# taz.de -- Bob Dylans neues Album: Korridor mit tausend Türen
       
       > Die Sphinx spricht: Bob Dylan findet auf seinem neuen Album, „Rough and
       > Rowdy Ways“, zur Misere der USA interessante historische Analogien.
       
 (IMG) Bild: „Was weißt du über das Sand-Creek-Massaker von 1864?“ Dylan auf einem Konzert im Jahr 2004
       
       Mit „Rough and Rowdy Ways“ veröffentlichte Bob Dylan sein 39. Studioalbum,
       das erste mit eigenen Songs [1][seit „Tempest“ vor acht Jahren]. Es
       erscheint eine Unmenge an Rezensionen – und wie immer: Die Schreibenden
       versuchen, das neue Werk zu durchdringen, zu ergründen, was der Künstler
       sagen will. Aber auch diese Schatzkiste mit ihrem funkelnden Inhalt nur
       kognitiv erfassen zu wollen geht an Dylans Kunst vorbei. Weit vorbei.
       
       Meine Freundin Christl gehört wie Bob Dylan zur unmittelbaren
       Nachkriegsgeneration. Sie lebt seit mehr als 70 Jahren in der
       ostbayerischen Oberpfalz, spricht kein Englisch und ist einer der größten
       Dylan-Fans (dort sagt man „Dülln“), die ich kenne. Als ich mit neun Jahren
       mit dem Radio unter der Bettdecke Dylan-Fan wurde, verstand auch ich noch
       kein Englisch. Aber ich verstand Dylan.
       
       Denn es gibt kein gutes Lied mit einem schlechten Text. „I can’t sing a
       song that I don’t understand“, heißt es in dem neuen Song „Goodbye Jimmy
       Reed“. 12Bar Blues, großartige Performance von Bob und seiner Touringband.
       Aber warum ausgerechnet Jimmy Reed? Natürlich, Reed spielte Gitarre und
       Mundharmonika gleichzeitig. Die Harmonika festgezurrt an einem Gestell um
       seinen Hals. Ja, klar. Soll das ein Selbstgespräch sein? Und vor allem
       warum jetzt im Jahr 2020? Aber lassen wir das.
       
       „I can’t sing a song that I don’t understand.“
       
       Dass Dylan den Song versteht, merkt man definitiv beim fantastischen „Key
       West“. Eine gesangliche Meisterleistung, mit der seine Fans vor jedem
       Gericht der Welt beweisen können, dass er nicht nur der größte Songwriter,
       sondern eben auch der größte Sänger der letzten hundert Jahre ist.
       
       ## Jubelnd durchdrehen
       
       Seit 39 Jahren besuche ich [2][Konzerte von Bob Dylan]. Ich höre die neuen
       Lieder und stelle sie mir in Liveversionen vor. Auf welche Songs freue ich
       mich, vor welchen hab ich Angst? Bei „Key West“ wird Christl strahlen, ich
       werde jubelnd durchdrehen – bei „Crossing the Rubicon“ eher das Bier holen
       gehen.
       
       Das neue Album ist Dylans lohnendstes Werk mindestens seit „Love and Theft“
       von 2001. Dazwischen gab es insgesamt sieben Alben, drei mit
       Originalmaterial, aber auch die hundert Folgen der „Theme Time Radio Hour“.
       Diese Radiosendungen (immer noch nachzuhören im Internet) waren wie Dylans
       Musik ein Korridor mit tausend Türen.
       
       „Was weißt du über das Sand-Creek-Massaker von 1864?“, fragte Dylan zum
       Beispiel einen Interviewer. Die Thematik ist sowohl mir als auch dem
       Interviewer Douglas Brinkley entfernt geläufig. Damals wurden Hunderte
       Cheyenne und Arapahoe-Indianer von US-Truppen in Colorado abgeschlachtet.
       Mit Dylan geht man auf Erkundungstour. In Büchern, im Internet, in Filmen,
       aber auch in seinen Songs.
       
