# taz.de -- Brexit-Demos in Großbritannien: Mayday, Mayday
       
       > Stoppt den Brexit, fordern die einen. Stoppt den Verrat am Brexit,
       > fordern die anderen. Für beide ist Theresa May an allem schuld.
       
 (IMG) Bild: Der Marsch „gegen den Verrat am Brexit“ quer durch England – an der Spitze: Nigel Farage
       
       LINBY/LONDON taz | Das verschlafene Dorf Linby nördlich von Nottingham
       mitten in England mag schon lange nicht so einen Aufruhr erlebt haben wie
       an diesem Samstag. Gegen 8.30 Uhr fährt ein offener Doppeldecker an der
       Dorfkneipe vor. „Glaube an Großbritannien“ steht auf dem Bus, darunter: „Es
       ist an der Zeit, dem Volk das zu liefern, wofür es gewählt hat.“ Auf dem
       Oberdeck zeigt sich schließlich der Grund für den Auflauf: Nigel Farage,
       originalgetreu in Tweedmantel und Hut.
       
       Farages Brexit-Kampagne „Leave Means Leave“ hat zu einem 14-tägigen
       „Austrittsmarsch“ gerufen, der in Sunderland in Nordostengland begann und
       am kommenden Freitag in London enden soll. Heute ist Tag Acht. „Wenn sie
       uns übergehen, werden wir marschieren, denn wir werden unabhängig sein“,
       begrüßt der ehemalige UKIP-Chef die versammelten.
       
       Während der Marsch durch England zieht, hat Premierministerin Theresa May
       bei der EU [1][erfolgreich die Verschiebung des Brexit beantragt], und aus
       dem „Austrittsmarsch“ für den Brexit wurde ein „Verratsmarsch“ gegen die
       Verschiebung. „Ich finde das Wort Verrat moderat“, erläutert Farage
       gegenüber der taz. „Theresa May hat seit 2016 108 mal wiederholt, dass wir
       am 29. März die EU verlassen.“ Und sowohl Konservative als auch Labour
       hätten bei den Wahlen 2017 versprochen, „das Referendumsergebnis zu
       respektieren.“
       
       Helen Roberts, 49, ist extra mit ihrem 9-jährigen Sohn aus dem malerischen
       Peak-District-Städtchen mit dem normannischen Namen Chapel-en-le-Frith
       gekommen. „Ich fühle mich um meine Stimme betrogen,“ erklärt sie. Der
       ehemalige Bergarbeiter Andrew Smith, aus Nottingham und seine Frau Ann,
       beide 59, betonen, dass es bereits ein Referendum gegeben hätte, ein
       weiteres sei nicht nötig.
       
       So wie sie denken in dieser Gegend viele. Im nahen Bezirk Mansfield
       stimmten 2016 70,9 Prozent der Wähler*innen für den EU-Austritt. Der Marsch
       ist klein – nur etwa 200 Personen – aber viele Autofahrer hupen den
       Marschierenden solidarisch entgegen.
       
       ## Britannien ohne Groß
       
       Als die Wandergesellschaft beim Café eines Golfklubs Rast macht, erzählt
       Chris Needham, 60, der hier zufällig mit seinem Hund spazieren geht, dass
       er zwar Farage nicht mag, den Brexit aber schon. Bis zur Pensionierung war
       Needham Gewerkschaftsfunktionär. Die Arbeiter hier seien für den Brexit,
       sagt er. „Die EU war in der Grundidee nicht schlecht, auch zur
       Friedensschaffung, aber zu viele Länder zahlen nicht in die gemeinsame
       Kasse.“ Aber er stehe andererseits entschieden gegen Fremdenfeindlichkeit.
       „Viele Einheimische sind einfach fauler als Migranten, die von 3000 Meilen
       entfernten Orten anreisen um hier zu arbeiten, und sie würden garantiert
       nicht für die niedrigen Löhne arbeiten.“
       
       Nur in einer Nebenbemerkung erwähnt Needham dann etwas, das zunächst
       zusammenhanglos erscheint. „Ich kann nicht mal meine Fahne hier aufhängen.“
       Er meint die englische Fahne, die außerhalb von Fußballspielen und
       Staatsakten in England dem rechten Rand vorbehalten ist.
       
