# taz.de -- Ethnologe zur Bewahrung von Musik: „Der Kontext ist wichtig“
       
       > Musik vor dem Vergessen retten: Der US-Musikethnologe Michael Veal über
       > die Forschung in Archiven und Wiederveröffentlichungen afrikanischer
       > Alben.
       
 (IMG) Bild: Kinshasasound: eines der wenigen Aufnahmestudios der demokratischen Republik Kongo
       
       taz: Michael E. Veal, beim Festival „Find the File“ im Haus der Kulturen
       der Welt in Berlin werden Sie am Panel „Keeping Track(s) – Saving Sonic
       Heritage“ sprechen. Wie sollen alte Musikaufnahmen vor dem Vergessen
       gerettet werden? 
       
       Michael E. Veal: Ich schreibe gerade ein Buch über den Jazzsaxofonisten
       John Coltrane. Darin geht es auch um sein Archiv. Seine Musik ist zwar
       längst kanonisiert, aber es gibt neben bekannten Aufnahmen viele
       unerforschte Bootlegs und Radiosendungen. Ich präsentiere Forschungen aus
       dem kaum erschlossenen John-Coltrane-Audioarchiv.
       
       In Ihren Buchveröffentlichungen zur Musik ist zu merken, wie tief Sie in
       Ihren Gegenstand eintauchen. So haben Sie zusammen mit dem nigerianischen
       Drummer Tony Allen dessen Autobiografie geschrieben. Dafür sind Sie nach
       Paris gezogen, wo Allen lebt, haben mit ihm gesprochen, aber auch gekocht,
       um mehr über nigerianische Kultur zu erfahren. 
       
       Was Tony Allen und mich anbelangt, ich habe ihn lange vor dem Buch
       kennengelernt, und auch mit ihm und Fela Kuti zusammen Musik gemacht.
       Zuerst hatte ich ein Buch über Fela Kuti publiziert. Als ich Tony für das
       Projekt in Paris interviewt habe, haben wir uns täglich getroffen, und so
       kam eins zum anderen. Ich habe dafür aber auch in Musikarchiven
       recherchiert.
       
       Überall in der westlichen Welt gibt es seit den nuller Jahren Labels, die
       sich um Wiederveröffentlichungen, etwa von alten Aufnahmen aus der Zeit
       nach der Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten, kümmern. Das ist
       zunächst mal gut, weil HörerInnen dadurch ihren musikalischen Horizont
       erweitern. Aber es geht von Labelseite auch darum, korrekt zu handeln,
       KünstlerInnen Tantiemen zu zahlen und die Kontexte der Musik beispielsweise
       in den Linernotes zu erklären. 
       
       Das ist eine positive Entwicklung, es gibt unfassbar gute Musik aus Afrika,
       die nie die Hörerschaft bekam, die sie verdient gehabt hätte. Betrüblich
       ist, dass es die afrikanische Plattenindustrie, die diese Musik in den
       1960ern und 1970ern erstmals veröffentlicht hat, nicht mehr gibt. Die
       Labels waren ja auch Ausdruck der politischen Selbstbestimmung in Afrika.
       Damit war es schon in den Achtzigern vorbei, weil die gesamte Wirtschaft
       zusammengebrochen war. Dieser Teil der Geschichte wird oft ausgeblendet,
       wenn es um Wiederveröffentlichungen der alten Musik geht.
       
       „Saving Sonic Heritage“, die Bewahrung des Klangerbes, ist also eine
       zweischneidige Angelegenheit.
       
       Musikalisch und historisch ist es eine begrüßenswerte Entwicklung, aber
       wenn man sich den wirtschaftlichen Kontext ansieht, wird es fragwürdig,
       weil die Plattenfirmen, die das Material wieder veröffentlichen, aus Europa
       und den USA stammen. In vielen Fällen bleiben Details von
       Lizenzierungsvereinbarungen im Dunklen. Viele der KünstlerInnen sind
       gestorben, so dass man davon ausgehen kann, dass keine Tantiemen gezahlt
       werden.
       
       Ihr aktuelles Buch heißt „Punk Ethnography“, es ist eine kritische
       Bestandsaufnahme der Reissue-Kultur. Anhand von Labels wie Sublime
       Frequencies untersuchen Sie darin das wiedererwachte Interesse an Musik aus
       der sogenannten Dritten Welt und arbeiten auch die Defizite der
       ökonomischen Seite heraus. 
       
       Das Problem sitzt tiefer, als es der schöne Schein der
       Wiederveröffentlichungen suggeriert. Es ist die ökonomische Misere der
       jeweiligen Nationalwirtschaft, die verhinderten, dass diese Konjunktur
       hatten. Wenn die Gesamtwirtschaft am Boden liegt, hat die Musikindustrie
       keine Priorität. Wäre schön, wenn afrikanische Labels immer noch
       erfolgreich sein würden und Geld damit verdienten, dass sie ihre alten
       Aufnahmen lizenzieren. Oder, noch besser, wenn es eine Infrastruktur gäbe,
       in der sie die alten Platten selbst wieder veröffentlichen könnten. Leider
       gibt es diese Infrastruktur nicht mehr. Das Problem geht über die Musik
       hinaus, es hat mit dem Standortnachteil zu tun, den die afrikanische
       Wirtschaft im Verhältnis zur Weltwirtschaft hat.
       
