# taz.de -- Mögliche Kriegsziele in der Ukraine: Deutschland, was willst du?
       
       > Was sollte die deutsche Politik im Kontext des russischen Überfalls auf
       > die Ukraine erreichen? Eine Debatte ist überfällig. Vier mögliche
       > Szenarien.
       
 (IMG) Bild: Die Debatte um Deutschlands Ziele im Krieg tappt im Dunkeln
       
       In der deutschen Öffentlichkeit wird heftig um den richtigen Umgang mit dem
       russischen Überfall auf die Ukraine gerungen. Nicht nur die
       [1][vieldiskutierten öffentlichen Briefe] konzentrieren sich dabei auf die
       Frage: Soll Deutschland schwere Waffen liefern – ja oder nein? 
       
       Doch eigentlich sollte man sich zuerst über die Ziele verständigen, bevor
       die richtigen Mittel gewählt werden können. Ist es ein deutsches Ziel, dass
       die Ukraine den Krieg gewinnt? Die Beantwortung dieser Frage fällt auch der
       Bundesregierung seltsam schwer. Es ist an der Zeit, eine Debatte über die
       Ziele der deutschen Politik zu führen. Wir beschreiben mögliche Ergebnisse
       des russischen Überfalls auf die Ukraine und ordnen sie aus deutscher Sicht
       ein. Auf dieser Grundlage skizzieren wir, was das für die deutsche
       Außenpolitik bedeuten könnte. 
       
       ## 1. Sieg der russischen Armee mit moskautreuer Regierung in Kiew
       
       Mit dem Rückzug der russischen Truppen aus dem Norden der Ukraine und dem
       Gebiet um Kiew scheint dieser Ausgang zunächst wenig wahrscheinlich. Da
       aber niemand weiß, welche Wendungen der Krieg noch nimmt – etwa nach einem
       militärischen Erfolg der Russen im Donbass –, kann er auch nicht
       ausgeschlossen werden.
       
       Die Folgen wären weitreichend: Ein solches Ergebnis würde das Ende der
       Grundprinzipien jener Weltordnung bedeuten, wie sie nach dem Zweiten
       Weltkrieg entstand. Das gewalttätige Verschieben von Grenzen, das bereits
       mit der Krim-Annektion 2014 begann, wäre endgültig nicht mehr nur eine
       hypothetische Möglichkeit. Die Gefahr wäre groß, dass ein russischer Erfolg
       Nachahmer auf den Plan ruft, die ebenfalls mit militärischer Gewalt ihre
       politischen Ziele durchsetzen wollen. Und da geht es nicht nur [2][um China
       und Taiwan].
       
       Gleichzeitig würde dieser Ausgang das westliche Bündnis in Selbstzweifel
       stürzen. Niederlagen führen oft zu Auflösungstendenzen. Es wäre auch eine
       Niederlage von US-Präsident Biden, die bei den nächsten
       Präsidentschaftswahlen in zwei Jahren den Erfolg eines Kandidaten mit
       isolationistischer „America first“-Orientierung noch wahrscheinlicher
       macht. Auf globaler Ebene würde das zu einer Schwächung der liberalen
       Demokratien führen, im Osten Europas außerdem zu einer dauerhaften
       Bedrohung von EU- und Nato-Staaten durch einen aggressiven und imperial
       auftretenden Nachbarn. Ein militärisch siegreiches Russland würde
       vermutlich nicht mit den Grenzverschiebungen aufhören; vielmehr könnte es
       Teile Moldaus und Georgiens annektieren. Auch im Baltikum würde die Angst
       vor einer russischen Invasion noch weiter wachsen.
       
