# taz.de -- KI-Konzeptalbum von Mouse On Mars: Humanismus kickt die Klangelemente
       
       > Das Weltall sind wir: Das Berliner-Elektronikduo Mouse On Mars macht mit
       > seinem neuen Album „AAI“ Künstliche Intelligenz zur Anarcho-Utopie.
       
 (IMG) Bild: Superspannendes Puzzle: Andi Toma und Jan St. Werner sind Mouse On Mars
       
       Der Herzschlag der Welt beginnt in Afrika mit dem Rhythmus der Drums. Der
       Herzschlag von „AAI“, dem neuen Album von Mouse On Mars, beginnt mit einer
       Referenz an eine wahrnehmungspsychologische Studie von Albert Bregman:
       „Engineering Systems and masking them with Noise“, gesprochen ist sie von
       zwei synthetischen Stimmen einer künstlichen Intelligenz (KI), die wie ein
       Soundsynthesizer programmiert wurde.
       
       Der Satz taucht auch in den Linernotes des MOM-Albums auf, die von dem in
       den USA lehrenden nigerianischen Kulturwissenschaftler Louis Chude-Sokei
       verfasst wurden. In dem zitierten Satz steckt der Gedanke, dass es für
       Menschen beim Erfassen von Klang bestimmte Orientierungsregeln gibt, manche
       davon sind hörbar, manche nicht. Selbst wenn sie nicht wahrnehmbar sind,
       geht man davon aus, sie seien vorhanden.
       
       „Wir nehmen sogar an, dass die Bewegung hinter der Maskierung
       kontinuierlich weiterläuft“, erklärt [1][Jan St. Werner], eine Hälfte von
       Mouse On Mars, im bandeigenen Studio in Berlin-Kreuzberg. Andi Toma, die
       andere Hälfte, fummelt derweil noch an einer Einstellung am
       Monitorbildschirm herum, aber man kann davon ausgehen, dass er zuhört. Es
       ist der Tag, nach dem das Raumschiff „Perseverance“ auf dem Mars gelandet
       ist.
       
       ## Brücken ins „Andere“
       
       St. Werner zeigt sich deshalb gedämpft optimistisch. „Im Zeichen der großen
       Krise versucht man, mit der Raumfahrt eine Brücke ins bessere Andere zu
       bauen. Das Weltall wird noch immer als das Andere missverstanden, dabei ist
       es doch so nah.“ Andi Toma ergänzt: „Wir sind doch auch Weltall!“ Ob im
       interstellaren Outback oder auf der Erde, [2][Mouse On Mars] haben in ihrer
       Musik immer wieder den technologischen Fortschritt thematisiert, früher
       geschah das oft weitab des Mainstreams.
       
       Dass sie nun ein Konzeptalbum über KI veröffentlichen, führt das Raumschiff
       MOM näher an den Debatten-State-of-the-Art als je zuvor. Wobei KI in
       aktuellen Romanen und in Theorien zumeist dystopisch angegangen wird. Big
       Brother, ick hör dir trapsen. Speziell in Deutschland ist alles, was
       irgendwie mit Computer zusammenhängt, Neuland, ergo lästig, nervig,
       anstrengend. Auch deshalb klingt „AAI“ befreiend, weil KI-Technologie in
       den 20 Tracks des Albums als Tool eingesetzt wird, es ist eine Option unter
       vielen. An keiner Stelle klingt es [3][prätentiös], belehrend, oder
       verharmlosend.
       
       Im Gegenteil, „AAI“ der Albumtitel, steht für „Anarchic Artificial
       Intelligence“, anarchische KI in der Definition von Mouse On Mars hat
       utopische Potenziale. „Unser Ansatz liegt im Humanismus begründet, in
       frühen Vorstellungen der Aufklärung. Die Menschen in der Auseinandersetzung
       mit der Natur, aber zugleich als lernende Wesen zu begreifen, als jemand,
       der erst mal beobachtet und sich in Beziehung setzen muss und nicht sagt,
       wir kommen, um zu beherrschen. Der anarchistische Gedanke ist, auch der
       Maschine zuzugestehen, dass sie sich verselbstständigen darf.“
       
       ## Affirmativ, aber nicht betriebsblind
       
       Der Technikglaube von Mouse On Mars mag zwar affirmativ sein, aber deswegen
       ist der Wille zum Forschen noch lange nicht betriebsblind. „Wenn man an das
       Neue glaubt, glaubt man dran, dass es sich anders äußert, dass es nicht
       plötzlich vor einem steht, sondern etwas ist, was im Werden begriffen ist,
       was sich immer weiterentwickelt“, erklärt St. Werner.
       
       Schon das Intro wirkt einladend, fordert zum Miträtseln auf. Tatsächlich
       basiert die KI auf den Stimmen von Chude-Sokei und der Programmiererin
       Yağmur Uçkunkaya. Uçkunkaya arbeitet als KI-Spezialistin in Berlin und hat
       für Mouse On Mars die synthetische Stimme über Monate darin trainiert, wie
       Menschen zu sprechen. „Engineering Systems and masking them with Noise“ ist
       rhapsodisch gedacht und nach einem lauten Knall rollen die Drums los und
       der zweite Track „Latent Space“ setzt sich unaufhaltsam in Bewegung.
       