       ## Interview in der New York Times
       
       Und es ist bestimmt kein Zufall, dass im Zusammenhang mit „Rough and Rowdy
       Ways“ die Rede gerade auf dieses Massaker kommt. Das Album atmet tiefe
       Endzeitstimmung. Aber, ich möchte fast sagen, auf eine beruhigende Weise.
       Irre, oder?
       
       Anlässlich des neuen Albums hat Dylan der New York Times, genauer gesagt
       jenem Douglas Brinkley, letztes Wochenende ein Interview gegeben. Die
       Sphinx spricht. Das ist schon mal an sich bemerkenswert – und Dylans sehr
       direkte Antworten auf Brinkleys Fragen setzen die Songs des Albums dann
       auch in einen Kontext zum Zeitgeschehen. Eigentlich unglaublich, wenn man
       sich seine jahrzehntelangen Katz-und-Maus-Spiele mit den
       Musikjournalist*innen, die bestens dokumentiert sind, vor Augen hält.
       „Something is happening, but you don’t know what it is, do you, Mr. Jones?“
       
       Dabei wäre es so einfach: Einen Schritt zurücktreten bitte, sagt er im
       Interview, und wie bei einem Gemälde das Ganze ins Blickfeld nehmen.
       
       ## Der falsche Prophet
       
       „I ain’t no false prophet“, heißt es auf dem neuen Album. Ist das Zufall
       oder Absicht? Da fällt mir doch gleich wieder die Oberpfalz ein: Der
       ehemalige Regensburger Theologieprofessor Josef Ratzinger – der spätere
       Papst Benedikt – erklärte in seinem Buch „Johannes Paul II. – Mein
       geliebter Vorgänger“, dass er 1997 vergeblich versucht habe, den Auftritt
       von Dylan beim Kirchentag in Bologna zu verhindern, und nannte den Sänger
       einen falschen Propheten. Würde mich wundern, wenn das Mr. Bob nicht
       bekannt wäre.
       
       Bob Dylan ist Akteur und Chronist zugleich. Einer der Chronisten freilich,
       die alles durcheinanderwerfen, um es neu zusammenzusetzen. Zeitgeschichte
       ist Pop-Historie, und in „Murder Most Foul“, dem Zehnten, dem Finale des
       neuen Albums, spürt man in jeder gesungenen Zeile die ungebrochene Freude
       an der eigenen Schaffenskraft des 79-jährigen Rockstars. Vor zwei Monaten
       hat er das Lied vorab mitten in die Pandemie platzen lassen: die Geschichte
       der 1960er Jahre – von Präsident Kennedys Ermordung bis zum
       Woodstock-Festival. „Murder Most Foul“ dauert 17 Minuten, und doch ist es
       der Song, der bei jedem Hören zu schnell vorbeigeht und einen die
       Repeat-Taste drücken lässt.
       
       Im Times-Interview spricht er über den Ozean am Point Dume, über die
       Pandemie, über die eingeengte Weltsicht seiner eigenen Generation und über
       George Floyd: „Lasst uns hoffen, dass die Familie von George Floyd und
       unsere ganze Nation so schnell wie möglich Gerechtigkeit erfahren wird.“
       
       Der Meister der Andeutung äußert sich sehr deutlich.
       
       ## Nur nicht festnageln lassen
       
       Sonst spricht und textet er immer noch getreu dem Credo: Nur nicht
       festnageln lassen. Ja, das hat ihn rückblickend vor manchen Peinlichkeiten
       bewahrt und hat so viele seiner Kompositionen gerade deshalb zu Liedern für
       die Ewigkeit gemacht. Das einzige Thema, bei dem Dylan auch in seinen Songs
       immer glasklar formulierte, egal ob es um „Medgar Evers“, „The Ballad of
       Emmett Till“, „The Lonesome Death of Hattie Carroll“, „George Jackson“ oder
       in seinem grandiosen Südstaaten-Epos von 1983 um „Blind Willie McTell“
       ging, das war der Rassismus der Weißen gegenüber den Schwarzen in den USA.
       
