# taz.de -- Die These: Impfneid ist okay
       
       > Man gönnt es den anderen natürlich, dass sie geimpft werden. Gleichwohl
       > verspürt unsere Autorin Neid. Und stellt fest, dass es weit Schlimmeres
       > gibt.
       
 (IMG) Bild: Neidisch auf den Piks der anderen: Was bin ich nur für ein Mensch?, fragt sich unsere Autorin
       
       Okay, ich gebe es zu, ich bin neidisch, als ich Anfang des Jahres erfahre,
       dass die Schwester meines Freundes schon in wenigen Tagen gegen Corona
       geimpft wird. Wir stapeln gerade zum abermillionsten Mal die Geschirrberge
       unseres Homeoffice-Alltags in die Spülmaschine, als sie uns aus Österreich
       auf dem Handy anruft. „Das ist ja großartig!“, höre ich meinen Freund
       rufen. „Ich freue mich für dich!“ Und ich freue mich auch für sie –
       wirklich! Aber gleichzeitig breitet sich so ein doofes Gefühl in mir aus,
       das ich als Älteste von vier Geschwistern seit Kindertagen kenne. 
       
       Es ist der gute alte Neid, der mich überlegen lässt, ob ihre frühe Impfung
       wirklich gerechtfertigt ist. Also wäge ich ab: Dafür spricht, dass ich nur
       wenige Menschen kenne, die so viel Angst vor Corona haben wie sie, dagegen,
       dass sie erst Mitte 30 ist und abgeschieden auf dem Land lebt. Als ich
       erfahre, dass sie wegen ihres Jobs in einer Einrichtung geimpft wird,
       beruhige ich mich. 
       
       Ehrlich gesagt, ist die Schwester meines Freundes nicht mal die Erste, auf
       die ich wegen einer Corona-Impfung neidisch bin. Wenn ich so darüber
       nachdenke, verspürte ich bereits den ersten Anflug von Neid, als die
       allererste Hundertjährige ihren Shot bekam. Dabei finde ich es auf
       rationaler Ebene natürlich völlig richtig, dass exponierte, alte und kranke
       Menschen vor mir dran sind, weil das Virus einfach viel gefährlicher für
       sie ist. Gleichwohl gibt es auch immer wieder Jüngere, die sich nur schwer
       von ihrer Corona-Infektion erholen. Doch neben der rationalen Ebene ist da
       eben auch die emotionale, und die ist manchmal selbst für die besten
       Argumente nur schwer zugänglich. „Ich will jetzt meine Impfung!“, höre ich
       mein inneres Kind gerade immer öfter schreien, langsam, aber sicher
       verliert es die Geduld.
       
       Und ich bin nicht die Einzige, deren inneres Kind nicht mehr länger warten
       will, wie ich in Gesprächen mit der Familie und Freund:innen feststelle.
       Wir alle sehnen uns nach Nähe und Normalität. Und je mehr Tage seit dem
       erlösenden Impfstart ins Land gehen, desto ungeduldiger werden wir. Längst
       ist nicht mehr die Inzidenzzahl unsere größte Sorge, sondern die Impfquote.
       
       Doch der Blick auf die Grafiken ist unerfreulich: Während die Balken von
       den USA und Israel in Windeseile wachsen, bleiben die europäischen
       zumindest in den ersten Wochen beängstigend klein. Was gäbe ich jetzt
       dafür, mich in einem amerikanischen Supermarkt impfen zu lassen! Wie gern
       säße ich jetzt in einem Straßencafé in Tel Aviv! Doch stattdessen schlurfe
       ich bloß weiter einsam durch meinen Berliner Kiez und tue mir vor lauter
       Tristesse und Langeweile selber leid.
       
       ## So sehr im Neidmodus
       
       Aber dann nimmt die Sache plötzlich an Fahrt auf. Hier ist von einem
       unverschämten Kommunalpolitiker die Rede, der sich beim Impfen
       vorgedrängelt haben soll, da von einer Hausärztin, der die eigene Familie
       selbst die nächste ist. Mehr als einmal reden mein Freund und ich uns bei
       Rotwein in Rage und vergleichen den deutschen Bürokratiewahnsinn bei der
       Impfstoffverteilung mit Asterix’ und Obelix’ verzweifelter Suche nach dem
       Passierschein „A 38“. Und wenn wir mal wieder davon hören, dass irgendwo
       Tausende Dosen davon vernichtet worden sind, spucken wir Gift und Galle.
       Kurzum: Wir sind so sehr im Neidmodus, dass ich uns fast nicht mehr leiden
       kann.
       
       Bei so viel Empörung ist ein Blick in die sozialen Netzwerke natürlich
       kontraproduktiv. Denn auch dort tauchen ständig neue Fotos von
       Impfgewinner:innen auf, die sich nach dem Piks so inszenieren, als
       hätten sie gerade den Mount Everest bestiegen. Ihr Gesicht ein einziges
       Grinsen, den besitzergreifenden Arm um den überrascht dreinblickenden
       Spritzengeber gelegt. Ich finde diese offene Zurschaustellung ihres Glücks
       ja ziemlich schamlos, obwohl ich genau weiß, dass jede:r Geimpfte mehr
       doch eigentlich ein Grund zur Freude ist.
       
       Und dann entdecke ich etwas, von dem ich bis dato gehofft hatte, dass es
       sich dabei bloß um eine Urban Legend handelt. Da ist so ein Rich Kid aus
       meinem erweiterten Bekanntenkreis doch tatsächlich nach Belgrad geflogen,
       um sich dort mit serbischem Biontech impfen zu lassen, nur um im Anschluss
       daran weiter nach Portugal zu jetten, wo er jetzt in einer atemberaubenden
       Villa weilt – würg!
       
