# taz.de -- Labelchef über Postkolonialismus: „Wieso sollte das jetzt exotisch sein?“
       
       > Der Macher des Berliner Labels Habibi Funk reist auf der Suche nach Musik
       > in den Nahen Osten. Gegen den Vorwurf der kulurellen Aneigung verwehrt er
       > sich.
       
 (IMG) Bild: Alles dabei: Auslage eines CD-Ladens im marokkanischen Sefrou
       
       taz: Jannis Stürtz, Sie waren sind anderthalb Tage in Beirut. In so einer
       kurzen Zeit, was lassen Sie hier und was nehmen Sie mit aus der Stadt –
       musikalisch gesehen? 
       
       Jannis Stürtz: Vor Ort lasse ich die Hälfte meines Gepäcks in Form von
       Schallplatten, die ich bei Plattenläden auf Kommission abgebe. Zurück nehme
       ich hauptsächlich Kassetten. Ich habe den Musiker Issam Hajji getroffen,
       von dem wir zwei Songs lizenziert haben. Und der hat mir ganz viele alte
       Tapes gegeben von Bands, mit denen er befreundet war. Das ist immer so ein
       ganz guter Recherchestartpunkt – tatsächlich sind Kassetten das Format, in
       dem im Libanon in den achtziger Jahren die spannenderen Sachen
       veröffentlicht worden sind als auf Vinyl.
       
       Sie finden eine alte Platte, da steht zum Beispiel „Fadoul“ drauf, und die
       Musik gefällt Ihnen. Sie wissen aber nichts über ihn. Wie recherchieren
       Sie? 
       
       Im Idealfall stehen auf der Platte bürgerliche Namen, vielleicht ist ein
       Musiker dabei, von dem ich schon gehört habe. Es gibt in jedem Land immer
       Leute, die mehr über die jeweilige Musikszene wissen als ich. Auch ältere
       Musiker haben mitunter ein Facebook-Profil. Bei dem marokkanischen Sänger
       Fadoul war es so, dass wir grob wussten, wo seine Familie vor 20 Jahren
       gewohnt hat. Also haben wir in alten Cafés Leuten das Cover gezeigt und
       gefragt, ob sich jemand an ihn erinnert. Darüber haben wir irgendwann die
       Adresse seines Bruder herausgefunden.
       
       Ich versetze mich nun in einen Künstler, der vor 40 Jahren Alben
       veröffentlicht hat. Jetzt findet die einer und sagt, er möchte diese neu
       herausbringen. Wie ist die typische Reaktion der Künstler?
       
       Der Großteil sind Künstler, die keine ökonomischen Erfolge hatten,
       vielleicht waren sie nicht mal Profimusiker. Da ist die Überraschung
       natürlich groß. In einigen Fällen können wir ja auch nicht mehr mit den
       Künstlern verhandeln, weil sie längst verstorben sind, dann wenden wir uns
       an deren Familien. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir einen Künstler
       gefunden haben und der gesagt hat: Nö.
       
       Was war die absurdeste Reaktion? 
       
       Die Tochter des Bruders macht uns die Tür auf, sie rief ihre Tante an und
       meinte, jemand sei wegen ihres Bruders da – der nicht mehr lebt. Und diese
       Schwester des Künstlers hat voll Panik bekommen, dass der Künstler während
       seiner Zeit in Europa Kinder gezeugt hätte und wir jetzt nach unserem Vater
       suchen. Das fand sie anscheinend sehr viel realistischer, als dass jemand
       wegen dessen Musik vorstellig wird.
       
       Sie legen auch als DJ auf, meist spielen Sie da HipHop, Salsa und Jazz. Wie
       unterscheidet sich das von Ihrer Arbeit mit dem Label Habibi Funk? 
       
       DJ-Gigs sind einfach etwas anderes als das, was wir mit dem Label machen.
       Ein Album von Ahmed Malek mit dessen melancholischer, relativ ruhiger Musik
       passt nicht als Beschallung für Dance-Partys. Der Name Habibi Funk enthält
       eben das Wort Funk, was zumindest das Potenzial hat, missverständlich zu
       sein. Aber es muss ja nicht alles Funk sein. Was uns musikalisch
       interessiert ist der Moment, in dem Musiker aus der Region sich mit ihren
       lokalen Einflüssen auseinandergesetzt haben und dann Einflüsse haben, die
       von außerhalb kommen. Das können klassische westliche Musikstile sein, bei
       vielen der sudanesischen Musiker ist äthiopische oder kongolesische Musik
       ein Einfluss.
       
       Es geht Ihnen nicht nur darum, die Musik mitzunehmen und für den
       europäischen Markt zugänglich zu machen, sondern auch darum, sie
       zurückzutragen und vor Ort wieder erhältlich zu machen. 
       
