# taz.de -- Deutschland, Israel und der Gaza-Krieg: „Es ist ein Ersatznationalismus“
       
       > Daniel Marwecki erforscht die Geschichte der deutsch-israelischen
       > Beziehungen. Der Politologe sagt: Die Deutschen schotten sich von der
       > Realität ab.
       
 (IMG) Bild: Abgekühltes Verhältnis: Außenministerin Annalena Baerbock mit Israels Premier Benjamin Netanjahu Mitte April in Jerusalem
       
       wochentaz: Herr Marwecki, Deutschland hat auf die Haftbefehle, die der
       Chefankläger des [1][Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) gegen
       Israels Premier] und Verteidigungsminister beantragt hat, verhalten
       reagiert. Wie bewerten Sie das? 
       
       Daniel Marwecki: Ich halte es für wichtig, dass das Auswärtige Amt die
       Rechtmäßigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs nicht in Zweifel
       gezogen hat.
       
       Warum? 
       
       Kriegsverbrechen sind nun einmal Kriegsverbrechen. Das Auswärtige Amt hat
       lange versucht, den Widerspruch zwischen der deutschen Staatsräson im Sinne
       einer fast bedingungslosen Unterstützung Israels und dem Völkerrecht zu
       überbrücken. Aber wer diesen Krieg beenden und Kriegsverbrechen geahndet
       sehen will, sollte die Entscheidung begrüßen. Und ich denke, dass viele in
       Washington und Berlin froh wären, Netanjahu nicht mehr an der Macht zu
       sehen.
       
       Israels Botschafter in Deutschland, Ron Prosor, hat nach der
       IStGH-Entscheidung gesagt, [2][die deutsche Staatsräson werde nun
       getestet]. Wie sehen Sie das? 
       
       Da hat er nicht unrecht. Die Staatsräson kollidiert eben mit dem
       Völkerrecht, da muss man sich entscheiden. Angesichts der deutschen
       Rechtslage müsste man die Waffenlieferungen an Israel an Bedingungen
       knüpfen, wenn nicht gleich ganz einstellen. Zwei aktuelle Klagen fordern
       genau das. Das ist aber unwahrscheinlich, denn Deutschland teilt mit Israel
       das Kriegsziel, die Hamas zu zerschlagen. Das scheint nur nicht zu
       funktionieren, wie viele Experten vorhergesagt haben.
       
       Sie haben ein Buch über die Geschichte der deutsch-israelischen Beziehungen
       geschrieben. Welche Rolle spielte am Anfang die Moral? 
       
       Anfangs waren die Beziehungen funktional: Deutschland brauchte nach dem
       Zweiten Weltkrieg einen Persilschein. Und Israel brauchte die Unterstützung
       der Bundesrepublik, um seinen Staat aufzubauen. Israel war ein von Importen
       abhängiger Agrarstaat, musste Überlebende aus den Konzentrationslagern
       und Flüchtlinge aus arabischen Staaten versorgen. Westdeutschland half, die
       Wirtschaft zu industrialisieren, und leistete später Militärhilfe.
       
       Ein Meilenstein war das Luxemburger Abkommen von 1952, mit dem sich die
       Bundesrepublik zu Reparationen verpflichtete. Bundeskanzler Konrad Adenauer
       sah das als „Wiedergutmachung“, begründete es aber auch mit dem
       antisemitischen Motiv von der [3][„Macht der Juden“], die man nicht
       unterschätzen solle. Wie sah man das in Israel? 
       
       Für Israels ersten Staatschef Ben Gurion ging es nicht um Vergebung, Buße
       oder Sühne, das war völlig klar. Für ihn ging es darum, Fabriken aufzubauen
       und Maschinen zu besorgen.
       
       Für Israel muss es schwer gewesen sein, mit diesem Deutschland zu tun zu
       haben. 
       
       Ben Gurion musste sich in seinem Land starker Kritik erwehren, von links
       und von rechts. Das deutsche „Blutgeld“ wollten viele nicht annehmen.
       
       Wie sahen das die Menschen in Westdeutschland? 
       
       Es gab einige, die aus moralischen Gründen für die Zahlungen an Israel
       waren. Andere fanden, dass man gar nichts zahlen müsse. Adenauer war der
       Ansicht, man müsse etwas zahlen, um den deutschen Namen wieder
       reinzuwaschen. Im Bundestag konnte er das Abkommen nur mit den Stimmen der
       SPD und gegen große Teile seiner eigenen Regierung durchsetzen.
       
       War damit eine Anerkennung deutscher Schuld verbunden? 
       
       Nein, dahinter stand eher das Bestreben, deutsche Unschuld zu beweisen.
       Während man Reparationen zahlte, integrierte man viele Altnazis in die
       Bundesrepublik. Es fand kaum Aufarbeitung statt, man wollte einen
       Schlussstrich.
       
       Sie schreiben, dass die westdeutsche Starthilfe für Israel deutlich
       wichtiger war als bekannt ist. 
       
