# taz.de -- Julian Henriques über Jamaika: „Musikalischer Vibe mit Weltgeltung“
       
       > Der Brite Julian Henriques über Soundsysteme als ökonomische Motoren,
       > Beine, die durch Bässe schlottern und Sexchoreografie auf dem Dancefloor.
       
 (IMG) Bild: Julian Henriques, hier bei den Dreharbeiten zu seinem Film „Babymother“
       
       taz: Julian Henriques, Ihr Buch „Sonic Bodies“ untersucht jamaikanische
       Soundsystems auf Basis einer Feldforschung. Wie haben Sie Ihren Aufenthalt
       eingefädelt? 
       
       Julian Henriques: Um Zugang zu bekommen, musste ich die soziale Hierarchie
       des Kingstoner Gettos beachten. Ich habe mich daher an den Don, den Boss
       des Viertels, gewandt. Ich war mit meiner damals sechsjährigen Tochter
       unterwegs, aber wir haben uns nie deplatziert gefühlt. Elektrizität und
       fließend Wasser funktionierten nicht immer, aufgewogen haben das der
       Respekt und der Dank, der uns gezollt wurde. Die Leute waren froh, dass
       sich überhaupt jemand für ihren Alltag interessiert. Ich will das
       Gettoleben aber keineswegs romantisieren, es gibt dort krasse Gewalt.
       
       An wen haben Sie sich gewandt? 
       
       Das bekannteste jamaikanische Soundsystem ist Stone Love Movement, und sein
       Toningenieur Winston „Weepow“ Power ist einflussreich und ein begnadeter
       Toningenieur, der sein Soundsystem ganz allein wartet. Mit seinem Segen
       gingen viele Türen auf.
       
       Kann man Betreiber von Soundsystems überhaupt mit Toningenieuren
       vergleichen? 
       
       Je näher ich sie kennengelernt habe, desto mehr leuchtete mir ihr tiefes
       Klangverständnis ein. So wie Parfümeure gute Nasen für Duftwässerchen
       haben, haben Soundsystem-Ingenieure ein Gespür, mit dem sie die
       Klangpalette ihrer Verstärkerboxen ausloten. Am interessantesten war, dass
       ihr Soundverständnis noch gar nicht kanonisiert ist. Die Toningenieure
       wissen genau, wie ihr Sound funktioniert und was sie tun müssen, damit er
       funktioniert. Sie haben ein praktisches Klangverständnis, es ist jedoch
       kein objektivierbares Wissen, das in Lehrbüchern steht. Ein Blick zurück in
       die Geschichte war hilfreich. Die alten Griechen haben im Zwerchfell
       (Phrenicus) die menschliche Seele verortet, im Phrenicus steckt angewandte
       Weisheit. Etwas Vergleichbares machen Soundsystem-Ingenieure, sie sind
       Meister in der angewandten Praxis beim Einstellen ihrer Verstärkertürme.
       
       Sie zitieren den Altphilologen Richard B. Onians, der dargelegt hat, wie in
       der Antike Weisheit mit Atmung in Verbindung gebracht wurde. MCs, die
       Moderatoren der Soundsystems, sind Meister im Anreden des Publikums. 
       
       Das ist richtig. Onians hat sich etwa Homers „Ilias“ genauer angeschaut, wo
       erklärt wird, dass die Atmung zur Seele des Menschen führt. Beim schnellen
       Sprechen atmen MCs tief ein und wenden sich direkt an die Tänzerinnen auf
       dem Dancefloor. Dabei machen sie Dinge möglich, indem sie von ihnen
       sprechen. Das heißt, sie verbreiten durch ihre Worte Magie. Wie ein
       Standesbeamter, der qua seines Amtes Ehen absegnet. Das ist ein Ritual.
       Vergleichbare Rituale gibt es bei den Dances der Soundsystems.
       
       Dienen die Soundsystems rein der Erbauung? 
       
