# taz.de -- Deutsche China-Politik: „Eigentümlich veraltet“
       
       > Seit Xi Jinping regiert, hat China offene Großmachtambitionen, sagt
       > Reinhard Bütikofer. Der Grüne setzt auf Kooperation – aber nicht
       > bedingungslos.
       
 (IMG) Bild: Kanzlerin Merkel zu Besuch in Peking 2012. Damals war ihre China-Politik noch auf der Höhe der Zeit
       
       taz: Herr Bütikofer, kein anderes westliches Industrieland hat vom Aufstieg
       Chinas so profitiert wie Deutschland. Welche Bilanz ziehen Sie nach 16
       Jahren Angela Merkel? 
       
       Reinhard Bütikofer: Diese 16 Jahre China-Politik kann man nicht über einen
       Leisten schlagen. Vor einigen Jahren noch kam eine Gruppe europäischer
       China-Thinktanks in einer Studie zu dem Ergebnis, Frau Merkel gehöre zu den
       wenigen Führungspersönlichkeiten Europas, die auch öffentlich über
       Menschenrechte in China redeten. Sie hat es geschafft, dass die Witwe des
       Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, Liu Xia, nach jahrelangem Hausarrest
       nach Deutschland ausreisen durfte. Und doch steht heute Merkels
       China-Politik ganz eigentümlich veraltet in der Landschaft.
       
       Inwiefern? 
       
       Sie hat sich zuletzt besonders profiliert als verlässliche Partnerin von Xi
       Jinping, als eine Politikerin, die bereit ist, zugunsten intensiver
       Kooperation mit dem Xi-Regime nicht nur Menschenrechtsbelange wieder
       kleiner zu schreiben, sondern auch deutsche Alleingänge zu machen, die
       Europas Positionen gegenüber China nur schwächen können. Die enge
       wirtschaftliche Verflechtung, die Spötter dazu brachte, zu sagen,
       Deutschland habe gegenüber China gar keine Außenpolitik, sondern nur eine
       Automobil-Außenpolitik, erklärt das nicht allein. Mir scheint, dass bei
       Merkel eine erhebliche Portion Defätismus im Spiel ist. So, als ob die
       Kanzlerin überzeugt wäre, dass Chinas Propaganda vom unaufhaltsamen
       Aufstieg zutreffe und man letztlich nur die Wahl habe, sich heute zu
       arrangieren oder morgen unter weniger günstigen Bedingungen. Ich halte das
       für eine falsche und gefährliche Haltung, die uns in eine Position der
       Hilflosigkeit gegenüber einem immer arroganteren Regime zu führen droht.
       
       Aber Merkel wird doch ein recht gutes Gespür für Wandel in der Weltpolitik
       nachgesagt. 
       
       Die Machtübernahme durch Xi Jinping 2013 ist gleichzusetzen mit einem
       grundlegenden Roll-back in China und mit einer ebenso dramatischen Wende zu
       offener Großmachtanmaßung in den Außenbeziehungen. Zu Beginn seiner
       Amtszeit hatten Beobachter gehofft, Xi könnte sich als Reformer
       herausstellen. Das war eine Illusion. Die Menschenrechtsanwälte, die vor
       zehn Jahren ihre Mandanten vor Gericht mutig verteidigen konnten, sitzen
       heute selbst in Haft. In Xinjiang herrscht heute der schlimmste
       Polizeistaat, allenfalls noch vergleichbar mit Nordkorea. Die
       Kommunistische Partei drängt sich wieder [1][in jede Ritze im Alltag der
       Menschen] und gängelt die Wirtschaft immer mehr. Frau Merkels China-Politik
       folgte über viele Jahre dem Grundgedanken, man müsse mit Geduld und
       Leidenschaft dicke Bretter bohren. Aber das Xi-Regime hat die dicken
       Bretter durch Stahlplatten ersetzt. Mit dem Holzbohrer richtet Merkel da
       nicht mehr viel aus.
       
       Die Frage ist ja, welche Schlussfolgerungen man daraus zieht. Sollte sich
       Deutschland von China entkoppeln? 
       
       Die Idee des generellen Entkoppelns, die Präsident Trump propagierte, habe
       ich nie für eine intelligente Perspektive gehalten. Das steht unserem
       europäischen Grundgedanken der multilateralen Kooperation diametral
       entgegen. Wir wollen keine Mauern bauen. Aber man muss dabei doch zur
       Kenntnis nehmen, dass China mit dem Entkoppeln längst angefangen hat. Nach
       wie vor ist es so, dass europäische Unternehmen an den chinesischen
       Beschaffungsmärkten nicht zum Zuge kommen, während unsere
       Beschaffungsmärkte für chinesische Staatsunternehmen sperrangelweit
       offenstehen. Entkoppeln war eine Ideologie von Trump, ist aber eine
       Realität von Xi.
       
       Also doch entkoppeln? 
       
       In einer Situation, in der ein Partner bereit ist, ökonomische
       Verflechtungen zu einer politischen Waffe zu machen, kann man nicht naiv
       sagen: Unsere Offenheit kennt keine Grenze. Ein Beispiel bietet der Ausbau
       des 5G-Netzwerks, das ja das Nervensystem unserer künftigen Kommunikation
       gerade auch im industriellen Bereich sein wird. Ich möchte nicht, dass eine
       chinesische Firma Teil des Infrastrukturausbaus wird, die nach geltendem
       chinesischen Gesetz den dortigen Sicherheitsbehörden bedingungslos zu
       Willen sein muss. Es ist keine Entkopplungsphilosophie, sondern schlicht
       praktische Vernunft, sich gegenüber einem Wettbewerber, der nicht fair
       spielt, nicht völlig in die Abhängigkeit zu begeben.
       
