# taz.de -- Artenschutz braucht Wandermöglichkeiten: Ein Netzwerk für den Luchs
       
       > Viele Schutzgebiete sind zu klein, um Populationen nachhaltig zu sichern.
       > In Österreich probiert man es mit Trittsteinen und Korridoren.
       
 (IMG) Bild: Der Luchs ist für das Gleichgewicht im Wald sehr wichtig
       
       GROßRAMING/JOHNSBACH taz | Der eine hat Pinselohren, ein geflecktes Fell
       und ist die größte Katze Europas. Der andere zeichnet sich durch schwarze
       Haarbüschel auf den blau schimmernden Fühlern aus und gehört zur Familie
       der Bockkäfer: Auf den ersten Blick haben Luchs und Alpenbock nicht viel
       gemeinsam. Aber beide gehören zu den seltensten Tieren der Alpen und beide
       sind streng geschützt. [1][Klimawandel und Flächenversiegelung schrumpfen
       ihre Lebensräume weiter]. In Österreich vernetzt man nun verschiedene
       Schutzgebiete, um den Spezies Wandermöglichkeiten zu verschaffen.
       
       Auch kleine Erfolge hat [2][die Artenschutzpolitik] in der Alpenrepublik
       dringend nötig. Zuletzt hat der interdisziplinäre Österreichische
       Biodiversitätsrat der Bundesregierung in Wien äußerst geringe Fortschritte
       attestiert. Im „Barometer 2021“ konstatierten die Expert:innen eine
       „Biodiversitätskrise“, auf die die Politiker:innen mutlos und vor
       allem zu langsam reagierten. Größtes Problem bleibe, dass täglich
       durchschnittlich 11,5 Hektar Fläche neu zugebaut würden. Denn so gebe es
       immer weniger Möglichkeiten, eine flächendeckende ökologische Infrastruktur
       aufzubauen, die Arten hilft, sich genetisch auszutauschen.
       
       Vorhandene Biotope über Brücken und Korridore zu verbinden, ist keine neue
       Idee, auch internationale Übereinkommen wie die Berner, die Berliner und
       die Alpenkonvention setzen auf solche Vernetzungen. Wie schwer sie aber
       umzusetzen sind, zeigt das aktuelle Projekt des bundeslandübergreifenden
       Netzwerks Naturwald gerade ganz konkret. Gestartet hat es der
       oberösterreichische Nationalpark Kalkalpen [3][in Kooperation mit dem
       steirischen Nationalpark Gesäuse] und dem ursprünglich
       niederösterreichischen Wildnisgebiet Dürrenstein.
       
       Eine deutliche Vergrößerung der Nationalparks selbst steht aktuell nicht
       zur Debatte. Sie wurden um die Jahrtausendwende – 1997 und 2002 – gegründet
       und waren damals schon schwer erkämpft. Dass sie überhaupt durchgesetzt
       werden konnten, verdanken sie, wie fast alle österreichischen
       Nationalparks, starken Protestbewegungen, die gigantische
       Wasserkraftprojekte verhindern wollten.
       
       ## Kein Klima für mehr Naturschutz
       
       „Dieses Momentum haben wir nicht mehr“, sagt Franz Sieghartsleitner. Er ist
       Fachbereichskoordinator des Nationalparks Kalkalpen und war damals selbst
       engagiert. Selbst die im Gründungspapier vorgesehene Erweiterung des
       oberösterreichischen Parks liegt auf Eis. Immerhin wurde das
       Unesco-Welterbe Wildnisgebiet Dürrenstein, das den größten
       zusammenhängenden Urwald im Alpenbogen beherbergt, im Juli auf das
       steirische Lassingtal ausgedehnt.
       
       Korridore zwischen den Schutzgebieten sollen nun niedrigschwelliger Reviere
       vergrößern und Wandermöglichkeiten für Tiere und Pflanzen schaffen. Doch
       auch das ist schwieriger als es klingt – biologisch wie juristisch und
       politisch sowieso, denn Naturschutz ist in Österreich Ländersache und das
       Projekt grenzübergreifend.
       
