# taz.de -- Berlin in den Goldenen Zwanzigern: Der Tanz auf dem Vulkan
       
       > Vor 1933 durfte das „lasterhafte“ Berlin noch feiern. Im Mai vor 89
       > Jahren wurde dann Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft verwüstet.
       
 (IMG) Bild: Wusste sich wohl zu amüsieren in Berlin: Marlene Dietrich
       
       Hier ist’s richtig“, prangte es damals auf dem Aushängeschild in der
       Motzstraße Ecke Kalckreuthstraße. Das stimmte auch. Ebenda in dem
       Tingeltangel namens „Eldorado“ mitten in Schöneberg war es richtig. Richtig
       schräg, richtig schrill, richtig schön. Das von Ludwig Konjetschni
       gegründete Etablissement war eines der populärsten und prickelndsten Venues
       der queeren Community in ganz Berlin.
       
       Der Name war Programm. Denn es herrschten die Goldenen Zwanziger, und
       solche „Transvestitenbetriebe“ boten einen Tapetenwechsel, eine Zuflucht
       aus dem grauen, stets brauner werdenden Alltag. Die Vergnügungsstätten, in
       denen Varieté und Voyeurismus einander hautnah tangierten, ließen Hetero-
       und Homosexuelle aus der Hautevolee lustvoll aufeinanderstoßen. Curt
       Morecks 1931 veröffentlichter „Führer durch das lasterhafte Berlin“ feierte
       das Ambiente begeistert. Das Tanzbein schwingen in Abendkleid und Smoking,
       Kuscheln in Séparées. Etepetete trifft Erotik. Stammgästinnen wie Marlene
       Dietrich und Claire Waldoff gaben sich dort die Klinke in die Hand. Gern
       gesehen war auch der [1][bahnbrechende, jüdische Sexualforscher Magnus
       Hirschfeld], den man in der Community liebevoll als „Tante Magnesia“
       bezeichnete.
       
       Hirschfeld, gleichsam der „Einstein des Sex“, der bereits 1919 in dem
       wegweisenden Streifen „Anders als die anderen“ sich selbst gespielt hatte,
       führte 1930 den ersten bekannten geschlechtsangleichenden chirurgischen
       Eingriff durch. Der ehemalige Sanitätsoffizier der Armee kämpfte engagiert
       gegen den Paragraf 175, eventuell nicht ahnend, dass es bis 1994 dauern
       würde, um die seit 1872 in Deutschland herrschende Kriminalisierung der
       Homosexualität zu beenden. Anderes ahnte er schon. Etwas nicht minder
       Böses, etwas Bevorstehendes. Am 6. Mai 1933 wurde sein weltweit
       renommiertes Institut für Sexualwissenschaft in Tiergarten von
       nationalsozialistischen Studenten überfallen und verwüstet. Wenige Tage
       später, am 10. Mai vor genau 89 Jahren, wurden die Bestände seiner
       umfangreichen Bibliothek mediengerecht von den Nazis auf dem Opernplatz in
       die Flammen geworfen. „Wir wollen keine Entsittlichung des Volkes, darum
       brenne, Magnus Hirschfeld“, so lautete der Feuerspruch für den „Apostel der
       Unzucht“.
       
       Der Rest ist Geschichte. Und darin steckt die Lehre, aber leider auch die
       Leere. Es sind nicht nur die Lücken im Gedächtnis der Ewiggestrigen, die
       wie klaffende Schlaglöcher den Weg in die Zukunft gefährden. Nein, es sind
       auch die fehlenden historischen Kenntnisse, die viele Millennials und
       Angehörige der Gen Z auszeichnen. Erstaunlich wenige junge Menschen kennen
       den Rosa Winkel, das Kainsmal der im KZ inhaftierten und vernichteten
       homosexuellen Männer, noch weniger begreifen, dass auch lesbische Frauen,
       wie in Ravensbrück, von den Nazis verfolgt und ermordet wurden.
       
       Als der Wonnemonat anbricht, wandere ich durch die Weimarer Republik.
       Weimar 2.0. Der Weg zwischen Café und Autodafé, der zeremoniellen
       Verbrennung verfemter Bücher, ist kurz. Nunmehr werden die Flammenwerfer
       eher im Internet getätigt. Homo- und transphobe Hetze fühlt sich in den
       „sozialen“ Medien wohl, auf den Straßen von Spree-Athen leider auch.
       Täglich werden verbale und körperliche Angriffe auf queere Personen
       gemeldet. Safe Spaces scheinen fiktive Vorstellungen zu sein. Dafür haben
       wir über Generationen hinweg dieser Stadt Farbe und Frische verliehen. Das
       ist auch gut so.
       
       Doch die Metropole, die mit uns wirbt, um ihre Weltoffenheit validieren zu
       lassen, erweckt den Eindruck, unsere Bedürfnisse in puncto Sicherheit
       vergessen zu haben. In einer Woche wird der Internationale Tag gegen die
       Homo- und Transphobie, IDAHOT genannt, gewiss zelebriert. Aber nach IDAHOT
       dürfte man uns nicht wie eine heiße Kartoffel fallen lassen.
       
       10 May 2022
       
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