       In Zahlen kann man das schwer beziffern, aber es hat einen großen
       Unterschied gemacht. Den Schritt vom Agrarstaat zu einer Industrienation
       hätte Israel ohne deutsche Hilfe in dieser Form nicht machen können. Dazu
       zählen kriegswichtige Waffenlieferungen und großzügige Finanzhilfe. Zählt
       man die industrielle, militärische und finanzielle Unterstützung zusammen,
       kommt man zum Ergebnis, dass ausgerechnet die Bundesrepublik in der
       Anfangszeit des jüdischen Staats dessen wichtigster Partner war – noch vor
       den USA, die diese Rolle erst nach 1967 übernahmen. Die Bundesrepublik nahm
       dann auf dem Beifahrersitz Platz.
       
       Kann man die westdeutschen Hilfszahlungen dieser Jahre denn beziffern? 
       
       Ein Wirtschaftshistoriker hat nachgerechnet, dass die Reparationszahlungen
       Deutschland in den ersten Jahren weniger als 0,2 Prozent seines
       Bruttosozialprodukts gekostet haben. Das ist sehr wenig, und für die
       deutsche Industrie war es ein Konjunkturprogramm. Schon rein wirtschaftlich
       hat sich das also gelohnt, und dass Deutschland wieder Waffen herstellen
       durfte, war auch im Sinne von Konrad Adenauer oder Franz-Josef Strauß.
       
       Diplomatische Beziehungen haben die Bundesrepublik und Israel erst im Jahr
       1965 aufgenommen. Warum so spät? 
       
       Israel war schon früher dazu bereit. Aber die Bundesrepublik fürchtete, die
       arabischen Staaten damit in die Arme der DDR zu treiben. Sie wollte nicht,
       dass diese im Gegenzug die DDR diplomatisch anerkennen würden. Das war die
       sogenannte Hallstein-Doktrin, bei der es darum ging, den westdeutschen
       Alleinvertretungsanspruch aufrechtzuerhalten. Israel durfte dafür
       Militärhilfe erwarten. Das war wichtiger als diplomatische Beziehungen.
       
       Wie reagierten die arabischen Staaten darauf? 
       
       Die Waffenlieferungen wurden geheim gehalten, denn die arabischen Staaten
       hatten schon gegen das Abkommen von 1952 protestiert. Ihre Haltung war:
       Deutschland kann Entschädigungen für seinen Völkermord zahlen – aber nicht
       an einen Staat, der auf arabischem Boden und auf Kosten der lokalen
       Bevölkerung gegründet worden war. Deutschland hingegen argumentierte: Wir
       unterstützen Israel aufgrund des Holocausts, aus dem Konflikt halten wir
       uns raus. Auf diese Argumentation stützen sich beide Seiten im Grunde bis
       heute.
       
       Ist das denn so falsch? 
       
       Man blendet die Konsequenzen aus. Bis 1967 war Westdeutschland Israels
       wichtigster Verbündeter. Der Sieg im Sechstagekrieg wäre ohne deutsche
       Hilfe in dieser Form wohl nicht möglich gewesen. Dieser Krieg führte zur
       Besetzung Ostjerusalems, des Westjordanlands, der Golanhöhen und Gazas. Wie
       auch immer man das bewertet – die Bundesrepublik spielt in diesem Konflikt
       eine größere Rolle, als im Allgemeinen angenommen wird.
       
       Israels Botschafter in Deutschland bedankte sich 1967 für die deutschen
       Panzer, mit denen Ägypten im Sinai geschlagen wurde. 
       
       Genau. Die Folgen dieses Krieges sind eine Kehrseite der Geschichte, für
       die Deutschland eine Mitverantwortung trägt.
       
       Trägt Deutschland deshalb eine besondere Verantwortung für die
       Palästinenser? 
       
       Ja. Bis heute ist Deutschland materiell am Konflikt beteiligt. Es nimmt
       diese Verantwortung aber nur begrenzt wahr.
       
       Deutschland bekennt sich zur Zweistaatenlösung und zahlt humanitäre Hilfe.
       Reicht das nicht? 
       
       Wenn man einer Seite Waffen gibt und der anderen Brot, hält man den
       Konflikt eher am Leben. Auch die Bundesrepublik hat es verpasst, die
       friedensbereiten Kräfte auf beiden Seiten zu fördern. Im Ergebnis haben wir
       es jetzt mit einem wahrhaft existenziellen Krieg zu tun, in den die
       Bundesrepublik verstrickt ist.
       
       Wie hat sich die deutsche Haltung zu Israel seit dem 7. Oktober verändert? 
       