       Allgemein sorgen sie für Unterhaltung. Vergnügen im Getto von Kingston ist
       allerdings etwas anderes als Zocken an der Playstation in England. Eine
       populäre Form von Unterhaltung in Armenvierteln zu ermöglichen ist eine
       Leistung. Die wichtigste Funktion von Soundsystems ist, dass sie
       buchstäblich für Aufhellung sorgen, weil sie nicht dem Schema der maroden
       Ökonomie folgen. Gegen die anhaltende Wirtschaftskrise sind in Jamaika nur
       wenige Superreiche gefeit. In einem prekären Umfeld einen Betrieb am Laufen
       zu halten, zu dem alle hingehen können, um sich zu vergnügen, ist
       anstrengend.
       
       Woher kommt das Geld? 
       
       Soundsystems agieren komplett selbstverwaltet, da steckt kein Konzern
       dahinter, es gibt keine staatliche Finanzhilfe. Auf Jamaika arbeitet eine
       Art Vergnügungs-Ökonomie, im Unterschied zur Ökonomie von
       Industrienationen. Soundsystemkultur ist ein ökonomischer Motor. Leute aus
       allen Vierteln kommen dafür ins Getto und geben Geld für Essen und Trinken
       aus, was Extrakohle in die Taschen der Community spült.
       
       Wie würden Sie die Moderationen von Soundsystems bezeichnen, die in die
       Musik eingestreut werden? Was wird da verhandelt? 
       
       Es ist ein Medium der Kommunikation. Man nennt die dort gespielte Musik
       Dancehall, weil sie speziell für Open-Air-Sessions gedacht ist. Diese
       Tracks werden nicht im Radio gespielt, die Texte sind zu krass. Einerseits
       geht es um Musik, die Hooklines, die Beats müssen gut sein. Aber es gibt
       auch den DJ, der die Musik auswählt, und den MC, der moderiert oder über
       die aufgelegten Platten singt. Das ist oftmals themengebunden. Es kann
       lokalen Bezug haben. In Trinidad werden bei den Soundsystems Calypso-Songs
       mit politischen Botschaften gespielt.
       
       Und auf Jamaika? 
       
       Da ist es anders. Das Soundsystem dient mehr der Unterhaltung. Was in den
       Songs verhandelt wird, ist oft materialistischer, aber auch sexistischer
       Natur, slackness heißt das. Zugleich gibt es Tracks mit cultural lyrics,
       mit sozialkritischen Texten. Die sind unterhaltsam, und zugleich geht es
       darin um Upliftment, es ist eine musikalische Form von Selbsthilfe.
       
       Die Kultur der Soundsystems hat sich um die Welt verbreitet. Was halten
       JamaikanerInnen davon? 
       
       Das ist eine weitere Bedeutungsebene, die Leute erkennen sich darin wieder,
       Soundsystems sind identitätsstiftend. Es geht dabei auch um
       Selbstdarstellung. Die individuelle Zusammenstellung des Equipments als
       mobile Technologie hebt die Soundsystems voneinander ab. Sie wurden auf
       Jamaika erfunden und sind um die Welt gegangen, heute gibt es sie etwa in
       Brasilien, Japan und Deutschland. Das erfüllt JamaikanerInnen mit Stolz. Es
       ist eine kleine Karibikinsel, aber was ihren Musikvibe angeht, hat sie
       Weltgeltung.
       
       Klangsignaturen von Dancehall Sound und Dub Reggae sind Blaupausen für
       Dancefloor Sound. 
       
       Das ist auch bedeutsam, denn Dubsound ist die Basis für viele moderne
       Musikstile. Selbst für zeitgenössische E-Musik, aber auch für Pop und
       HipHop ist Dub wichtig. Am besten, man denkt das Soundsystem als
       Musikinstrument, als phonographisches Musikinstrument, das ist eine genuine
       jamaikanische Erfindung.
       