       Daneben gibt es aber auch kleine Impfgeschichten, die mich sehr berühren.
       Zum Beispiel ein Social-Media-Post, der die Impfung mit einer zweiten
       Geburt vergleicht, oder die Instagram-Story, in der sich eine ehemalige
       Kommilitonin für den Gang zum Impfzentrum ihr schönstes Kleid rausgelegt
       hat, um diesen besonderen Moment zu würdigen. Bei der Familie meines
       Freundes gab es zur Feier des Impftags übrigens Schnitzel, das hatte sie
       sich nach all den Monaten des bangen Wartens auch wirklich verdient.
       
       Aber schließen sich Neid und die Freude für jemand anderen nicht
       gegenseitig aus? Nein, zumindest bei mir nicht, merke ich immer wieder. Da
       tauchen sie für gewöhnlich sogar gleichzeitig auf und existieren
       nebeneinander her. Es sei denn, ich versuche das eine wegzudrängen und das
       andere zu erzwingen, das geht dann häufig schief. Trotzdem bleibt die
       Frage, was Neid eigentlich ist.
       
       ## Ein Gefühl, das alles betrifft
       
       Wer dazu recherchiert, kommt an Neidforscher Rolf Haubl nicht vorbei. Der
       hat vor vielen Jahren ein Buch mit dem vielsagenden Titel „Neidisch sind
       immer nur die anderen“ veröffentlicht und in vielen Interviews für eine
       Enttabuisierung des Neids plädiert. Laut Haubl ist Neid nämlich ein Gefühl,
       das alle betrifft und das sich auf alles, wirklich alles beziehen kann, was
       man gern hätte, aber nicht hat. Und je nach Disposition führe dieses
       Nicht-Haben-Können entweder zum feindselig-schädigenden oder zum
       depressiv-lähmenden Neid. Durch den Kapitalismus sei obendrein noch eine
       dritte Variante hinzugekommen, die der Forscher den
       ehrgeizig-stimulierenden Neid nennt. Dieser sei eine positive, auf
       Fortschritt ausgerichtete Neidform, sagt er, die allerdings nur so lange
       bestehe, wie man an die eigenhändige Verbesserung der Lage glaubt.
       
       Und genau das ist in der jetzigen Situation das Problem. Denn wenn uns das
       Impfchaos noch mal eines vor Augen geführt hat, dann das: Unsere Welt ist
       dermaßen ungerecht, dass man schier daran verzweifeln könnte. Im Großen,
       weil es vermutlich noch viele Jahre dauern wird, bis auch die ärmeren
       Länder mit genügend Impfstoff versorgt sind, im Kleinen, weil die
       vordergründig so durchdachte Impfstrategie bei genauerer Beschäftigung mit
       ihr vollkommen absurd erscheint.
       
       So richtig bewusst wird mir das, als mein Freund und ich Ende März in der
       Wohnung meiner Schwester sitzen, um mit ihr und ihrem Partner unser
       eigenes, kleines Verteilungstribunal abzuhalten. Denn die Schwangerschaft
       meiner Schwester hat sie plötzlich in die zweifelhafte Lage versetzt,
       darüber zu entscheiden, welche zwei Menschen aus ihrem Umfeld vorzeitig
       gegen Corona geimpft werden sollen. Und was soll ich sagen: Mein Freund
       nimmt die traurige Botschaft tapferer auf, als ich es getan hätte – aber
       auch ich habe mich zu früh gefreut.
       
       Schon einen Tag später teilt mir meine Schwester mit, dass sie nun doch
       lieber unsere Mutter impfen lassen will. „Völlig richtig!“, sage ich
       seelenruhig, obwohl sich der Neid in meinem Inneren so aufführt, als hätte
       ihm gerade jemand das letzte Stück Schokolade vor der Nase weggeschnappt.
       Dabei liebe ich meine Mutter doch über alles und kann es kaum erwarten,
       dass sie endlich aus der Gefahrenzone ist!
       
       Was bin ich nur für ein Mensch? So denke ich und gehe zur Beruhigung erst
       mal eine rauchen. Und während ich auf dem Balkon stehe, kriege ich mich
       langsam wieder ein. Schließlich ist es ja nicht so, dass ich meiner Mutter
       die Impfung nicht gönne oder auch nur den geringsten Versuch unternehmen
       würde, meine Schwester umzustimmen. Soll ich mich jetzt etwa auch noch
       dafür fertigmachen, dass ich mich gerade wütend und traurig und frustriert
       fühle? Nein. Stattdessen sollte ich den Neid als das anerkennen, was er
       ist: als Symptom eines völlig inakzeptablen Zustands, der so unmöglich
       länger aufrecht erhalten werden kann – und tadaaa!, da haben wir sie, die
       vierte Form, den empört-rechtenden Neid, der eine Veränderung will.
       
       Eigentlich müsste ich dem Neid sogar dankbar sein, denke ich, vielleicht
       ein bisschen zu euphorisch vom ganzen Nikotin. Immerhin ist er es ja, der
       mich mit aller Härte auf einen gesamtgesellschaftlichen Missstand hinweist,
       der mir ohne ihn vielleicht gar nicht so sehr aufgefallen wäre.
       
       Einen Tag später liegen dann mit einem Mal zwei Impfangebote auf meinem
       Tisch. Meine Mutter wollte ihres partout nicht annehmen und ein weiteres
       flatterte unvorhergesehenerweise wegen eines mir bis dato unbekannten
       eigenen Priorisierungsgrunds herein – und mit dem Verschwinden des Neids
       kommt die Scham.
       
       23 Apr 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anna Fastabend
       
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