# taz.de -- Kulturwissenschaftler Louis Chude-Sokei: „Bowie brachte mich zum Schweben“
       
       > Der US-Kulturwissenschaftler Louis Chude-Sokei über Musik als Zuhause,
       > Schwellen in den Zonen des Übergangs und vielfältige Formen von
       > Blackness.
       
 (IMG) Bild: „Ich habe nur meine Geschichte erzählt“: Louis Chude-Sokei
       
       taz: Louis Chude-Sokei, Sie treten in Berlin beim Festival „The Sound of
       Distance“ mit Ihrem Essay „Threshold“ in Erscheinung. Eine Aufnahme Ihrer
       Textlesung wird vor dem Haus der Kulturen der Welt und innen im Gebäude in
       jeweils unterschiedlichen Fassungen zu hören sein. Threshold bedeutet so
       viel wie Übergang, Schwelle, Migration … 
       
       Louis Chude Sokei: … und es bedeutet auch Grenze.
       
       Es ist ein Begriff, dem angesichts weltweiter Flüchtlingsbewegungen große
       Bedeutung zugemessen wird. Warum? 
       
       Weil er immer auch mit Transformation zu tun hat. Er beschreibt nicht nur
       eine Bewegung von A nach B, sondern [1][auf der Schwelle macht man
       unterschiedlichste Erfahrungen]. Und diese verwandeln Menschen. Zonen des
       Übergangs haben auch mit einer Bewusstwerdung von Veränderung zu tun. Man
       ist nicht mehr das, was man zuvor war, das kann auch bedrohlich sein.
       Trotzdem stelle ich mir die Schwelle lieber als etwas vor, an dem
       Veränderung bewusst angenommen wird.
       
       Klänge nehmen beim Abspielen in unterschiedlichen Räumen ebenfalls
       unterschiedliche Formen an. Vor dem Eingang des HKW wird eine Dubversion
       Ihrer Originallesung zu hören sein, die wiederum drinnen in der Aula
       abgespielt wird. 
       
       Als Dubversion ist meine Stimme im Cut-up-Verfahren verfremdet. Dass sie
       als Erstes zu hören ist, wenn man vor dem Gebäude steht und dann über die
       Schwelle geht und das HKW betritt, ehrt mich.
       
       Der letzte Satz von Threshold lautet: „Türöffnungen enden an der Stelle, wo
       Performance beurteilt wird.“ Können Sie ihn bitte erläutern? 
       
       Die Schwelle in meinem Essay behandelt sowohl die Erfahrung von Migration
       als auch die menschliche Erfahrung beim Überqueren einer Schwelle. Wer
       durch eine Tür geht, betritt eine Art Bühne. Man bereitet sich instinktiv
       auf den Moment vor. Frauen und Männer reagieren auf das Überqueren
       unterschiedlich. Frauen halten ihre Hände anders. Männer ziehen ihre Bäuche
       ein. Frauen sind achtsamer, nicht nur, was ihre Frisuren, auch, was ihre
       Erscheinung insgesamt angeht. Manche reagieren selbstbewusst, andere
       verschüchtert, unsicher. Die Schwelle hat auch mit Gender zu tun,
       einerseits, und andererseits mit dem Verhältnis, das Emigranten zu neuen
       Orten und Räumen entwickeln, wie sie sich an diese gewöhnen.
       
       Vor wenigen Wochen ist Ihre Autobiografie erschienen, „Floating in a Most
       Peculiar Way“, Titel und alle Kapitel sind nach Songs und Textstellen von
       David Bowie benannt, obwohl es eigentlich um Ihre komplizierte Familien-
       und Fluchtgeschichte geht. Welche Rolle kommt David Bowie und seiner Musik
       dabei zu? 
       
       Als Kind bin ich mit meiner Mutter aus Nigeria vor dem Biafrakrieg
       geflohen, und in einem Flüchtlingscamp in Gabun habe ich damals diesen Song
       gehört, von dem ich weder Titel noch Interpreten kannte. Erst sehr viel
       später stellte sich heraus, dass es „Space Oddity“ von David Bowie war.
       Meine Mutter und meine Tanten erzählten mir, immer wenn es im Radio lief,
       winkten sie mich ran. Eine weitere Erleuchtung hatte ich, als ich 1975 von
       [2][Jamaika] in die USA kam. Ich sah diesen seltsamen bleichen Künstler im
       Fernsehen, wieder war es [3][sein Song „Space Oddity“]. In Jamaika hörte
       ich Reggae und R&B. In Bowies Song steckte dann so viel Information, und so
       wurde er mein erster Held. Nun kannte ich auch seinen Namen. Wir hatten
       kein Geld für einen Plattenspieler, aber es gab einen Kassettenrekorder,
       mit dem ich Schnipsel von Bowie-Songs aus dem Radio mitgeschnitten habe.
       Als ich älter wurde, habe ich seine Texte besser verstanden. Über Bowie kam
       ich etwa zu Anthony Burgess und „Clockwork Orange“ und zum SciFi-Autor
       Robert Heinlein. Er brachte mir etwas näher, das ich als
       afrikanisch-karibischer Emigrant in den USA selbst so niemals
       herausgefunden hätte. Und so hat mich Bowie mein ganzes Leben begleitet.
       Also wurde er zentraler Gegenstand des Buches.
       