       Wie wollen Sie das einem Konzern wie VW erklären, der inzwischen die Hälfte
       seines Umsatzes in China macht? 
       
       Es ist klar, dass ein Großkonzern nicht auf dem Absatz umkehren und sagen
       kann, ab sofort sei der chinesische Markt uninteressant. Ich glaube aber
       schon, dass auch die Strategen in den Konzernzentralen erkannt haben, das
       Chinas Wirtschaftsstrategie mittel- und langfristig eben nicht auf
       Partnerschaft mit dem Westen setzt. Das fing schon vor sechs Jahren an mit
       der Strategie „Made in China 2025“, einer Technologieoffensive. Und es wird
       jetzt im 14. Fünfjahresplan fortgesetzt mit der sogenannten doppelten
       Zirkulation. Für internationale Partner ist nur ein Platz vorgesehen, wenn
       sie sich der ökonomischen und politischen Logik Chinas unterwerfen. Statt
       weiter in eine Sackgasse zu laufen, sollten wir neue Wege suchen. Einfach
       wird das nicht.
       
       Die USA verfolgen in ihrer Rivalität mit China ihre eigenen Interessen,
       fordern Deutschland und Europa aber auf, sich zu entscheiden, auf welcher
       Seite sie künftig stehen. 
       
       US-Außenminister Antony Blinken hat mehrfach gesagt, dass er das von den
       Partnern der USA nicht verlangt. Es wäre allerdings unselig, wollten wir so
       tun, als wäre dieser Systemkonflikt gar nicht unserer, sondern bloß einer
       zwischen den USA und China. Die Systemrivalität bezieht sich auf Grundwerte
       wie Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Multilateralismus. In
       der Hinsicht ist die EU nicht ein Neutrum, sondern ganz klar Partner von
       Ländern wie den USA, Australien, Kanada, Japan, Indien und anderen. Bei
       aller Offenheit für Kooperation muss auch klar sein: Wir machen keine
       Deals, bei denen wir etwa Klimaschutz gegen unser Engagement für
       Menschenrechte eintauschen.
       
       Keine Deals? Die internationale Gemeinschaft hat Taiwan schon vor einer
       Weile sämtliche diplomatische Verbindungen gekappt, weil China das so
       wollte. Nun ist selbst dieser Status quo von Taiwan gefährdet. Müsste sich
       eine künftige Bundesregierung nicht klarer positionieren? 
       
       Ja, das muss sie. Das Europäische Parlament spielt übrigens eine führende
       Rolle dabei, eine neue Taiwan-Politik zu formulieren. In ihrem
       Grundanliegen ist diese Politik konservativ: Wir wollen den Status quo
       nicht durch einseitige Maßnahmen von einem der beiden Akteure geändert
       sehen. Das schließt eine von Xi Jinping mehrfach angedrohte militärische
       Eroberung Taiwans genauso aus wie eine etwaige taiwanesische
       Unabhängigkeitserklärung. Da aber Peking den Status quo ständig mehr
       infrage stellt, müssen wir unsere Unterstützung für die Demokratie Taiwans
       deutlicher machen.
       
       Was würde eine grüne Kanzlerin in der China-Politik anders machen? 
       
       Wenn wir regieren, regieren wir in einer Koalition. Da macht keiner allein
       Außenpolitik. Trotzdem hoffe ich auf Veränderungen in der deutschen
       China-Politik. Erstens: Wir müssen uns europäischer bewegen und weniger
       deutsche Alleingänge vornehmen. Zweitens: Wir müssen damit aufhören, so zu
       tun, als seien Handels- und Außenpolitik losgelöst voneinander. Wir müssen
       unsere Außenhandelsinteressen in den geopolitischen Zusammenhang einordnen.
       Drittens: Wir wollen verstärkt auf Klimaaußenpolitik setzen, auch gegenüber
       China. Viertens: Deutschland und Europa müssen gegenüber Ländern im
       globalen Süden ein besserer Partner sein, etwa durch die
       EU-Konnektivitätsstrategie. Die chinesische Seidenstraßen-Initiative füllt
       ein Vakuum, das wir hinterlassen haben.
       
       Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock scheint sich im Wahlkampf
       außenpolitisch bislang zurückzuhalten. 
       
       Im Gegenteil. Sie war sowohl zur Europapolitik als auch hinsichtlich der
       transatlantischen Beziehungen sowie zum Umgang mit autoritären Regimen sehr
       deutlich. „Dialog und Härte“ ist ihre Formel für das Verhältnis zu
       Letzteren. Damit zieht sie gegenüber China oder Russland klarere Grenzen
       als Laschet oder Scholz, die da für meinen Geschmack zu viel merkeln oder
       schrödern.
       
       Und Ihre künftige Rolle? Jahrzehnte haben Sie China regelmäßig besucht.
       Jetzt hat Peking Sie auf eine Liste der unerwünschten Personen gesetzt,
       weil Sie sich für europäische Sanktionen infolge der
       [2][Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang] eingesetzt haben. 
       
       Ich werde mich natürlich weiter engagieren. Solange ich nicht nach China
       fahren kann, werde ich vielleicht öfter Taiwan besuchen. Schließlich werde
       ich 2053 hundert Jahre alt und hoffe, dass es in China davor eine Wende zum
       Besseren geben wird und ich doch wieder willkommen bin.
       
       9 Sep 2021
       
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