       Sie hat sich radikalisiert. Nach dem 7. Oktober sagte Netanjahu, die Hamas
       seien die Nazis von heute, als Olaf Scholz in Jerusalem neben ihm stand.
       Die Implikation war klar: Deutschland könne sich auf die richtige Seite der
       Geschichte stellen, indem es den jüdischen Staat gegen die „neuen Nazis“
       unterstützt. Dieses Entlastungsangebot wird in Deutschland von vielen gern
       angenommen. Deswegen die Vergleiche mit der eigenen Geschichte. Der
       antisemitische Vernichtungswille der neuen Nazis muss gebrochen werden
       durch ein Dauerbombardement, Gaza ist in dieser Logik Dresden 1945.
       
       Eine Projektion? 
       
       Anders als Nazideutschland ist die Hamas keine Großmacht, sondern eine von
       vielen bewaffneten Gruppen im Nahen Osten. Aber je mehr Zivilisten sterben,
       desto größer die Radikalisierung – das weiß man aus den Kriegen in
       Afghanistan und Irak. In der Betrachtung des Konflikts scheint aber auch
       ein tiefgreifender Rassismus zu wirken. Palästinensische Leben werden von
       Teilen der deutschen Öffentlichkeit offensichtlich als weniger wert
       betrachtet.
       
       Was meinte Angela Merkel, als sie 2008 von Staatsräson sprach? 
       
       Merkel hielt ihre Rede mit Blick auf den Iran. Sie wusste, dass die
       Palästinenser Israel schaden, aber nicht in seiner Existenz gefährden
       können – der Iran schon, wenn er über Atomwaffen verfügt. Darum liefert
       Deutschland Israel U-Boote, die nuklear bewaffnet werden können und eine
       Zweitschlagsfähigkeit gegen den Iran garantieren. So ergibt ihr Wort von
       der Staatsräson für mich einen Sinn und für sie wohl damals auch.
       
       Merkel hielt ihre Rede vor dem 7. Oktober. Würde sie heute genauso handeln
       wie Scholz und Baerbock? 
       
       Gute Frage. Heute wird die Staatsräson auf Gaza bezogen, und weil hinter
       der Hamas der Iran gesehen wird, blendet man die lokale Konfliktdynamik
       aus. Hinzu kommt ein Diskurs, der seit dem war on terror Einzug gehalten
       hat. Viele betrachten den Konflikt durch die Brille eines
       Zivilisationskampfes von Gut gegen Böse.
       
       Nicht nur in Deutschland, oder? 
       
       Hier kommt noch ein vergangenheitspolitischer Aspekt hinzu. Unter
       Staatsräson versteht man gemeinhin das, was ein Staat tut, um sich selbst
       zu erhalten. Die Sicherheit eines anderen Staates zu seiner eigenen zu
       machen bedeutet, sich mit diesem Staat zu identifizieren. Am Anfang meines
       Buches zitiere ich eine Bundestagsdebatte aus dem Jahr 2018 anlässlich des
       70. Jahrestags der israelischen Staatsgründung, in der sich deutsche
       Politiker in Solidaritätsbekundungen überbieten. Katrin Göring-Eckardt von
       den Grünen verdichtete das bundesrepublikanische Selbstverständnis, als sie
       sagte: „Das Existenzrecht Israels ist unser eigenes.“ Das zeigt, wie
       identitätspolitisch die deutsche Israelpolitik geworden ist.
       
       Deutschland identifiziert sich mit Israel? 
       
       Es ist ein Ersatznationalismus. Er führt auch dazu, dass sich viele in
       Deutschland nicht vorstellen können, dass Israel in Gaza Kriegsverbrechen
       begeht. Denn das würde am deutschen Selbstbild kratzen, weil wir daran
       beteiligt wären. Letztlich schottet sich der deutsche Diskurs damit von der
       Realität ab.
       
       Ist es nicht ein Fortschritt, dass Deutschland heute aus moralischen statt
       aus eigennützigen Gründen zu Israel hält? 
       
       Falls das so ist, ist das eine extrem einseitige Moral, die Menschenleben
       unterschiedlich bewertet. Dabei übersieht man auch, dass die Welt sich
       gedreht hat. Mit seiner Haltung gegenüber Israel erhoffte man sich einst,
       in den Augen der westlichen Welt rehabilitiert zu werden. Heute ist die
       Welt weniger westlich – und blickt ganz anders auf den Konflikt, als wir es
       tun. Folglich leidet der deutsche Ruf – das ist eine Ironie der Geschichte.
       
       Die meisten Länder haben Palästina als Staat anerkannt. [4][Norwegen,
       Irland und Spanien haben das jetzt angekündigt]. Könnte Deutschland folgen? 
       
       Ich würde wetten: Nein. Und selbst wenn, wäre es Schaufensterpolitik, weil
       ein solcher Staat über kein unabhängiges Staatsgebiet verfügt. Dennoch
       bleibt für mich die Zweistaatenlösung, so unwahrscheinlich sie scheinen
       mag, der einzig gangbare Weg. Die Alternativen sind entweder noch
       unrealistischer – oder sie führen noch tiefer in die Katastrophe.
       
       25 May 2024
       
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