       Mit solchen Bemerkungen deutet Needham auf etwas, was auch andere als
       Ursache des Brexit identifiziert haben: das fehlende Selbstbewusstsein
       Englands, symbolisiert dadurch, dass England das einige Land des
       Vereinigten Königreichs ohne eigenes Parlament ist – anders als Wales,
       Schottland und Nordirland. Die 69-jährige Großmutter June aus Mansfield,
       die ihren Nachnamen nicht nennen will und ihr Leben lang in Billigjobs
       arbeitete, bringt es auf den Punkt: Ihr fehlt das Groß in Großbritannien.
       „Wir haben Industrie und Rang verloren. Deshalb wählte die Mehrheit ‚Out‘.
       Wir sollten schon längst raus aus der EU sein.“
       
       200 Kilometer weiter südlich marschieren nicht 200 Demonstranten, sondern
       Hunderttausende. Eine Million Menschen reklamiert die Kampagne Peoples
       Vote, die ein zweites Referendum für den Ausstieg aus dem Brexit fordert,
       für ihren Großaufmarsch, der sich am Samstag kilometerweit durch die
       Straßen Londons zieht, vom Hyde Park bis zum Platz vor dem
       Parlamentsgebäude. Sie wollen nicht raus aus der EU. Sie fühlen sich als
       Teil davon und wollen nicht, dass man ihnen das nimmt.
       
       Es ist ein Karneval, mit selbstgemachten Schildern, Kostümen und
       Europafahnen, familienfreundlich mit vielen Kindern. Die meisten
       Demonstranten kommen nicht einmal in die Nähe des Parlamentsgebäudes. Vor
       der Bühne ist die Menge sogar so eng, dass es zu Reibereien kommt, wenn
       Leute rein oder raus wollen. Dennoch bleibt es friedlich. Vor Downing
       Street werden pausenlos die Dauerparolen gerufen, von „Bollocks to Brexit“
       zu „Theresa May Must Go“.
       
       Tessa Robinson, und Lottie Norton, beide 24 und aus Oxford, fühlen sich um
       ihre Zukunft betrogen, „weil Menschen für den Scheiß-Brexit gelogen haben“.
       Louis Mason, 17 und Oscar Bissett, 16 beide aus Colchester östlich von
       London, wollen ein zweites Referendum, denn „als junge Leute wollen wir
       nicht 50 Jahre warten müssen, bis es dem Land nach diesem Schock in anderer
       Form wieder besser geht“. Die 61jährige Dozentin Marvie Chambers aus
       Wolverhampton, die mit einem selbstgemalten Plakat „Der britische
       Überlegenheitskomplex brachte uns in diese Krise“ demonstriert, sagt, das
       Vereiteln des Brexit sei nur der Anfang eines Umdenkens, das auch andere
       Länder in Europa erreichen müsste.
       
       „Schauen Sie aus ihrem Fenster: hier sind wir, das Volk!“ ruft, an die
       Adresse von Theresa May gerichtet, Tom Watson, der stellvertretende
       Labour-Chef. Tatsächlich ist diese Kundgebung, was die Redner angeht,
       breiter aufgestellt als frühere. Es sind jetzt nicht mehr nur Liberale,
       schottische Nationalisten, Londons Bürgermeister Sadiq Khan und ein paar
       Abtrünnige der großen Parteien. Auch im Mainstream von Labour und
       Konservativen organisieren sich jetzt die EU-Freunde.
       
       Tom Watson gründete nach dem Abgang mehrerer Labourabgeordnete eine neue
       Gruppe innerhalb der Fraktion namens Future Britain, als direkter
       Gegenspieler des Corbyn-Flügels. Neben Watson bemühen sich auch die
       konservativen Abgeordneten Dominic Grieve und Phillip Lee um ein paar
       Worte. Auffällig ist allerdings das Fehlen walisischer und nordirischer
       Politiker*Innen auf der Tribüne. Aus Wales spricht nur die
       Studentenvertreterin Gwyneth Sweatman, aus Nordirland der 16-jährige
       Schüler Pearse Smith.
       
