# taz.de -- „Der Krieg schweißt die Menschen in Moldau zusammen“
       
       > Neue Unsicherheiten und viel Solidarität: der Osteuropaforscher Ulf
       > Brunnbauer über die veränderte Lage in der Republik Moldau
       
 (IMG) Bild: Gedenkfeier für die Opfer des Transnistrienkrieges am 14. März in Coșnița
       
       Interview Barbara Oertel
       
       taz am wochenende: Herr Brunnbauer, nur wenige Tage nach dem Beginn von
       Russlands Krieg gegen die Ukraine hat die Republik Moldau den Beitritt zur
       Europäischen Union beantragt. Eine kluge Entscheidung? 
       
       Ulf Brunnbauer: Dieser Schritt war aus der Not geboren. Denn die
       moldauische Regierung sieht jetzt, was es für die Sicherheit eines Landes
       bedeutet, wenn es weder von der EU noch von der Nato geschützt wird.
       Dennoch ist diese Entscheidung auch das Ergebnis eines längeren Prozesses.
       Seit drei Jahrzehnten ist das Pendel in Moldau immer zwischen einer
       proeuropäischen und einer prorussischen Position hin und her geschwungen.
       Die letzten Wahlen waren aber [1][eine klare Richtungsentscheidung für eine
       EU-Mitgliedschaft].
       
       Wie sollte sich die EU jetzt dazu verhalten? 
       
       Die Verhandlungen mit Moldau und der Ukraine, aber auch [2][mit den
       Westbalkanstaaten] müssen zügig vorangetrieben werden. Brüssel muss die
       Löcher in der europäischen Integration in Südosteuropa endlich schließen.
       Bei Georgien plädiere ich aktuell für Zurückhaltung. Da muss sich die EU
       erst einmal darüber klar werden, ob sie den Kaukasus als Teil von Europa
       betrachtet.
       
       Könnte Russland diesen Vorstoß von Chișinău als „Kriegserklärung“
       verstehen? 
       
       Da wage ich keine Prognose. Unstrittig ist aber, dass Moskau das als Akt
       der Aggression werten wird. Dem Kreml gilt die EU ja mittlerweile als
       Marionette der USA und als Akteur, der Russland feindlich gesonnen ist.
       Dennoch glaube ich nicht, dass Moskau deswegen einen weiteren Krieg vom
       Zaun brechen wird.
       
       Mit der abtrünnigen Region Transnistrien hat es Moldau, ähnlich wie
       Georgien, auf seinem Territorium mit einem sogenannten eingefrorenen
       Konflikt zu tun. Wie waren die Beziehungen bis zum Angriff Russlands auf
       die Ukraine? 
       
       Beide Seiten hatten einen Modus vivendi gefunden. Immerhin gab es seit dem
       Sommer 1992, anders als in Georgien und im Donbass, keine militärischen
       Auseinandersetzungen mehr. Früher war Transnistrien ein schwarzes Loch.
       Korruption, Schmuggel- und Waffengeschäfte waren charakteristisch. Das gibt
       es heutzutage nicht mehr in diesem Ausmaß, die Regierung Moldaus und die
       Führung in Tiraspol haben durch Vereinbarungen eine gewisse Legalisierung
       des Handels herbeigeführt. Es gibt wirtschaftlichen Austausch und
       pragmatische Lösungen für Alltagsprobleme. Bis zum 24. Februar hat
       nichts darauf hingedeutet, dass die Lage eskalieren könnte.
       
       Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist die Situation eine andere.
       In Transnistrien stehen rund 1.500 russische Soldaten, die Führung in
       Tiraspol hat gerade erst wieder einmal ihre Unabhängigkeit erklärt. 
       
       Natürlich gibt es Befürchtungen, dass diese russischen Truppen in die
       Ukraine einmarschieren, in Richtung Odessa vorstoßen oder gar den Krieg
       Richtung Westen tragen könnten. Russlands Strategie scheint es zu sein,
       einen Landkorridor vom Süden der Ukraine über die Krim in den Donbass zu
       schaffen. Auch Transnistrien könnte ein Teil davon sein. Sollte dieses
       Szenario eintreten, würde sich die Frage nach der Unabhängigkeit
       Transnistriens mit einer ganz neuen Dramatik stellen. Andererseits hatte
       bisher Russland durchaus Interesse am Status quo. Dieser „eingefrorene“
       Konflikt war für einen Beitritt Moldaus zur EU oder gar zur Nato
       hinderlich. Wir haben es jetzt mit einer komplett anderen Dynamik zu tun.
       Das macht Voraussagen schwierig.
       