       Der Titel Ihres Buches, „Sonic Bodies“, Klangkörper, spielt auf die
       physische Kraft von Open-Air-Partys an. Wie körperlich ist denn der Sound,
       der da zu hören ist? 
       
       Ein Soundsystem erzeugt kaum wahrnehmbare Schwingungen, man hört es
       trotzdem sehr gut und noch in weiter Ferne. Weil Hochtöner und Bassboxen
       so exakt eingestellt sind, macht es den Ohren nichts aus, obwohl es derb
       laut ist. Es ist eine in die Eingeweide zielende, immersive Erfahrung.
       Leute im Westen hören gerne Musik über Kopfhörer. Auf diese Weise steckt
       man Musik in seinen Körper. Beim Soundsystem steckt man den ganzen Körper
       in die Musik. Nicht nur die Ohren hören zu, der Körper wird reingezogen,
       die Hosenbeine zittern. Man hat keine Chance, den Sound zu kontrollieren,
       ist aber in guten Händen: DJ und MC nehmen dich mit auf die Reise. Und man
       begibt sich zusammen mit vielen anderen Leuten da rein. Das ist befreiend.
       Ganz anders, als wenn man in der U-Bahn Kopfhörer eingestöpselt hat und
       eine private Hörerfahrung in seiner Bubble macht.
       
       In letzter Zeit gab es viele Proteste gegen homophobe und sexistische
       Songtexte von Dancehall-Künstlern. Konzerte wurden deshalb abgesagt. Ist
       das berechtigt? 
       
       Homophobe Texte und sexistisches Verhalten gegenüber Frauen sind
       inakzeptabel. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Aber man muss auch sehen,
       worin das wurzelt, da wird es kompliziert. Man darf nicht hergehen und
       alles über einen Kamm scheren. Es ist nicht alles schwarz und weiß. Klar
       ist, in vielen Texten wird ein Grassroot-Level reflektiert, da kommen auch
       negative Seiten der Gesellschaft zum Vorschein. In Jamaika gibt es ein
       teils biblisches Verständnis von Sexualität, damit einhergehend herrschen
       traditionelle Genderrollen.
       
       Was genau heißt das? 
       
       Viele Toningenieure und DJs sind Männer, aber auf dem Dancefloor der
       Soundsystems tanzen mehrheitlich Frauen. Das ist wichtig, denn die
       Kommunikation, das Call and Response zwischen DJ und Zuschauerinnen, beruht
       auf Gegenseitigkeit. Das ist wiederum ein afrikanischer Einfluss, eine
       kulturelle Trope. Auch die Sexualmoral der Dancehall entspricht einer
       westafrikanischen Sexualästhetik, nur dass sie in der Neuen Welt
       stattfindet. Das ist von unserer Sexualmoral zu unterscheiden, denn sie ist
       ganzheitlich. Wir differenzieren zwischen Sex und Fortpflanzung,
       Fruchtbarkeit und Reproduktion; das ist in Jamaika anders. Die Frauen sind
       eben nicht Objekte männlicher Begierde und Männerfantasie. Es ist eine
       Sexualität, die mit der Macht der Frauen zu tun hat, die ein Mann eben
       nicht hat. Man sieht das an den Tanzstilen. Geschlechtsverkehr wird oft
       mimisch und gestisch choreografiert.
       
       Wir erkennen darin nur Pornografie. 
       
       Expliziter Sex zeigt sich auch im Grad von Nacktheit in der Bekleidung.
       Auch da gilt: Frauen sind kein Lustobjekt, sie kontrollieren den
       Dancefloor. In der Ästhetik der Dancehall gelten beispielsweise Narben auf
       dem Bauch von Müttern als Schönheitsideal. Ein anderes Beispiel, der
       sogenannte Wheelbarrow-Tanz, kam ursprünglich aus Westafrika nach Jamaika,
       er wurde bei Begräbnissen getanzt. Explizite Sexdarstellungen bei
       Begräbnissen? Ganz genau, die alltägliche Gewalt im Getto wird durch die
       Prokreation beantwortet. Babys machen ist die einzige Möglichkeit, den Tod
       zu besiegen. Und das wirft ein anderes Licht auf Sex, ist aber keine
       Entschuldigung für Sexismus und Homophobie.
       