       ## Wut auf May
       
       Die Spaltung im Land spricht die Labour-Abgeordnete Jess Phillips an. Ihre
       Entscheidung für ein zweites Referendum sei keine leichte gewesen, da ihre
       Wahlkreis in Birmingham 2016 für den Brexit gestimmt hatte, sagt sie. Doch
       sie vertraue ihrer Wählergemeinde, mit der sie ständig im Kontakt stehe,
       mehr als Theresa May. „Wenn May von der Anerkennung der britischen
       Öffentlichkeit spricht, mag sie von einen imaginären Freund sprechen, nicht
       von wahren Menschen.“
       
       Die vielen Reden haben das Auffordernde gemeinsam, und einen Grad von
       Ungewissheit und des Wünschens. Man will sich nicht unterkriegen lassen,
       man verlangt das Recht auf Mitsprache. Im Gegensatz zu den Leuten des
       Leave-Marsches, die auf ihr bestehendes Recht pochen, ausgedrückt durch das
       erste Referendum von 2016. Allen gemeinsam scheint nur die Wut auf May zu
       sein, dieses Debakel kreiert zu haben.
       
       Farages Urteil zum People's Vote-Marsch fällt kurz und knapp aus. „Unser
       Marsch ist symbolisch, die in London sind nicht die wahre Mehrheit,“ sagt
       er. Dabei macht er keinen Hehl daraus, dass er mit seiner neuen „Brexit
       Party“ für eine etwaige Europawahl bereitstehe. Und bei einer Veranstaltung
       in den vergangenen Woche bestätigten auch die Abgeordneten der „Independent
       Group“, die abtrünnige Brexit-Gegner von Labour und Tories vereint, dass
       sie bereit seien für die Europawahl. Die Politik überlegt noch, aber auf
       der Straße hat die nächste Etappe des britschen Europastreits längst
       begonnen.
       
       24 Mar 2019
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /EU-beschliesst-neuen-Brexit-Zeitplan/!5579736
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniel Zylbersztajn
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Brexit
 (DIR) Großbritannien
 (DIR) Theresa May
 (DIR) Nigel Farage
 (DIR) Großbritannien
 (DIR) Schwerpunkt Brexit
 (DIR) Schwerpunkt Brexit
 (DIR) Schwerpunkt Brexit
 (DIR) Schwerpunkt Brexit
 (DIR) Schwerpunkt Brexit
 (DIR) Schwerpunkt Brexit
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Pro-Brexit-Proteste in London: In Feindesland
       
       Am Tag, an dem Großbritannien die EU doch nicht verlassen hat, füllen
       Brexiteers das Regierungsviertel. Es gibt zwei getrennte Kundgebungen.
       
 (DIR) Brexit-Abstimmung in Großbritannien: Unterhaus entscheidet gegen May
       
       Die britischen Abgeordneten erhöhen den Druck. Gegen den Willen der
       May-Regierung wollen sie nun selbst über Alternativen zum Brexit-Deal
       abstimmen.
       
 (DIR) Warum die Briten für den Brexit stimmten: Wir befanden uns wieder im Krieg
       
       Es gibt verschiedene Gründe dafür, warum Menschen in Großbritannien den
       Brexit befürworten. Eine historische Spurensuche.
       
 (DIR) Brexit-Streit bei den Torys: Wer folgt auf Theresa May?
       
       Die Premierministerin ist ausgebrannt, ihr Brexit-Kurs ist am Ende. Die
       Konservativen sondieren, wie eine Übergangsnachfolge aussehen könnte.
       
 (DIR) Streit um Brexit: Druck auf May steigt und steigt
       
       Viele Briten demonstrieren für ein neues Brexit-Referendum, Millionen
       fordern dasselbe in einer Petition – und die geplante dritte
       Brexit-Abstimmung wackelt.
       
 (DIR) EU beschließt neuen Brexit-Zeitplan: 22. Mai ist Ausstieg – vielleicht
       
       Nach stundenlangen Verhandlungen einigt sich der EU-Gipfel in Brüssel auf
       einen neuen Zeitplan zum Brexit. Ob der aber so kommt, ist ungewiss.
       
 (DIR) EU billigt Brexit-Aufschub: Eine kurze Verschiebung
       
       Die britische Regierung wollte den EU-Austritt um drei Monate verschieben.
       Die Europäische Union bietet weniger an – und stellt Bedingungen.