       Floating hat viel mit Zufall zu tun. Sie waren auf der Schwelle zum
       Schulabrecher und drohten in die Kriminalität abzurutschen, als eine
       Lehrerin zufällig eine Science-Fiction-Geschichte von Ihnen in Ihrem Spind
       fand und gelesen hat. Ihre Memoiren sind strukturiert, obwohl der Titel
       etwas anderes suggeriert. 
       
       Floating könnte auch einen Mangel an Lebensführung meinen, aber für mich
       signalisiert es meine unterschiedlichen Erfahrungshorizonte in den Kulturen
       von Westafrika, der Karibik und den USA. Ich schwebte immer dazwischen und
       wurde ganz bewusst nicht an einem Ort sesshaft. Das könnte für manche
       Leser:Innen durchaus kontrovers sein, wenn eine schwarze Person über
       ihre Lebensgeschichte erzählt und sich eben nicht für eine bestimmte
       Identität entscheidet. Ich erzähle eine Geschichte über unterschiedliche
       Identitäten. Manche haben gedacht, mein Buch müsse Songtitel von
       jamaikanischen oder nigerianischen Künstlern tragen. Als Kind im
       Flüchtlingscamp hörte ich aber zuerst Bowie und er brachte mich zum
       Schweben.
       
       Sie beschreiben in „Floating“, wie Sie von Afroamerikaner:innen
       diskriminiert wurden, die Sie als „Ghetto-Schwarzen“ bezeichnet haben,
       obwohl das nie auf Sie zutraf. Es ist also komplizierter, als das binäre
       Denken der Identitätspolitik vermitteln möchte. 
       
       Ich habe nur meine Geschichte erzählt, eine Geschichte, die viele in den
       USA lieber verschweigen, obwohl Dinge, die mir widerfahren sind, oftmals
       auch anderen passieren. Und zwar seit Langem. Die Spannungen zwischen
       Schwarz und Weiß sind schwerwiegend, alle Amerikaner:Innen sind sich
       ihrer bewusst. Die vielfachen Spannungen zwischen Schwarzen und
       Afroamerikanern werden dagegen oft ausgeblendet. Ich bin nicht alleine mit
       meiner vielfältigen schwarzen Identität. Seit 1990 sind mehr Menschen aus
       Afrika in die USA emigriert, als zur Hochzeit der Sklaverei Menschen dahin
       verschleppt wurden. Es sind sowohl Flüchtlinge als auch Menschen aus
       Afrika, die freiwillig migrieren. Und Vorurteile, denen sie in den USA
       begegnen, werden inzwischen weniger aufgrund ihrer Hautfarbe gemacht,
       sondern mehr interkulturell. Ich möchte, dass dieses Thema endlich aufs
       Tableau kommt. Mein Buch beginnt deshalb auch mit dem Biafrakrieg, dem mein
       Vater zum Opfer fiel. Es war ein Genozid, den eine schwarze Ethnie einer
       anderen antat. Für viele Menschen in der schwarzen Diaspora ist so eine
       Geschichte nicht ungewöhnlich. Sie besteht schon als Rahmen, wenn sie in
       die USA auswandern und dann mit White Supremacy konfrontiert werden.
       
       Die Diskussion um Black Lives Matter reduziert sich oftmals auf
       Viktimisierung von Schwarzen, wie kommt Ihnen das vor? 
       
       Binäres Schwarz-Weiß-Denken bestimmt den Diskurs in den USA. Die Konflikte
       zwischen Schwarz und Weiß ziehen sich durch die gesamte Geschichte des
       Landes. Leider schaltet dieser alte Konflikt andere Felder stumm, ob das
       jetzt Latinos betrifft oder Asian-Americans, deren Lebensumstände sich von
       denen der Afroamerikaner:innen unterscheiden. Innerhalb der Schwarzen
       Community gibt es zudem große Klassen-Unterschiede, die sich politisch
       auswirken.
       
       Inwiefern? 
       
       Es gibt eine breite schwarze Mittelklasse und eine kleine Oberschicht und
       es gibt Akademiker:Innen, die darauf bestehen, dass schwarze Politik alle
       Schwarzen repräsentieren sollte, was ich sehr problematisch finde. Viele
       schwarze afrikanische Migranten sind sehr schnell in die Mittelklasse
       aufgestiegen, was zu Spannungen mit Afroamerikanern geführt hat. Oft wird
       über Afroamerika nur aus der Perspektive des schwarzen Proletariats
       gesprochen. Beim Thema Black Lives Matter geht es vor allem um
       Polizeigewalt. Die Menschen, die getötet worden sind, waren nicht nur
       schwarz, sondern auch arm. Viele Kolleg:Innen von mir wollen das auf
       Hautfarbe reduzieren, obwohl ich die Klassenproblematik viel dringlicher
       finde.
       
       Wir haben sehr viel über Schwellen, Übergänge, Migration gesprochen, was
       bedeutet Ihnen Zuhause? 
       
       Ich habe beschlossen, nicht mehr darüber nachzudenken, nachdem ich Flucht
       und Migration selbst durchlebt und dann darüber ein Buch geschrieben habe.
       Seit Beendigung der Niederschrift kommt es mir fast vor, als wäre das
       Konzept Zuhause kein Problem mehr. Klar, in Boston arbeite und wohne ich,
       um mich herum Menschen, die mich inspirieren. Als ich jünger war, empfand
       ich die Musik als Zuhause, inzwischen ist es auch die Arbeit. Zuhause ist
       kein Ort mehr, eher Seinszustand.
       
       21 Oct 2021
       
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