# taz.de -- CTM-Konzert in der Volksbühne: Geistertanz zur Großstadtsymphonie
       
       > Der CTM veranstaltete endlich wieder einen dicht gedrängten Konzertabend.
       > Mit dabei: Marina Herlop, Space Afrika und die sagenhafte Moor Mother.
       
 (IMG) Bild: Klangpoetin mit Kabeln: Moor Mother bei ihrem Auftritt in der Volksbühne
       
       Zwischen den Polen Utopie und Dystopie, zwischen Hoffnung und Verdüsterung
       bewegte sich der Freitagabend. Das diesjährige CTM-Festival hatte in die
       Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz eingeladen.
       
       Das Theater trägt seit der Spielzeit 2021/22 wieder seinen programmatischen
       Namenszusatz; CTM, die renommierte Veranstaltungsreihe „for adventurous
       music and related arts“ konnte coronabedingt zwei Jahre lang nur
       eingeschränkt stattfinden. Insofern ist „Contact“, das CTM-Motto des Jahres
       2022, auch eine Aussage für sich.
       
       Den zuversichtlichsten Part des dreigeteilten Abends bildete gleichzeitig
       seinen Auftakt: Die katalanische Musikerin Marina Herlop mit einem
       Quartett, das aus zwei Sängerinnen, einem Schlagzeuger und Herlop selbst
       bestand. Die Komponistin, Sängerin und Pianistin spielte Synthesizer und
       Nord Stage 3-Keyboard, eines, das gleichzeitig als Keyboard, Orgel und
       Synthesizer fungieren kann.
       
       Dazu noch eine Reminiszenz an ein stilprägendes Instrument der
       Achtzigerjahre, zwei elektronische Drum Pads, denen Herlop und ihr Drummer
       charakteristisches Ploppen und Stakkato entlockten.
       
       Für die Bandbesetzung, in der Marina Herlop auftrat, war es der erste
       Auftritt überhaupt. Er geriet zu einer gelungenen Überraschung: Die
       zuzeiten sehr minimalistische Soundästhetik ihres dritten Albums
       verwandelte die Herlop Combo in ein robustes, an Tempel- und
       Spieluhrmelodien erinnerndes Set. Als Inspiration nennt Herlop die
       karnatische Musik Südindiens, in der gesangliches und instrumentales
       Musizieren nicht klar voneinander getrennt werden können. Der Titel von
       Marina Herlops Album verweist allerdings auf ein menschengemachtes Desaster
       in Europa: „Pripyat“, die ukrainische Geisterstadt, die nach dem
       Reaktorunglück von Tschernobyl 1986 geräumt worden ist.
       
       In Manchester, wohin nach einer kurzen Umbaupause das Duo Space Afrika mit
       einer Sound-Video-Performance führte, hatte indes die Geisterstunde
       geschlagen. Der grobkörnige, zu weiten Teilen in Schwarz-Weiß und
       Soundschlieren gehaltene Trip durch die Industrieerbe-Metropole im
       Nordwesten Englands bildete den herben Teil des Abends. Das ist keine
       Kritik, im Gegenteil. Space Afrika, die Musiker Joshua Inyang und Joshua
       Reid, bauten aus Sequenzen ihres zuzeiten etwas lang geratenen Albums
       „Honest Labour“ eine dunkle, flächige Großstadtsymphonie, in die sie an
       markanten Stellen böses Dröhnen und Scheppern schalteten. An anderer Stelle
       zitierten sie einen der Höhepunkte ihres Albums, den Industrial HipHop
       „B£E“ mit dem Rapper Blackhaine. Aber es waren eben nur Fragmente, so wie
       die auf den Bühnenvorhang hinter den beiden Musikern projizierte Stadt
       unwirklich zerfaserte.
       
       Als Leitmotiv ging am ehesten noch das Arndale-Einkaufszentrum durch, ein
       21-geschossiger Block, dessen nächtliches Blinken alles andere als
       einladend wirkte. Autos und Passanten wechselten in den Rückwärtsgang,
       vorbei an einem so abrupten wie beiläufigen Auffahrunfall. Als kurz vor dem
       Ende die Leinwand nicht schwarz, sondern weiß wurde, wirkte gerade das
       bedrohlich.
       
       Dringlich hingegen geriet der abschließende Teil des Abends, der aufgrund
       einer Verzögerung am Flughafen Frankfurt am Main vom Publikum lang
       erwartete Auftritt der afroamerikanischen Musikerin, Dichterin und
       Aktivistin Camae Ayewa, bekannt geworden unter ihrem Pseudonym Moor Mother.
       Hatte bereits den vorherigen Programmpunkten des Abends etwas
       Ritualistisches angehaftet – auch das ist keine Kritik –, so wurde Moor
       Mothers Auftritt zur Geisterbeschwörung und -austreibung.
       
       Mit einem besseren Sound hätte er das noch mehr sein können, dafür hatte
       die wahrscheinlich mit Blick auf die nahende Mitternacht kurze Performance
       eine hektische Rasanz, deutlich anders als auf Moor Mothers durchweg
       grandiosem aktuellen Album „Black Encyclopedia of the Air“. Sing weiter,
       Lady Day, war zu hören: Lady Day, die mit nur 44 Jahren gestorbene
       Jazzsängerin Billie Holiday. Und nein, es waren nicht die Drogen, egal, was
       die Bücher der Männer sagen. Ein Zitat aus „Mississippi Goddam“, der
       Bürgerrechtshymne Nina Simones, wurde mit maschinellem Noise Funk
       unterlegt. Free Jazz, HipHop und Geräuschmusik aller Couleur gehen bei Moor
       Mother eine utopische und geschichtsbewusste Mischung ein.
       
       Dass die Gegenwart keine Sitcom ist, wissen Künstlerin und Publikum. „Obey
       Apocalypse Energy“ stand auf dem Jutebeutel einer Besucherin. Die nächste
       Möglichkeit, Moor Mother in Berlin zu erleben, gibt es Mitte August auf dem
       A L’Arme-Festival.
       
       30 May 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Robert Mießner
       
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