       „And he’s taught how to walk in a pack / Shoot in the back with his fist in
       a clinch. / To hang and to lynch. / With his head ’neath his hood. / To
       kill with no pain. / Like dog on a chain. / He ain’t got no name / He’s
       only a pawn in their game.“
       
       Diese Zeilen schrieb einst der 22-jährige Dylan und lieferte damit die bis
       heute grausam und präzise gültige Beschreibung der rassistischen
       Sozialisation in einem rassistischen System.
       
       ## Polizei- und Justizwillkür
       
       Und 1975 zuckten auch die Leiber der deutschen Jugendlichen in den
       Dorfdiscos achteinhalb Minuten lang zu Dylans Kreuzweggeschichte über den
       schwarzen Mittelgewichtsboxer [3][Rubin „Hurricane“ Carter.] Polizei- und
       Justizwillkür, Vorurteile und Vorverurteilung. Daran hat sich nichts
       geändert. Goddamn!
       
       „Es hat mich ohne Ende krank gemacht, zu sehen, wie George zu Tode gequält
       wurde“, gestand Dylan in seinem Interview mit der New York Times. „The
       Lonesome Death of George P. Floyd“, ich denke, wir werden noch so ungefähr
       sieben, acht Jahre auf diesen neuen Dylan-Song warten müssen. Aber er wird
       beeindruckend sein.
       
       PS: Innen im Klappcover findet sich ein Foto von Jimmie Rodgers und der
       Carter Family aus den 1930er Jahren. Und Sara Carter ist es auch, die nach
       meiner Meinung die Einzige wäre, die Dylan die Position als „greatest
       Singer of the last 100 years“ streitig machen könnte. Soll das ein Zufall
       sein?
       
       Erhard Grundl ist kulturpolitischer Sprecher der Grünen Bundestagsfraktion.
       
       19 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Bob-Dylans-Album-Tempest/!5083949
 (DIR) [2] /Bob-Dylan-spielte-in-Berlin/!5583139
 (DIR) [3] /Ex-Boxer-Rubin-Hurricane-Carter-ist-tot/!5043891
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Erhard Grundl
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Musik
 (DIR) Klassiker
 (DIR) USA
 (DIR) Musik
 (DIR) Musik
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Musik
 (DIR) Popmusik
 (DIR) Literatur
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Ezra Furman spielte in München: Unstillbare Lust am Aufbegehren
       
       Die US-Musikerin Ezra Furman hat mit ihrer Band in der Freiheitshalle in
       München gespielt – und begeisterte mit neuen Hymnen der Zärtlichkeit.
       
 (DIR) 80 Jahre Bob Dylan: Hey, Mr. Tambourine Man
       
       Songwriter, Nobelpreisträger, Motorradfahrer: das und viel mehr ist Bob
       Dylan. Am 24. Mai wird der Mann mit dem abwesenden Blick 80 Jahre alt.
       
 (DIR) Schule für Mundharmonika in Berlin: Klein und kräftig
       
       Die Mundharmonika ist die Leidenschaft von Marko Jovanović, mit einem
       Festival wollte er das Instrument ans Licht holen. Dann kam Corona.
       
 (DIR) Neues Album von Emma Tricca: Leise, aber keine Leisetreterin
       
       Die Welt sollte die eleganten Folkstücke der italienischen Sängerin Emma
       Tricca hören. Das Album „St. Peter“ spielt mit Feuer und Eis.
       
 (DIR) Neues Album „Chromatica“ von Lady Gaga: Selbstheilung durch Plastikpop
       
       Lady Gaga geht musikalisch ständig neue Wege. Auf ihrem neuen Album
       „Chromatica“ ist sie auf der Suche nach sich selbst im Eurotrash gelandet.
       
 (DIR) Kommentar Nobelpreis für Bob Dylan: Diese Auszeichnung ehrt die Literatur
       
       Die schwedische Akademie hat für Bob Dylan keineswegs die Standards
       gesenkt. Im Gegenteil: Sie zeigt ein zeitgemäßes Literaturverständnis.
       
 (DIR) Zu Bob Dylans 70. Geburtstag: Was ist dran am alten Mann?
       
       Schon gut, heute wird er 70 Jahre alt. Aber gibt es einen Grund, im
       Zeitalter der Lady Gaga noch Bob Dylan zu hören?