# taz.de -- Corona-Ansatz in den Niederlanden: Herdenimmunität statt Lockdown
       
       > Die niederländische Regierung will, dass rasch 60 Prozent der Menschen
       > den Coronavirus einmal hatten und so immun werden. Das stößt auf Kritik.
       
 (IMG) Bild: Herdenimmunität ensteht, wenn man dicht gedrängt vor dem Coffeeshop nach dem letzten Gras ansteht
       
       AMSTERDAM taz | Vermutlich wird man sich an die TV- Ansprache Mark Ruttes
       aus Anlass der Corona-Pandemie vom Montagabend noch in vielen Jahren
       erinnern. Was nicht allein an den Dimensionen dieser Krise liegt, sondern
       am Ansatz, mit dem Ruttes Regierung diese bekämpfen will. Und an einem
       Schlagwort, das Rutte sich zwar nicht ausgedacht hat, dem er aber seinen
       Umgang mit dem Virus unterordnet: die “Herden-Immunität“.
       
       Was damit gemeint ist, beschreibt Rutte so: Es habe zwar “absolute
       Priorität“, die Risiken für besonders gefährdete Personen zu minimieren.
       Aber es gelte vor allem, die Zeit zu überbrücken, bis eine Impfung oder
       Medizin verfügbar sei, und “zugleich kontrollierte Herden-Immunität
       aufzubauen“.
       
       Grundlage des Konzepts ist die Annahme, dass in der Regel immun sei, wer
       das Virus einmal hatte. Folglich argumentiert der Premier: “Umso größer die
       Gruppe ist, die immun ist, desto kleiner die Chance für das Virus, auf
       anfällige ältere Menschen und Personen mit schwacher Gesundheit
       überzuspringen.“ Im Kern soll diese Herden-Immunität demnach als eine Art
       “Schutzmauer“ für Riskogruppen fungieren. Das beinhaltet eine “beherrschte
       Verbreitung“ des Corona-Virus unter Bevölkerungsgruppen, für die eine
       Infektion weniger riskant sei. Dieser Prozess könne allerdings “Monate oder
       länger dauern“, in der die Risikogruppen möglichst abgeschirmt werden
       müssen.
       
       Jaap van Dissel, der Direktor des Rijksinstituut voor Volksgezondheid en
       Milieu, erklärte im niederländischen Fernsehen, eine Immunität von 50 bis
       60 Prozent der Bevölkerung sei dazu nötig. Ohne Aufbau einer solchen
       Immunität bleibe die Gesellschaft bei einer erneuten Corona-Welle anfällig.
       
       ## Rechtspopulisten protestieren gegen Ruttes Ansatz
       
       Unmittelbar nach seiner Rede erntete Rutte, der einer Mitte-Rechts-
       Koalition aus vier Parteien vorsitzt, große Zustimmung bis weit in die
       Opposition hinein. Die Rede spreche ihm aus dem Herzen, sagte etwa Lodewijk
       Ascher, Fraktionsvorsitzender der sozialdemokratischen Arbeitspartei
       (PvdA).
       
       Lediglich die rechtspopulistischen Partij voor de Vrijheid (PVV) und Forum
       voor Democratie (FvD) kritisierten den Ansatz. Sowohl PVV- Chef Geert
       Wilders als auch Thierry Baudet, Fraktionsvorsitzender des FvD, wiesen auf
       die Beispiele von Frankreich, Belgien oder Spanien, die zu Wochenbeginn
       eine maximale Beschränkung des öffentlichen Lebens beschlossen.
       
       In einer stundenlangen Parlamentsdebatte am Mittwoch sprachen beide
       Parteien sich erneut für einen Lockdown nach dem Vorbild der Nachbarländer
       aus. Wilders warf der Regierung vor, sie “experimentiere mit Menschen“,
       weil das Prinzip der Herden-Immunität nicht bewiesen sei. Vielfach kam in
       der Debatte die Unsicherheit zur Sprache, dass eine Infektion von mehr als
       der Hälfte der Bevölkerung auch eine hohe Anzahl an Toten bedeute.
       
