttaten wie solche in
       [1][Butscha] begangen? 
       
       Das ist ein weiterer Schock für mich. Zu Kriegsverbrechen kommt es, wenn
       sich die Bevölkerung, an der sie begangen werden, sehr stark von denen
       unterscheidet, die diese Verbrechen begehen. Dann kann man einfach den
       Begriff des „Fremden“ verwenden. Eine klare Unterscheidung zwischen „unsere
       Leute“ und „die anderen“ hätte bei den Menschen in Butscha nicht
       funktioniert. Ich denke, der Grund für diese Ereignisse ist folgender: Die
       russischen Soldaten in der Ukraine verstehen nicht, was dort passiert, sie
       sehen nicht den Sinn des Krieges. Und es ist dieses Unverständnis und diese
       Verwirrung bewaffneter Männer, die zu dieser wahnsinnigen, unvorstellbaren
       Brutalität führt. Berichte von Augenzeugen, die die russische Okkupation
       überlebten, bestätigen diese Hypothese. Der Krieg, den diese Soldaten nicht
       verstehen, hat sie zu Bestien gemacht.
       
       Glauben Sie, der Kreml hat damit gerechnet, dass die Ukraine so viel
       Unterstützung aus dem Westen erhält? 
       
       Ich denke, dass man im Kreml nichts von dem, was jetzt passiert, erwartet
       hatte. Sie haben nicht erwartet, dass die ukrainische Armee solchen
       Widerstand leisten und das ukrainische Volk so entschlossen die Okkupation
       ablehnen würde. Auch nicht, dass der Westen so schnell so harte Sanktionen
       beschließen würde und dass Russland durch den Krieg weltweit so an Ansehen
       verlieren würde. Der Kreml hat vielmehr angenommen, dass die Menschen den
       Krieg als Teil einer ganzen Reihe von Kriegen sehen würden: Syrien,
       Bergkarabach, Irak, Afghanistan. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der
       Krieg in der Ukraine in den USA und Europa grundsätzlich andere Reaktion
       hervorrufen würde.
       
       Sie haben den offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz mit unterzeichnet.
       Darin wird auch gefordert, die Verhandlungen mit Russland wieder
       aufzunehmen. 
       
       Das Hauptproblem der Vorgänge in der Ukraine besteht darin, dass es keine
       gute Lösung gibt. Es gibt nur schlechte, sehr schlechte und superschlechte
       Lösungen, und darunter muss man eine auswählen. Die Vorstellung, dass man
       mit Putin verhandeln und Zugeständnisse machen müsse, ist eine sehr
       schlechte Entscheidung, denn es würde bedeuten, einem Verbrecher
       Zugeständnisse zu machen.
       
       Was sind Alternativen zu diesen Verhandlungen? 
       
       Einige hoffen auf einen kompletten militärischen Sieg der Ukraine mit
       umfassender westlicher Unterstützung. Für mich gibt es hier allerdings ein
       großes Problem: Es ist nicht klar, wie wir diesen Sieg genau definieren.
       Geht es um die Wiedereroberung aller von Russland besetzten Territorien?
       Auch wenn so ein Vorgehen gelingen würde, würde es lediglich bedeuten, dass
       Russland seine Armee entlang den ukrainischen Grenzen lassen würde und
       weiter das ukrainische Territorium mit Raketen und Bomben beschießen würde.
       Das würde die Ukraine dauerhaft destabilisieren. Um das zu vermeiden,
       müsste dann die Ukraine auch russisches Territorium angreifen. Das wäre mit
       einer brandgefährlichen Eskalation verbunden, möglicherweise einer
       nuklearen Eskalation. Denn: Falls Putin in diesem Fall keine Atomwaffen
       einsetzt, kann international der Glaube schwinden, dass Russland
       grundsätzlich bereit ist, zum Schutz eigenen Territoriums nukleare
       Streitkräfte einzusetzen. Das wäre in den Augen Putins ein katastrophaler
       Machtverlust, ein hohes Sicherheitsrisiko. Solange die russische Armee
       einsatzbereit ist, die russische Wirtschaft läuft und Putin an der Macht
       ist – und diese Bedingungen werden aus meiner Sicht trotz Sanktionen und
       der hohen Verluste an der Front noch sehr lange existieren – ist es schwer,
       sich eine militärische Lösung vorzustellen, die die Sicherheit der Ukraine
       garantieren würde.
       
       Kann man mit Putin überhaupt verhandeln? 
       
       Das ist eine sehr schwierige Frage. Aus meiner Sicht sind solche
       Verhandlungen grundsätzlich möglich. Für Putin sind aggressive Kriege kein
       Kernelement seines Regimes, ohne die es ideologisch oder wirtschaftlich
       nicht überleben kann. Putin ist schon über zwei Jahrzehnte an der Macht,
       und ein Großteil dieser Zeit hat er sich eher als korrupter Kleptokrat denn
       als Eroberer verhalten. Es wird oft gesagt: Man hat mit Putin bereits vor
       dem Krieg, im Januar und Februar 2022, verhandelt und das hat zu keinem
       Ergebnis geführt. Diese Argumente teile ich nicht. Putin hat bereits vor
       dem Krieg seine Forderungen definiert: Ein Kernelement war, dass die Nato
       sich verpflichtet, die Ukraine als Mitgliedsstaat nicht aufzunehmen. Gerade
       bei dieser Forderung hat der Westen sofort klar gesagt, dass das nicht zur
       Debatte steht. Dafür gab es sehr gute ethische und politische Gründe. Aber:
       Das bedeutet auch, dass in den Gesprächen, die mit Putin geführt wurden,
       das für ihn wichtigste Anliegen vom Anfang an ausgeschlossen wurde. Wenn
       man über Verhandlungen spricht, müssen jedoch noch zwei Punkte klargemacht
       werden.
       