       Die Region Gagausien genießt in Moldau einen besonderen Autonomiestatus.
       Eine übergroße Mehrheit der Bevölkerung richtet ihren Blick nach Russland.
       Könnte der Regierung in Chișinău von Gagausien aus neues Ungemach drohen? 
       
       In der Tat leben die Menschen dort weitgehend in einer russischen
       Medienwelt, viele sind auf Pro-Putin-Kurs. Doch die moldauische Regierung
       bemüht sich darum, integrative Signale zu senden, um die vorhandenen
       Bruchlinien nicht weiter zu verstärken. Dabei liegt die Betonung auf
       Moldaus multiethnischem Charakter, das heißt einer staatsbürgerlichen und
       keiner ethnischen Identität. Chișinău versucht den Druck von den
       Gagaus*innen zu nehmen, sich für eine Seite entscheiden zu müssen. Das
       Credo lautet: ein Staat, in dem alle gut leben können. Außerdem betont die
       Regierung, dass die Neutralität, die in der Verfassung steht, nicht zur
       Disposition steht. Nichtsdestotrotz bleibt das ein Balanceakt.
       
       Könnte der Ukrainekrieg diese fragmentierte Gesellschaft auch
       zusammenschweißen? 
       
       Das passiert bereits. Über 300.000 Flüchtlinge sind aus der Ukraine nach
       Moldau gekommen, das entspricht mehr als 10 Prozent der Gesamtbevölkerung.
       Obwohl das Land auf so eine Situation überhaupt nicht vorbereitet ist,
       sehen wir ein unglaubliches Engagement. Dieses ganze Elend, das geht den
       Menschen sehr nahe. Da ist jetzt eine innergesellschaftliche Solidarität zu
       erkennen, die gestärkt ist. Und ich könnte mir vorstellen, dass jetzt auch
       einigen großen Putin-Freunden so ihre Zweifel kommen.
       
       Welche Rolle spielt Rumänien in diesem Kontext? 
       
       Bestrebungen in Bukarest, wie noch Anfang der 1990er Jahre, sich die
       Republik Moldau einzuverleiben, sind spätestens mit Rumäniens EU-Beitritt
       2007 endgültig passé. Seitdem hat Rumänien aber großzügig Pässe an die
       Moldauer*innen verteilt, quasi eine EU-Mitgliedschaft durch die
       Hintertür. Innerhalb der EU spielt Bukarest eine konstruktive Rolle, weil
       es sich als eine Art großer Bruder von Moldau versteht. Aktuell ist sich
       Rumänien als Nachbar der Ukraine seiner Frontlage sehr bewusst. Nicht von
       ungefähr hat Bukarest die Nato um mehr Schutz gebeten.
       
       Es ist offensichtlich, dass der Kreml beispielsweise auch in Bosnien und
       Herzegowina seine Finger im Spiel hat. 
       
       Solange Wladimir Putin an der Macht ist, wird er auch hier als Zerstörer
       und Kämpfer gegen den Westen weiter versuchen, Einfluss zu nehmen. Vor
       allem [3][die serbische bosnische Teilrepublik Republika Srpska] ist ein
       Einfallstor. Doch ich habe den Eindruck, dass das Problembewusstsein der EU
       dafür gewachsen ist. Man ist nicht mehr bereit, die Umtriebe eines Milorad
       Dodik (serbischer Vertreter im dreiköpfigen Staatspräsidium Bosniens; Anm.
       d. Red.) hinzunehmen. Aber auch auf die Regierung in Serbien sollte mehr
       Druck ausgeübt werden. Das kann die EU, die ja jetzt eine erstaunliche
       Einheit demonstriert. Die Instrumente dafür hat sie.
       
       So schwer eine Prognose ist: Wird Wladimir Putin weitergehen und seine
       Truppen auch nach Moldau schicken? 
       
       Putin ist von der Idee besessen, der Westen wolle Russland zerstören, er
       will das russische Imperium wiedererrichten. Er glaubt sich in einem
       existenziellen Kampf und negiert das Existenzrecht der Ukraine und der
       ukrainischen Nation. Das, kombiniert mit der Brutalität der russischen
       Armee, sind Voraussetzungen eines möglichen Völkermords. Dabei verteidigt
       die Ukraine jetzt die Freiheit Europas. Auch deshalb sollten wir uns auf
       das Schlimmste einstellen. Das heißt: Wir können die Möglichkeit nicht
       ausschließen, dass der Kreml sich dafür entscheidet, den Krieg über die
       Ukraine hinauszutragen.
       
       19 Mar 2022
       
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