       Und während Rutte noch einmal unterstrich, dass er einen Lockdown weder für
       hilfreich noch für vermittelbar halte, sah er sich doch gezwungen, beim
       Reizwort der Herden-Immunität nuancierend nachzubessern: “Unser Ziel sind
       ausreichende Kapazitäten auf Intensiv-Stationen. Herden-Immunität ist ein
       Nebeneffekt dieses Ansatzes.“
       
       ## Mehr Tests sind nicht geplant
       
       Dass die niederländische Debatte im Kern den Konflikt zwischen
       traditionellen Parteien und ihren rechtspopulistischen Herausforderern
       widerspiegelt, ist wenig überraschend, Eine ähnliche Konstellation findet
       sich in Den Haag inzwischen bei den meisten politischen Fragestellungen.
       
       Zugleich klingt auch seitens der WHO deutliche Kritik am Ansatz der
       Regierung: auf einer Pressekonferenz am Dienstag betonten Vertreter der
       Organisation, Herden-Immunität sei beim Coronavirus nicht nachgewiesen.
       Daher sei jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um auf einen entsprechenden
       Ansatz zu vertrauen. Stattdessen ginge es um Vorsorgemaßnahmen und vor
       allem darum, im großen Rahmen zu testen.
       
       Mehr Tests gehören indes nicht zur derzeitigen Den Haager Krisen-
       Bekämpfung. Stattdessen gilt seit Freitag ein Besuchsverbot in
       Pflegeheimen, um Bewohner und Angestellte zu schützen. Ansonsten liegt auch
       zwischen Maastricht und Groningen das öffentliche Leben weitestgehend
       still, sind Schulen und Unis, Restaurants, Bars, Sporteinrichtungen und die
       meisten Geschäfte geschlossen.
       
       Ungeachtet der Diskussion der letzten Tage ist es nicht ausgeschlossen,
       dass noch umfassendere Maßnahmen folgen. Die niederländische Polizei hat
       sich bereits auf weitere Beschränkungen vorbereitet, und Femke Halsema, die
       Bürgermeisterin von Amsterdam, sagte im Gemeinderat, ein Lockdown in der
       Hauptstadt wäre “keine Überraschung“.
       
       20 Mar 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tobias Müller
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Niederlande
 (DIR) Mark Rutte
 (DIR) Schule und Corona
 (DIR) Kolumne Alles getürkt
 (DIR) Schweden
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Schwerpunkt Abtreibung
 (DIR) Kosovo
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Schulstart trotz Corona in Niederlanden: Breitband ist nicht alles
       
       Die Niederlande gelten als Vorbild in Sachen digitalisierte Schule. Doch in
       der Coronakrise strauchelten Schulen und Schüler selbst hier.
       
 (DIR) Mein Sohn und seine neue Geschäftsidee: Der Corona-Verkäufer
       
       Mein Sohn Mehmet geht neuerdings morgens um 8 aus dem Haus und kommt
       spätabends mit einem Haufen Geld wieder. Was ist da los?
       
 (DIR) Corona-Eindämmung in Schweden: Holz- oder Königsweg?
       
       In Schweden sind viele Menschen an Covid-19 gestorben. Doch die Regierung
       bleibt bei ihrem liberalen Kurs – und bekommt Lob von der WHO.
       
 (DIR) Europas geschlossene Grenzen: Mehr Reflex als Effekt
       
       Die rein nationale Ausrichtung der Gesundheitssysteme ist das Problem: die
       grenzüberschreitende Krise legt die Defizite der Zusammenarbeit bloß.
       
 (DIR) Corona und Nordkorea: Komplett virenfrei
       
       Pjöngjang meldet bislang keine Infektion. Angeblich ist das das Ergebnis
       guter Prävention. Sollte Corona ausbrechen, drohen harte Konsequenzen.
       
 (DIR) Schwangerschaftskonfliktberatung: Kein Ende der Beratungspflicht
       
       Während der Coronakrise sollen ungewollt Schwangere in mehreren
       Bundesländern auf Beratungen per Telefon oder Video zurückgreifen können.
       
 (DIR) Kosovos neue Koalition vor dem Aus: Krach um Corona im Kosovo
       
       Kosovos rechte Partei LDK will wegen Corona sofort den Ausnahmezustand.
       Ministerpräsident Albin Kurti lehnt ab. Die Regierung könnte darüber
       platzen.
       
 (DIR) Skandinavier sind sich nicht einig: Corona spaltet Nordeuropa
       
       So gehen Skandinavier mit Corona um: Ausnahmezustand in Dänemark und
       Norwegen, Zurückhaltung in Schweden und Finnland.