       Welche sind das? 
       
       Erstens: Wenn wir von Verhandlungen und Kompromissen sprechen, können es
       nur eigenständige Entscheidungen der Ukraine sein, die nur sie selber
       treffen darf und kann. Verhandlungen hinter dem Rücken der Ukraine sind
       unzulässig. Der Westen kann sich aber darum bemühen, Bedingungen für solche
       Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine zu schaffen und zu fördern.
       Und zweitens: Diese Bedingungen zu schaffen, ist eine Aufgabe, die jetzt
       deutlich schwieriger ist, als es noch im März der Fall war. Dass man mit
       Putin grundsätzlich verhandeln kann, bedeutet nicht, dass er jetzt zu
       diesen Verhandlungen bereit ist. Aber mit Verhandlungen gibt es zumindest
       eine Hoffnung auf Frieden. Mit einer Strategie, die nur auf einen
       militärischen Sieg der Ukraine setzt, befürchte ich, dass das nicht der
       Fall ist. Aber, wie gesagt: Verhandlungen bleiben eine schlechte Lösung.
       
       Auf wen stützt sich das autoritäre Regime in der Russischen Föderation? 
       
       Das Rückgrat von Putins Regime sind heute die Sicherheitsdienste, und sie
       sind immer noch die aktivste Kraft, die den Autoritarismus in Russland
       unterstützen. Mir kommt es auch so vor, dass sich dieser russische
       Autoritarismus jetzt auf die Verwirrtheit der Bevölkerung stützt, die durch
       den Kriegsausbruch in einem Schockzustand ist. Ich glaube allerdings nicht,
       dass die russische Gesellschaft den Krieg [2][so eindeutig unterstützt],
       eher im Gegenteil. Aber es hat sich der Konsens darüber gefunden, dass die
       Realität des Krieges unausweichlich ist. Und ein solcher Konsens ist die
       stärkste Unterstützung für das Regime, denn die Russen glauben nicht, dass
       sie etwas ändern können.
       
       Wie beurteilen Sie die aktuelle wirtschaftliche Lage Russlands? 
       
       Derzeit durchlebt die russische Wirtschaft einen [3][schweren Schock], und
       sie stabilisiert sich auf sehr niedrigem, ärmlichen Niveau, daran besteht
       kein Zweifel. Die Sanktionen und der wirtschaftliche Abschwung in Russland
       werden dazu führen, dass der militärisch-industrielle Komplex
       höchstwahrscheinlich nicht in der Lage sein wird, sein hohes
       technologisches Niveau zu halten.
       
       Führen die Sanktionen dazu, dass Putin an Beliebtheit in der russischen
       Bevölkerung einbüßt? 
       
       Daran zweifle ich sehr stark. Die Sanktionen führen vor allem zu einer
       größeren Popularität Putins. Es gibt noch einen Aspekt, der zu wenig
       bedacht wird. Die Sanktionen führen zu einem Anstieg der verdeckten
       beziehungsweise der offenen Arbeitslosigkeit in Russland. Wir könnten in
       eine Situation geraten, in der Menschen in relativ armen russischen
       Regionen mit steigender Arbeitslosigkeit konfrontiert sind und diese
       Menschen dann in den Krieg ziehen, um Geld zu verdienen. Legt man diese
       Hypothese zugrunde, können die Sanktionen paradoxerweise zu einer Stärkung
       der russischen Armee führen.
       
       In der Politikwissenschaft kennt man die grundlegenden Möglichkeiten, einen
       Autokraten zu stürzen – davon ist der Staatsstreich die am weitesten
       verbreitete. Wer könnte so einen Putsch initiieren?
       
       Ich weiß es nicht, niemand weiß das. Ein erfolgreicher Militärputsch
       besteht in seiner Unvorhersehbarkeit. Sonst könnte das Regime ihn ja
       verhindern.
       
       Gibt es andere Szenarien f ü r einen Machtwechsel? 
       
       Es gibt ein Szenario, in dem der pessimistische Konsens über den Krieg
       zusammenbricht und die Menschen auf die Straße gehen. Die wichtigste
       Bedingung dafür ist, dass die Mehrheit der Russen verstünde, dass die
       Mehrheit der Russen nicht einverstanden mit dem Krieg sei, und sich dadurch
       etwas ändern könnte. Aber das wird aktuell nicht passieren und man kann es
       auch nicht voraussagen. Man muss aber sagen, ein Machtwechsel könnte einer
       neuen politischen Führung neue Möglichkeiten eröffnen. Zumindest könnte
       sich sowohl im Westen als auch in der Ukraine ein gewisses Maß an
       Verhandlungsbereitschaft einstellen. Die Bereitschaft mit Putin zu reden
       ist wesentlich geringer, weil er die persönliche Verantwortung für die
       Ereignisse in Butscha trägt. Auch wenn er nicht den Befehl gab – er trägt
       dafür die Verantwortung.
       
       Aus dem Russischen Gaby Coldewey
       
       14 Jul 2022
       
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