       Und so geht es mit viel Effet und Tempo los, „AAI“ hat insgesamt 20 Songs.
       Manche davon, wie der Auftakt, dauern gerade 20 Sekunden. Andere laufen
       über sieben, acht Minuten und fühlen sich an wie klassisch trappelnde Mouse
       On Mars Tracks, die sehr kurzweilige Grundlagenforschung mit Beats und
       elektronischen Sounds betreiben; mal rufen sie die experimentelle
       Ingenieursphase von Krautrock auf, oft klingen sie einfach unverwechselbar
       nach dem digitalen Hardcore-Research von Mouse On Mars, ohne jemals zu
       selbstreferenziell zu werden. „Sound ist Ankündigung und er kommt mit der
       Vibration“, sagt St. Werner. „Auch wenn der Zug noch weit weg ist, weißt Du
       einfach, wie viele Waggons dranhängen, weil du weißt, wie du die Schiene
       lesen musst.“ Nimm das, Alexander Kluge.
       
       ## Zwanghafte Trennung
       
       „Man darf nicht vergessen, dass der Begriff künstliche Intelligenz aus
       Furcht formuliert wurde“, heißt es an einer Stelle in Chude-Sokeis
       Manifest. „Dies trennte Menschen bewusst von Maschinen, indem es auf zwei
       unterschiedliche Arten von Intelligenz pochte: künstliche und
       authentische.“ Das Synthetische, Künstliche, Gemachte ist ein weiterer
       Marker auf „AAI“, die Maschinen klingen in jeder Sekunde nach Maschinen,
       die Maschinenmusik erzeugen und nicht nach Maschinen, die menschliche
       Klänge nachahmen.
       
       „The Fear of Machines“ heißt einer der Tracks, bei dem es nur so wabert,
       „Artificial Authentic“ ein anderer, bei dem man die Membranen der Bassboxen
       wummern spürt. Sie seien beim Produzieren „fast mathematisch ins Detail
       gegangen“, sagt Andi Toma, „um maschinenartige Rhythmik zu bekommen“. Alle
       Elemente, darunter sehr kleinteilige, seien synchronisiert. Trotzdem fragt
       man sich manchmal, ob ethische und philosophische Grundfragen beim
       Programmieren überhaupt eine Rolle gespielt haben.
       
       St. Werner erklärt: „Was uns irritiert, dass der KI-Diskurs stark dominiert
       ist von einer westlichen Vorstellung, von dem, was Intelligenz ist. Alle,
       die gerne Schwarzkümmelöl zu sich nehmen, wissen, dass seine gepressten
       Schalen, die im Abfall landen, voller Vitamine und Mineralstoffe sind. So
       ist das mit der KI auch. Da liegt ganz viel brach. Was wir von ihr
       bräuchten, dass sie denen hilft, die keine Repräsentation haben.“
       
       ## Afrika in Drumpatterns
       
       Immer wieder weist die Musik auf „AAI“ nach Afrika. In den Drumpatterns und
       Beats, eingespielt vom langjährigen MOM-Drummer Dodo NKishi, die
       tribalistische Schlagseite haben, klingen bisweilen südafrikanische Kwaito-
       und Gqom-Muster als ferne Echos an. Freilich hat NKishi sie teilweise mit
       einem Kontaktmikrofon eingespielt: indem er mit der Hand an seiner Cordhose
       entlang geschrabbelt ist.
       
       Dazu ist St. Werner immer wieder in den nahe dem Studio gelegenen Görlitzer
       Park gegangen und hat Fieldrecordings aufgenommen. „Wir haben aktiv
       aufgegriffen, was uns hier widerfährt. Wo wir auch nur Häutchen sind, die
       räsonieren, in einem größeren vibrierenden Zusammenhang. Wo kommt
       künstliche Intelligenz her, wo kommen die Computer her? Die kommen alle aus
       den Erzen, die auf dem afrikanischen Kontinent gewonnen werden. Der
       Ursprung des Computers, der Ursprung der KI ist Afrika. Das war für uns
       eine Klammer. Afrika, die Polyrhythmik, die Offenheit, der Irrsinn.“
       
       Sätze aus den Linernotes von Chude-Sokei tauchen in mehreren Songs auf dem
       Album als gesprochene Passagen auf. Text wird auch in Bearbeitung durch die
       KI zu Musik. So entsteht eine fortlaufende Erzählung in Sound. „Klänge
       haben bei uns oft sprachliche Bewegungen. Sie selbst kommen der Sprache
       näher, die Sprache wird abstrahiert, kommt dadurch aber wieder näher zum
       Klang. Die Rhythmen, die Mikrobewegungen, ihre Verästelungen und
       Verschachtelungen sind eigentlich Merkmale von Sprache. Uns ging es nie
       darum, nur gute Hooklines zu machen. Es ist dieses Ineinandergreifen der
       Elemente, was uns immer gekickt hat. Und bei diesem Album ist es so
       explizit wie noch nie, weil wir explizit mit Sprache arbeiten.“
       