       Aus deutscher Sicht wäre dieser Kriegsausgang fatal. Der mögliche Rückzug
       der USA würde den Aufbau einer europäischen Verteidigungsfähigkeit zwingend
       notwendig machen, was Deutschland stark fordern würde. Nur was wäre, wenn
       der autoritäre Virus auch noch Frankreich erfassen sollte? Mit welchem
       Partner sollte Deutschland das dann umsetzen? Möglich, dass die EU in
       diesem Umfeld dramatisch geschwächt würde, sogar zerbrechen könnte. Deshalb
       muss aus deutscher Perspektive alles getan werden – mit Ausnahme eines
       westlichen Kriegseintritts, der die Lage weiter eskalieren würde –, um
       einen solchen Sieg Putins zu verhindern. Dazu muss das Militär der Ukraine
       gestärkt werden, auch mit [3][schweren Waffen aus Deutschland].
       
       ## 2. Friedensvertrag ohne Unabhängigkeit der Ukraine
       
       Wenn die ukrainische Regierung gezwungen ist, einen Vertrag zur Beendigung
       des Krieges zu unterzeichnen, der die eigene Unabhängigkeit in Frage
       stellt, ist es sehr wahrscheinlich, dass der Krieg in einen dauerhaften
       militärischen Konflikt niedrigerer Intensität überführt wird. Das Sterben
       würde auf beiden Seiten weitergehen. Die Ukraine wäre durch den Verlust des
       hochindustrialisierten Donbass wirtschaftlich stark geschwächt.
       
       Aber auch Russland hätte zum einen mit hohen Besatzungskosten in den
       eroberten Gebieten zu kämpfen, zum anderen würden die westlichen Sanktionen
       wohl bestehen bleiben, was Russland wirtschaftlich in die Arme Chinas
       treiben würde. In der Folge könnten sich die USA auch unter einem
       demokratischen Präsidenten von Europa abwenden, um sich stärker auf die
       Auseinandersetzung mit China zu konzentrieren.
       
       Für Deutschland würde dies bedeuten, die Ukraine dauerhaft zu unterstützen,
       ohne dass diese aber eine echte Entwicklungsperspektive hätte. Mit Kämpfen,
       die immer wieder aufflackern, könnte das Land weder ein ernsthafter
       EU-Kandidat werden noch sich wirtschaftlich und politisch nachhaltig
       entwickeln. Gleichzeitig müsste auch bei diesem Ausgang die europäische
       Verteidigungsfähigkeit mit Nachdruck ausgebaut werden. All dies bliebe aber
       weltpolitisch das Kleingedruckte angesichts der Verschärfung des großen
       Machtkonflikts zwischen der demokratischen Welt, angeführt von den USA, und
       einer autokratischen Sphäre, in der Russland zum abhängigen Satelliten
       Chinas wird.
       
       ## 3. Friedensvertrag mit Selbstbestimmungsrecht der Ukraine
       
       Ein solches Szenario klingt wie ein klassischer Kompromiss, birgt aber
       viele Risiken – unabhängig davon, wie wahrscheinlich seine Umsetzung wäre,
       da Russland versucht, in den eroberten Gebieten eigene staatliche
       Strukturen zu errichten. Die Ukraine bliebe bei diesem Ausgang
       selbstbestimmt, müsste aber einer gewissen föderalen Autonomie der
       Ostukraine zustimmen.
       
       Auch in diesem Szenario bräuchte die Ukraine große Aufbauhilfen der EU und
       Deutschlands – sie hätte aber, vorausgesetzt die Situation in der
       Ostukraine stabilisierte sich und die Kämpfe würden enden, eine echte
       EU-Beitrittsoption. Und damit eine Chance auf eine eigene Entwicklung.
       Russland wird einer solchen Regelung nur zustimmen, wenn es keine Chance
       auf einen militärischen Sieg mehr hat oder dieser mit unbewältigbaren
       Kosten verbunden ist.
       
       In dieser Konstellation träte etwas ein, was der Kreml durch den Krieg
       verhindern wollte: die Bedrohung für Putins Regime durch eine demokratische
       und sich wirtschaftlich positiv entwickelnde Ukraine. Eine solche
       Entwicklung würde das Versagen im eigenen Land brutal offenlegen. Der
       Grundkonflikt bliebe erhalten und diese Option nur eine Verschnaufpause.
       