       Tatsächlich sind wir da relativ privilegiert, es ist sehr selten, dass ein
       Label, das sich mit dem Wiederveröffentlichen alter Musik beschäftigt, so
       ein Following hat in der Region, aus der die Musik kommt. Es hat noch mal
       eine andere Bedeutung, wenn darüber jemand Musik aus seiner
       Elterngeneration entdeckt – der gar nicht wusste, dass es so eine Art von
       Musik gab. Die durchschnittliche nigerianische Boogie-Compilation wird aber
       wohl kaum jemand in Nigeria hören. Ich glaube ein Großteil dieser
       Wiederveröffentlichungen ist primär für den westlichen Markt.
       
       Welche Faktoren helfen dann, dass Ihre Alben auch in der Region ankommen? 
       
       Es gibt nicht nur eine Erklärung. Letztendlich setzen wir uns auch mit dem
       Kontext der Entstehung auseinander. Zum Beispiel benutzen wir nicht einfach
       diese stereotype Bildsprache, die für orientalistische Musik oft angewendet
       wird. Aber es hat auch zu tun mit der Art, wie wir über die Bilder reden.
       Dass wir im Artwork immer arabische Sprache inkludieren, ist etwas, was
       die Leute goutieren. Wenn dann wiederum andere Labels ihre Compilations als
       „exotische Musik aus Beirut“ bewerben, ist das sicher nicht so interessant
       für jemanden aus Beirut, der sich fragt: Wieso sollte das jetzt exotisch
       sein?
       
       Wie gehen Sie mit dem Thema „kulturelle Aneignung“ um? 
       
       Ich persönlich sehe es nicht so, dass es von vornherein nicht möglich ist,
       dass jemand mit dem Hintergrund, den ich habe, die Arbeit macht, die ich
       mache. Aber bei dieser Austauschbeziehung zwischen europäischen oder
       nordamerikanischen Labels und außereuropäischen KünstlerInnen ist oftmals
       noch so eine postkoloniale Komponente dabei, sodass Ausbeutungsschemata
       zumindest ein Stück weit wiederholt werden. Wir haben deshalb die
       grundsätzliche Entscheidung getroffen, dass wir nur lizenzierte Sachen
       veröffentlichen. Die Basis unserer Deals ist: Wir teilen 50:50, zahlen
       einen Vorschuss auf die zu erwartenden Lizenzeinnahmen. Der Künstler behält
       seine Masterrechte, und wir lizenzieren die nur für meistens fünf bis sechs
       Jahre.
       
       Spielt postkoloniale Theorie in Ihrer Arbeit eine Rolle? 
       
       Habibi Funk ist kein akademisches Projekt, es ist ein Musiklabel. Aber ich
       finde, durch das, was wir machen und wo wir herkommen, hat es automatisch
       eine politische Komponente. Und es gibt einfach einen historischen
       Vorläufer dieser Interaktion, der oftmals problematisch war. Es ist
       wichtig, sicherzustellen, dass man nicht bestimmte Muster des Kolonialismus
       wiederholt. Das versuchen wir, und das beinhaltet, kritischen Gedanken
       gegenüber offen zu sein.
       
       Was waren Vorschläge, die Sie umgesetzt haben? 
       
       Zum Beispiel wenn man ein Album gefunden hat, das wenige andere kennen,
       dann gibt es in der Plattensammlerszene das Wording, sie „entdeckt“ zu
       haben. Eine Freundin meinte zu mir, dass es in diesem Kontext problematisch
       ist, dass man dieses Album de facto nicht discovered hat, sondern davon
       gibt es einige Hunderte Kopien, die irgendwo rumliegen. Das hat so eine
       gewisse Parallele, gerade wenn es über Kulturen hinweggeht, zu Christoph
       Kolumbus, der Amerika entdeckt hat. Das machte für mich Sinn, ich habe
       aufgehört, dieses Wort zu benutzen.
       
       In Ihrem Onlineshop verkaufen Sie T-Shirts, auf denen der Slogan „The
       future is female“ steht, Beim Durchhören Ihrer Alben ist zu merken, dass
       nur wenige Künstlerinnen präsent sind. Woran liegt das? 
       
       Eine Hypothese, die ich habe, ist: Damals noch mehr als heute war das ein
       Kampf, wenn ich als Frau gesagt habe, ich werde Sängerin oder Musikerin.
       Wenn man dann gesagt hätte, und noch dazu mache ich nichts Klassisches,
       sondern etwas ganz Verrücktes und singe wie Fadoul auch noch über Drogen,
       dann hätte man den Gegenwind multipliziert. Das mag nicht stimmen, war aber
       die für mich schlüssigste Erklärung.
       
       Es klingt schlüssig, wenn ich etwa an die ägyptische Sängerin Umm Kulthum
       denke, die zwar traditionell gesungen hat, sich das aber erkämpfen musste. 
       
       Ich glaube, das waren dann Spielarten von „Frau auf der Bühne im Spotlight“
       die eher akzeptiert waren, als wenn sie irgendwie mit fünf Dudes mit langen
       Haaren irgendwelche Rocksachen gemacht hätte.
       
       6 May 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julia Neumann
       
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