       Zunächst müsse man sogenannte Trittsteine identifizieren, sagt Erich
       Weigand, Zoologe im Nationalpark Kalkalpen. Das sind kleinere Flächen, die
       ganz ähnliche Umweltbedingungen wie die zu vernetzenden Schutzgebiete haben
       und den wandernden Arten als Zwischenstation dienen können. Zum längeren
       Ausruhen, je nachdem, wie langsam sich die Art fortbewegt, aber auch als
       Ort der Fortpflanzung, damit die nächste Generation den Weg fortsetzen
       kann. Diese Trittsteine müssen wiederum in Korridore eingebettet werden,
       über die sich die Arten bewegen können, ohne Siedlungen, Verkehrsstraßen
       oder andere Hindernisse überwinden zu müssen.
       
       ## 100 passende Einzelflächen
       
       Wie die Lebensräume an den Trittsteinen idealtypisch aussehen sollen, zeigt
       Sieghartsleitner gemeinsam mit Christoph Nitsch, dem Projektleiter des
       Netzwerks Naturwald, anhand der Urwaldzone des Kohlergrabens im
       oberösterreichischen Nationalpark Kalkalpen. Eingeladen zu der Exkursion
       hat Nationalparks Austria, der Dachverband der österreichischen
       Nationalparks.
       
       Die Zone findet sich ganz unspektakulär an einem buchenbewachsenen
       Steilhang, auf dem diverse Bäume beim Umstürzen Lücken hinterlassen haben.
       Während sie nun von allen möglichen Moosen, Pilzen und Insekten bevölkert
       werden, die das Holz zersetzen, wachsen an den lichteren Stellen junge
       Bäume nach und schließen so den Lebenszyklus des Waldes. „So ein Urwald ist
       ein Hotspot der Biodiversität“, sagt Weigand. Viele Arten, wie etwa die
       Urwaldkäfer, zu denen der Alpenbock gehört, kämen nur hier vor und seien
       damit ein Anzeiger für von Menschen unberührte Flächen.
       
       Auch wenn nicht alles tatsächlich Urwald, also unberührt ist, beinhaltet
       der Nationalpark Kalkalpen die größten Reste alter Buchenwälder in den
       Alpen und eine Vielzahl endemischer Arten.
       
       Den einzigen anderen – und größeren – Buchenurwald gibt es im kaum 30
       Kilometer entfernten Wildnisgebiet Dürrenstein. Knapp 8 Kilometer sind es
       bis zum Nationalpark Gesäuse, der von einem Mischwald aus Fichten, Tannen
       und Buchen dominiert ist. Dort sind viele Flächen wegen der extrem
       schroffen Felshänge so unzugänglich, dass auch hier noch kein Mensch
       Einfluss genommen hat. Deshalb finden sich auch hier Populationen des
       blau-schwarzen Bockkäfers.
       
       Insgesamt knapp 100 potenziell für den Alpenbock passende Einzelflächen
       zwischen diesen Habitaten haben die Expert:innen des Netzwerks
       identifiziert, sagt Projektleiter Nitsch. Da auch für andere Arten gesucht
       wurde, ist insgesamt eine mittlere dreistellige Zahl von interessanten
       Flächen zusammengekommen. Neben einzelnen [4][gut strukturierten
       buchengeprägten Wäldern] auch passende Forstflächen, die die Basis für
       künftigen Naturwald bieten können. Nur ein Bruchteil davon liegt jedoch
       auch innerhalb der kürzestmöglichen Verbindungen zwischen den großen
       Schutzgebieten. Auf diesen konzentrieren sich derzeit die weiteren
       Bemühungen.
       
       Denn mit der wissenschaftlichen Konzeption ist es nicht getan. Die
       Trittsteinflächen gehören im Wesentlichen zwei großen Forstbetrieben, den
       Steierischen Landesforsten und den Österreichischen Bundesforsten – und
       diese müssen überzeugt werden, in dem Biotopverbund mitzuarbeiten. Das
       Netzwerk Naturwald setzt dabei nach österreichischer Tradition auf den
       sogenannten Vertragsnaturschutz, also ein freiwilliges Zusammenwirken. Das
       bedeutet: Gegen eine jährliche Entschädigung oder eine Einmalzahlung
       verzichten die Forsten darauf, den Wald wirtschaftlich zu nutzen.
       