       12 Apr 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julian Weber
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Soundsystem
 (DIR) Julian Henriques
 (DIR) Reggae
 (DIR) Reggae
 (DIR) Reggae
 (DIR) Filmreihe
 (DIR) Musik
 (DIR) Musik
 (DIR) Nola is Calling
 (DIR) Postkolonialismus
 (DIR) Kelsey Lu
 (DIR) Musik
 (DIR) Michael E.Veal
 (DIR) Sklavenhandel
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Nachruf auf Reggaepionier Jah Shaka: Mit dem Bass durch die Eingeweide
       
       Der Dubreggaeproduzent und Soundsystempionier Jah Shaka ist gestorben.
       Nachruf auf einen soziokulturellen Basisarbeiter und kreativen
       Echokämmerer.
       
 (DIR) Nachruf auf Lee „Scratch“ Perry: Kosmische Echospulen
       
       Lee „Scratch“ Perry ist gestorben. Der jamaikanische Produzent und
       Experimentator am Mischpult begründete im Studio den Dubreggae. Er wurde
       85.
       
 (DIR) Renaissance von Dubreggae: Die Musik in der Hauptrolle
       
       Steve McQueen zeigt es in der Filmreihe „Small Axe“, Fabienne Miranda und
       Junior Loves in ihrer Musik: Dubreggae klingt besser denn je.
       
 (DIR) Erinnerung an Komponist Lord Kitchener: Die Calypsobräuche der Briten
       
       In den 1950er Jahren brachte er die karibische Musik nach London: Aldwyn
       Roberts alias Lord Kitchener. Ein neues Album erinnert an ihn.
       
 (DIR) Interviews zur Soundsystemkultur: Kannst du den Bass fühlen?
       
       „Bass, Mids, Tops“ ist die Oral History der Soundsystemkultur. In Joe
       Muggs' Interviews wird die Sozialgeschichte des Nachtlebens greifbar.
       
 (DIR) Musikprojekt Nola is Calling: Im Bouncesound steckt Geschichte
       
       Das Projekt Nola is Calling mit französischen, afrikanischen und
       US-Musikern vergegenwärtigt die Geschichte der Sklaverei in New Orleans.
       
 (DIR) Labelchef über Postkolonialismus: „Wieso sollte das jetzt exotisch sein?“
       
       Der Macher des Berliner Labels Habibi Funk reist auf der Suche nach Musik
       in den Nahen Osten. Gegen den Vorwurf der kulurellen Aneigung verwehrt er
       sich.
       
 (DIR) Neues Album von Kelsey Lu: Ruderschnecke im Ozean
       
       Wie ein ätherisch-barockes Klanggemälde: Das Album „Blood“ der US-Musikerin
       Kelsey Lu sticht aus der Masse aktueller Veröffentlichungen hervor.
       
 (DIR) Album „Add Land“ von Tellavision: Die moderne Schwimmerin
       
       Tellavision ist das Ein-Frau-Projekt von Fee Kürtens. Ihr Album „Add Land“
       hat die Hypnosekraft von Krautrock und die Dringlichkeit von Techno.
       
 (DIR) Ethnologe zur Bewahrung von Musik: „Der Kontext ist wichtig“
       
       Musik vor dem Vergessen retten: Der US-Musikethnologe Michael Veal über die
       Forschung in Archiven und Wiederveröffentlichungen afrikanischer Alben.
       
 (DIR) Empire Windrush in der British Library: In London ist ihr neues Zuhause
       
       Zwei Ausstellungen in London beschäftigen sich mit der konfliktreichen
       Geschichte schwarzer MigrantInnen in Großbritannien.