       Wir entdecken interessante Musik aus der ganzen Welt. Uns gefällt die
       Musik, auch wenn wir die Sprache nicht sprechen, in der gesungen wird. Beim
       Hören können wir die politische und kulturelle Realität ihrer Entstehung
       ausblenden. Ich habe kein Interesse, mir Musik des syrischen Musikers Omar
       Souleyman anzuhören, weil ich weiß, dass er Diktator Assad unterstützt. 
       
       Mit diesem Komplex habe ich mich in „Punk Ethnography“ auseinandergesetzt.
       Die Zirkulation der sogenannten World Music beinhaltet immer ihre Loslösung
       von den Entstehungsorten und der Zeit. Das hat eine politische Komponente.
       Wir sind im Westen privilegiert, weil wir die Musik hören, ohne dass wir
       uns mit ihrer Entstehungsgeschichte auseinandersetzen müssen. Niemand, der
       an dem Business beteiligt ist, agiert aus Idealismus. Man sollte im Westen
       natürlich wissen, dass Souleyman Assad unterstützt. Es gibt aber eben nicht
       nur die HörerInnen. Viele mögen einfach nur den Klang von afrikanischer
       Musik, andere hören zu und informieren sich über die Umstände, in denen die
       Musik entstanden ist. Ein Motiv für „Punk Ethnography“ war, dass ich die
       Notwendigkeit von Kontexten von Klang betone. Einfach die Sounds aus dem
       Kontext zu reißen und sie einer westlichen Hörerschaft aus ästhetischen
       Gesichtspunkten unterzujubeln, das finde ich zu billig.
       
       Was wäre Ihrer Meinung nach eine ethische Form, mit der man „das Klangerbe
       retten“ kann? 
       
       Wir müssen uns mir dem Komplex der Restitution stärker auseinandersetzen.
       Im Westen gibt es, abgesehen von der Musikindustrie, ja auch noch
       staatliche Institutionen, Museen und Universitäten, die kulturelle
       Artefakte wie Musikinstrumente in ihren Sammlungen haben und diesen in
       anderen Kontexten neues Leben eingehaucht haben. Die derzeit bestehenden
       afrikanischen Institutionen haben gar nicht den Zugang und die Macht, da
       mitzuhalten. Auch da finde ich schwierig, wenn das kulturelle Erbe einer
       Nation dafür benutzt wird, um das kulturelle Privileg einer anderen Nation
       neu zu definieren. Ich denke da auch an Deutschland, und mir fällt der
       österreichische Musikethnologe Erich von Hornbostel ein. All seine
       Fundstücke von Exkursionen sind meines Wissens in deutschen Museen.
       Eigentlich hätte eine Debatte darüber schon vor langer Zeit einsetzen
       sollen, aber vielleicht geht sie ja morgen endlich los.
       
       Was Artefakte aus der Zeit des deutschen Kolonialismus anbelangt, ist die
       Debatte nun im Gang. Vor Kurzem ist eine Delegation aus Baden-Württemberg
       nach Namibia gereist, um Gegenstände zurückzugehen. Aber mit Musikaufnahmen
       stelle ich mir das komplizierter vor. 
       
       Alle westlichen Staaten haben eine Kolonialvergangenheit, auch die USA. Zum
       Großteil ist sie noch nicht aufgearbeitet. Es macht keinen Sinn,
       Musikaufnahmen, die reproduzierbar sind, zurückzugeben. Anders als Schädel
       von Hereros, die sich in der Sammlung der Charité in Berlin befinden
       sollen, kann man alte Musikaufnahmen duplizieren. Was sie anbelangt, ist
       die Frage der Restitution kaum lösbar.
       
       Sie kritisieren die Reissue-Labels für ihre fehlende ethnografische Arbeit,
       aber Sie loben diese dafür, dass sie HörerInnen in den USA gegen
       isolationistische Tendenzen bestärken. 
       
       Diese Aussage habe ich anlässlich von Trumps Inauguration gemacht. Und ein
       Label wie Sublime Frequencies in Seattle, das Aufnahmen aus der ganzen Welt
       veröffentlicht, ist in den USA ein rares Gut. Nur wenige kennen sein
       Programm, nur ein kleiner Teil der Hörerschaft von „Global Pop“ weiß, um
       was es geht. Sublime Frequencies erreicht Menschen aus dem akademischen
       Milieu genauso wie Indierock-Fans. Insofern ist das begrüßenswert, weil es
       hier um etwas anderes geht, als im anti-intellektuellen und zunehmend
       insularen US-Mainstream.
       
       22 Mar 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julian Weber
       
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