# taz.de -- Folgen der Sanktionen für Russland: Fackel statt Export
       
       > Ist Russland vom europäischen Markt wirklich so unabhängig, wie es Moskau
       > stets behauptet? Eine Antwort liefert die Gazprom-Stadt Nowy Urengoi.
       
 (IMG) Bild: Im westsibirischen Nowy Urengoi befindet sich eines der größten Gasfelder Russlands
       
       MOSKAU taz | Weit oben am nördlichen Polarkreis in Westsibirien liegt das
       Geschichtsmuseum von [1][Nowy Urengoi]. Dort blinkt es blau und rot. Seit
       den 1980er Jahren erklärt hier Gazprom, wie die Förderung von Gas
       funktioniert. Ohnehin bestimmt Gazprom alles in dieser abgelegenen Stadt,
       in der neun Monate lang harscher Winter herrscht. Kein Ausländer darf ohne
       eine Sondergenehmigung des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB seinen Fuß
       in die Gashauptstadt Russlands setzen, knapp 3.500 Kilometer von Moskau
       entfernt.
       
       Nowy Urengoi ist die Gazprom-Stadt. Es gibt sie nur, weil sowjetische
       Wissenschaftler*innen in den 1960er Jahren hier eines der größten
       zusammenhängenden Gasfelder entdeckten. 230 Milliarden Kubikmeter Erdgas
       sollen hier jährlich gefördert werden. Das Geschichtsmuseum der Stadt
       zeigt, wohin das Gas gelangt. Auf der Karte mit den blau und rot blinkenden
       Lämpchen ist ein dichtes Geflecht rund um die Industriestadt zu sehen. Als
       wären die blauen „Adern“ aus Plastik ein Wollknäuel. Die dünnen Linien
       führen fast allesamt nach Europa, durch Belarus, durch die Ukraine sowie
       über Litauen und Polen nach Deutschland.
       
       Die Menschen in Nowy Urengoi leben davon, dass Russland 28 Prozent seines
       Gases exportiert. Sie zählten darauf, dass fast 60 Prozent des Gases in
       Europa russisches Gas war – bis zum Krieg in der Ukraine, den auch hier im
       Norden niemand so nennen darf. Europa wendet sich nun ab vom billigen
       russischen Gas. Russland drosselt seine Liefermengen, es ist sein
       eingeübtes Druckmittel. Im russischen Staatsfernsehen erklären „Experten“
       hämisch, welch „lächerliche und dumme Versuche“ die Europäische Union
       unternehme, um sich „selbst ins Knie“ zu schießen. „Wir haben den Trumpf in
       der Hand“, frohlockt da mancher und verweist nicht darauf, was Drosselungen
       auch für Russland bedeuten könnten.
       
       Gas als politisches Instrument 
       
       Russland setzt Gas immer wieder als politisches Instrument ein. Weil es
       weiß, wie verletzlich – und wie abhängig – die Europäer in dieser Frage
       sind. Die „Gasowschtschiki“, wie die Gasarbeiter in Russland genannt
       werden, wussten stets damit umzugehen. Wenn Russland die Lieferungen
       einstellt, merken das die Menschen in der Region vor allem durch die vielen
       Flammen in der Gegend. Denn Gazprom lässt das zu viele Gas, das das
       Unternehmen nicht durch die Röhren jagen kann, schlicht abfackeln.
       
       Was aber macht Russland langfristig mit dem Rohstoff, den es nicht
       verkaufen kann? Städte wie Nowy Urengoi – hier wohnen mehr als 100.000
       Menschen – leben von den Einnahmen aus dem Gasgeschäft. Russlands
       Gasbranche ist zwar weniger als die Ölbranche auf Ersatzteile aus dem
       Westen angewiesen, an die es wegen der Sanktionen nicht mehr so einfach
       gelangen kann. Doch auf gewisse Einbrüche stellt sich die Branche dennoch
       ein. Selbst kremlloyale Experten sprechen vorsichtig davon, dass Betriebe
       womöglich eingestellt werden könnten und dass Bohrlöcher dicht gemacht
       würden.
       
       Gas ist neben Öl die [2][wichtigste Einnahmequelle] des russischen
       Staatshaushalts. [3][Momentan profitiert der Staat] von hohen Preisen. Kann
       er kein Gas mehr exportieren, brechen diese Einnahmen ein. Dabei geht es
       nicht nur um Gazprom, sondern auch um etliche Steuereinnahmen, die damit
       zusammenhängen. Eine Alternative wäre, das Gas nach Asien zu exportieren,
       doch das ist gar nicht so einfach. Die Gaspipeline „Sila Sibiri“ nach China
       ist zwar lediglich zu 15 Prozent befüllt und das könnte aufgestockt werden.
       
       Über diese Röhre wird aber bereits seit zehn Jahren verhandelt, Peking ist
       kein leichter Partner. Moskau schaut sich natürlich auch auf weiteren
       Märkten um und hat Gespräche über eine Pipeline nach Indien wieder
       aufgenommen. Seit den Sowjetzeiten gibt es die Idee, Indien über
       Zentralasien und Afghanistan mit Gas zu versorgen. Dies sind aber
       aufwendige und langwierige Pläne. So schnell lässt sich das Europageschäft
       nicht ersetzen.
       
       Inwieweit sich die Gasgeschäfte auf die russische Wirtschaft auswirken,
       lässt sich allerdings schwer sagen, weil Russland im Zuge seiner
       „Spezialoperation“ in der Ukraine seit März keine Statistiken zu
       Wirtschaftszahlen mehr veröffentlicht.
       
       30 Jun 2022
       
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