       Dennoch ist ein solcher Ausgang besser als die beiden erstgenannten
       Möglichkeiten. Wenn die deutsche Außenpolitik dazu einen Beitrag leisten
       will, muss sie neben der Unterstützung der Ukraine die Kommunikation mit
       beiden Kriegsparteien offenhalten – mit der ersten und der zweiten Reihe.
       Es bedarf guter Informationen, wann ein möglicher Zeitpunkt für einen
       Burgfrieden gekommen ist, um ihn dann befördern zu können. Mittelfristig
       hieße das für die deutsche und europäische Außenpolitik, dass das
       Russlandproblem wohl erhalten bliebe. Dass ein solcher Ausgang Putins Macht
       im eigenen Land entscheidend schwächt, ist nicht ausgemacht. Die russische
       Armee könnte ihre Fehler analysieren und sich für einen neuen Anlauf
       rüsten. Und dafür müsste sich wiederum Europa rüsten.
       
       ## 4. Niederlage Putins
       
       Ist es also doch am besten, auf einen eindeutigen Sieg der Ukraine zu
       setzen? So wünschenswert das erscheinen mag, birgt auch dieser Ausgang
       Gefahren. Russland möchte eine Niederlage um jeden Preis verhindern und
       könnte zu Massenvernichtungswaffen wie taktischen Nuklearwaffen greifen.
       Der Schaden und das Leid wären unermesslich. Selbst wenn diese Waffe nicht
       in der Nähe der Westgrenze der Ukraine eingesetzt werden würde, blieben die
       Kosten für Europa enorm. Aber auch wenn der Einsatz taktischer
       Nuklearwaffen mit glaubhaften Drohungen der Nato verhindert werden könnte,
       hätte ein solcher Ausgang zur Folge, dass mit Russland ein schwankender
       Paria mit Atomwaffen am Rande Europas entsteht.
       
       Auf die innere Entwicklung des Landes kann der Westen kaum Einfluss nehmen,
       jedenfalls nicht mit Sanktionen. Innere Unruhen, anhaltende politische
       Instabilität und eine weiter niedergehende Wirtschaft wären bei diesem
       Ausgang die Folgen. Im Ergebnis entstünde eine alte, rostige Tankstelle,
       auf der sich das Personal streitet, aber alle wissen, dass Nuklearwaffen
       in der Garage stehen. Kann man das wollen?
       
       Eine krachende Niederlage Russlands könnte also nur Besseres bringen, wenn
       das Kriegsende mit neuen Repräsentanten Russlands ausgehandelt würde. Dabei
       wird man kaum auf lupenreine Demokraten treffen. Einem Russland nach Putin
       könnte man aber einen Weg eröffnen, der aus der Aussichtslosigkeit
       herausführen könnte. Denkbar wäre eine Art Marshall-Plan für die Ukraine
       und Russland. Für Russland könnte das auch heißen, dem Land bei der
       Energietransformation zu helfen. Es hat nicht nur viel Öl, sondern auch
       viel Wind, Sonne und Platz.
       
       Dieses Angebot könnte auch bei einem Friedensvertrag wie in Option 3
       wichtig sein. Es wäre in beiden Fällen moralisch notwendig und politisch
       klug, Russland die Chance einer Zukunft zu eröffnen, damit nach dem Krieg
       nicht vor dem Krieg ist. Wir werden nur nicht bestimmen können, ob das Land
       diese Chance ergreift.
       
       Was könnte der Beitrag der deutschen Außenpolitik sein? Kein kleiner.
       Deutschland ist das Land, dem nach der krachendsten aller Niederlagen ein
       solcher Weg angeboten wurde. Nach 1945 brauchten viele Deutsche lange, um
       sich von den Gebietsansprüchen im Osten zu verabschieden. Eingebunden in
       eine feste Nachkriegsordnung und mit einer klaren Entwicklungsperspektive,
       ist es aber gelungen. Auch Russland wird wohl noch lange brauchen, seine
       imperialen Gelüste zu überwinden. Vielleicht wiederholt sich Geschichte
       aber ja doch ab und zu.
       
       3 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
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