       ## Maschinen-Metamorphose
       
       Ergreifend schön wird dies bei dem Track „Walking and Talking“
       durchgespielt, der die KI, nach Chude-Sokeis Art zu sprechen, zunächst als
       stotternde Stimme in einem zähflüssigen Track einsetzt, bis sich gegen Ende
       urplötzlich die Melodie von Lou Reeds „Walk on the Wildside“ aus dem Lärm
       schält. „Die KI-Stimme ist bei uns ein Instrument wie jedes andere und
       integriert sich in den Klang. Es war unbewusst, plötzlich kam dieser
       Akkordwechsel von ‚Walk on the Wild Side‘“, sagt Andi Toma. Die
       Metamorphose der Maschine habe sie automatisch dahin gebracht. Ein Ansatz,
       der Lou Reed gefallen hätte. Und ein Hinweis, dass Mouse On Mars immer
       Anschluss an Popdiskurse gesucht haben. „Anticorporate und trotzdem
       kosmisch“, fasst Jan St. Werner ihren Approach zusammen.
       
       Mit einer lebenden Legende, dem jamaikanischen Dubreggae-Produzenten Lee
       „Scratch“ Perry, arbeiten Mouse On Mars schon seit Längerem an einem Album,
       auf das die Welt sehnsüchtig wartet. Bis dahin vertreibt „AAI“ einem mehr
       als nur die Wartezeit. Man kann es hundertmal hören und entdeckt immer
       wieder fantastische Details. Man muss sich zur Musik von Mouse On Mars
       einfach bewegen, in dem man dazu tanzt oder darüber nachdenkt.
       
       25 Feb 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Elektronik-Groessen-ueber-ihre-neuen-Alben/!5598635
 (DIR) [2] /Neues-Album-von-Mouse-on-Mars/!5507070
 (DIR) [3] /Elektronik--Album-von-Holly-Herndon/!5594773
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julian Weber
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Elektronik
 (DIR) Neues Album
 (DIR) künstliche Intelligenz
 (DIR) Berlin-Kreuzberg
 (DIR) Afrika
 (DIR) Kurdistan
 (DIR) wochentaz
 (DIR) Pop-Underground
 (DIR) Avantgarde
 (DIR) Flucht
 (DIR) künstliche Intelligenz
 (DIR) Musik
 (DIR) Zeichnung
 (DIR) Popmusik
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) HJiroks kurdisch-deutscher Electroclash: Viel Platz für den Flow
       
       Auf dem Album „HJirok“ von Hani Mojtahedy und Andi Toma reiben sich
       Kulturtechniken respektvoll. Es ist eines der Ereignisse dieses
       Musikfrühjahrs.
       
 (DIR) „Space Synthesis“ Kunsthalle Baden-Baden: Das Rascheln der eigenen Bewegung
       
       „Space Synthesis“: Der Elektronikproduzent Jan St. Werner erforscht die
       Kunsthalle Baden-Baden mit Klang.
       
 (DIR) Revival der Cassette: Stichflamme Dormagen – Tape only
       
       Wie es zur Renaissance von Cassetten als Tonträgern kam. Eine Spurensuche
       zwischen ESA-Raumfahrtagentur und DIY-Homerecording.
       
 (DIR) Duoalbum David Grubbs & Jan St. Werner: Die Wörter abklopfen
       
       Die Musiker David Grubbs und Jan St. Werner erinnern mit ihrem ersten
       Duo-Album „Translation from Unspecified“ daran, wie zugänglich Avantgarde
       war.
       
 (DIR) Kulturwissenschaftler Louis Chude-Sokei: „Bowie brachte mich zum Schweben“
       
       Der US-Kulturwissenschaftler Louis Chude-Sokei über Musik als Zuhause,
       Schwellen in den Zonen des Übergangs und vielfältige Formen von Blackness.
       
 (DIR) Lernende Maschinen: Entscheiden muss der Mensch
       
       Noch kratzen Forscher:innen bei der Künstlichen Intelligenz an der
       Oberfläche. Vieles ist bisher nur Wunsch und Utopie.
       
 (DIR) Album „Jumping Dead Leafs“ von Tolouse Low Trax: Tradition trifft auf Experiment
       
       Mit „Jumping Dead Leafs“ veröffentlicht Detlef Weinrich sein viertes
       Soloalbum. Rausgebracht hat es das Kreidler-Mitglied in seiner Wahlheimat
       Paris.
       
 (DIR) Skizzenbuch von Jo Zimmermann: Kompost des fossilen Rauschens
       
       Der Kölner Illustrator Jo Zimmermann veröffentlicht ein Buch aus
       Kalenderblättern. Darauf malt er mit Tusche Collagen von dürren Fabelwesen.
       
 (DIR) Neues Album von Mouse on Mars: Auf ihrem eigenen Planeten
       
       Jan St. Werner und Andi Toma sind Mouse on Mars. „Dimensional People“ heißt
       ihr neues Werk. Es ist das überzeugendste seit Langem.