       Drei Trittsteine hat das Netzwerk auf diese Weise inzwischen gesichert,
       weitere sind in Arbeit, denn inzwischen hat auch der Bund Interesse
       bekundet und Fördermittel in Aussicht gestellt. Einer davon liegt im
       Rutschergraben, der die direkte Achse zwischen den Nationalparks bildet. Er
       ist rund 40 Hektar groß und zeichnet sich durch steile Hänge aus. Andreas
       Holzinger ist Direktor der Steiermärkischen Landesforste, denen die Flächen
       seit 120 Jahren gehören. Er zeigt gerne, wie er hier arbeiten will. „Da
       vorne“, er zeigt auf eine abgeknickte Fichte. „Da ist ein Borkenkäfernest.
       Da tun wir nichts, und es passiert auch nichts.“ Denn der Baum wächst etwas
       abseits, der nächststehende ist eine Lärche. „In die bohrt sich der Käfer
       nicht.“ Die Idee sei, „den Wald hier so zu führen, dass er irgendwann nicht
       zu unterscheiden ist vom Nationalpark“, sagt Holzinger. Dafür rechnet er
       mit einem Zeitraum von 50 bis 60 Jahren. So lange müssten Anzeiger wie der
       Alpenbockkäfer immer wieder beweisen, dass man auf dem richtigen Weg sei.
       
       Ein bislang noch ungelöstes Problem der Trittsteine ist das Wild. Weil hier
       kaum große Beutegreifer – „Prädatoren“, sagt man in Österreich – leben,
       müssen Jäger regelmäßig eingreifen. Zu den heimischen Rehen und Hirschen
       haben sich Wildschweine gesellt, die aus einem nahen Gehege ausgebüxt sind.
       „Insgesamt sind hier zu viele Tiere unterwegs“, sagt Holzinger. Deshalb
       gebe es strikte Zielabschussquoten für weibliche Tiere – so lange sich
       nicht genug Prädatoren angesiedelt hätten.
       
       Dabei setzt man hier allgemein auf den Luchs, dessen Wiederansiedlung auch
       bei den Nationalparkexperten Priorität hat. „Prädatoren sind notwendig für
       das Gleichgewicht im Wald“, sagt Sieghartsleitner. [5][Bei Wölfen, wo sich
       vor allem die allein umherstreifenden jungen männlichen Tiere die
       leichteste Beute suchten und deshalb von vielen Landwirten gehasst würden,
       und dem Allesfresser Bär, sei allerdings „das Konfliktpotenzial in der
       Region gewaltig“].
       
       Der Luchs werde eher geduldet, er geht Menschen aus dem Weg und jagt außer
       kleinen Tieren im Schnitt pro Woche ein Reh, dessen Kadaver er liegen
       lässt, sodass besonders im nahrungsarmen Winter auch andere Arten
       profitieren.
       
       Der Nationalpark Kalkalpen versucht deshalb seit fast 20 Jahren, wieder
       Luchse anzusiedeln. Immer wieder aber verschwanden Tiere, wurden angefahren
       oder geschossen. Aktuell leben noch sechs Luchse im Nationalpark, bis zu 25
       sollten es in der Region sein. Sie drohen aber inzwischen für Nachwuchs zu
       alt zu werden. Deshalb denken die Biologen bereits über neue Ankäufe nach.
       
       Dass man also nicht von einer gesicherten Population sprechen kann, ist für
       Sieghartsleitner ein Zeichen dafür, dass die Lebensbedingungen noch nicht
       wieder hergestellt sind. Die Reviergröße eines Luchses kann schon mal
       hundert Quadratkilometer betragen. „Wir bräuchten in Österreich viel mehr
       Exemplare, die in einem sozialen Austausch stehen, für eine nachhaltige
       Population“, so der Experte.
       
       Um mehr Menschen für den Biotopverbund zu gewinnen, soll beispielsweise der
       Luchstrail für das Problem sensibilisieren. Ein Wanderweg über 12.000
       Höhenmeter und 220 Kilometern, der die Schutzgebiete schon heute auf einem
       Weg verbindet, der auch für eine so mobile Art durchgängig wäre. Nur
       Begeisterung löst er aber nicht aus: Während der Exkursion waren die
       Hinweisschilder an manchen Stellen mutwillig zerstört.
       
       6 Feb 2022
       
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