# taz.de -- Doku über Christoph Schlingensief: „Das war sein Lebensthema“
       
       > Zehn Jahre nach seinem Tod widmet Filmeditorin Bettina Böhler Christoph
       > Schlingensief eine Doku – und betrachtet dessen Hassliebe zu Deutschland.
       
 (IMG) Bild: Christoph Schlingensief in New York
       
       taz: Erst mal die naheliegendste Frage beim Regiedebüt einer Editorin: Was
       war zuerst: der Wunsch nach der Regie oder der Stoff? 
       
       Bettina Böhler: Es war der Stoff, der auf mich zukam. Ich bin jetzt seit 40
       Jahren Editorin und schon manchmal gefragt worden, ob ich nicht auch mal
       Regie machen will. Da habe ich immer gesagt, die Montage ist mein
       Traumberuf. Doch dann kam vor zwei Jahren Frieder Schlaich auf mich zu und
       stellte mir die Frage, ob ich mir vorstellen kann, einen Dokumentarfilm
       über Christoph Schlingensief zu machen. Da habe ich nicht lange überlegt.
       Ich hatte ja mit Christoph gearbeitet und kannte ihn aus den 90er Jahren.
       Ich fand es natürlich auch eine kluge Idee, mich da zu fragen (lacht).
       
       Wann stand fest, nur mit Archivmaterial zu arbeiten. 
       
       Eigentlich von Anfang an. Ich wusste, dass es dieses riesige Archiv gibt,
       das Frieder über viele Jahre gesammelt hatte. Also habe ich schnell
       gemerkt, dass ich die üblichen Interviews mit Weggefährten nicht brauche,
       sondern aus diesem Material einen Film machen kann, in dem nur Christoph
       selber zu Wort kommt.
       
       Wann und warum haben Sie sich entschieden, den Schwerpunkt auf das
       Deutschland-Thema zu setzen? 
       
       Es war klar, dass der Film nicht länger als zwei Stunden werden sollte,
       auch wenn manche sagen, man sollte eine Serie über Christoph machen. So war
       auch klar, dass ich thematisch eingrenzen musste. Und da war es
       naheliegend, seine Auseinandersetzung mit und Abarbeitung an diesem Land zu
       nehmen, das er geliebt hat, aber eben auch gehasst, wie viele unserer
       Generation.
       
       Es dürfte dennoch Stoff für mindestens einen Fünfteiler geblieben sein. Mit
       welcher Strategie haben Sie sich das angeeignet? 
       
       Ich bin als Editorin ja gewohnt, mit einer Menge Material umzugehen. Also
       bin ich es ähnlich angegangen. Ich habe insgesamt sechs, sieben Monate im
       Schneideraum gesessen. Ich bin niemand, der vorher lang plant und
       aufschreibt, sondern ich gucke mir das an, mache Notizen und habe es schon
       abgespeichert. Das ist auch ein Vorteil meines Berufs: Wenn ich mir etwas
       ansehe, ist es in meinem Kopf gespeichert, und ich weiß, ich habe diese
       Situation schon mal gesehen und kann sie abrufen. Ich arbeite assoziativ.
       Natürlich gibt es den roten Faden der Chronologie. Doch innerhalb dieses
       roten Fadens nehme ich immer wieder Momente aus Werken, die 20 oder 30
       Jahre später entstanden sind. Da gehe ich auch spielerisch vor, im
       Schlingensief'schen Sinn.
       
       Montage ist ja auch eine kooperative Arbeit: Wie war das für sie, als
       Regisseurin und Editorin plötzlich kein Gegenüber mehr zu haben? 
       
       Da musste ich mich dran gewöhnen. Aber ich mache ja auch bei den Filmen mit
       anderen den ersten Rohschnitt immer alleine, weil ich mich erst mal
       eigenständig mit dem Material auseinandersetzen muss. Hier war klar, da ist
       niemand anderes. Ich hatte aber eine dramaturgische Beratung durch Angelina
       Maccarone, wo ich sagen konnte: Gucken wir das mal zusammen, wie siehst du
       das? Dieses Feedback war wichtig, damit ich merke, ob Szenen auch
       nachvollziehbar sind für Menschen, die Schlingensief und sein Werk nicht
       kennen. Auch gab es manchmal Unsicherheit, weil mir meine Verantwortung
       bewusst war für einen Künstler, der doch sehr polarisiert aufgenommen
       wurde. Montage ist ja auch die Kunst der Manipulation, mir ist bewusst,
       dass man da sehr aufpassen muss.
       
       Können Sie das genauer erläutern? 
       
       Mir war wichtig, dass Christoph – auch wenn das esoterisch klingen mag –
       zehn Jahre nach seinem Tod noch einmal eine Stimme kriegt und den Leuten
       vermittelt: Guckt mal her, das habe ich gemacht und vielleicht war es gar
       nicht so uninteressant. Es gibt eine Tragik, dass er zu Lebzeiten nicht die
       Anerkennung bekommen hat, die er verdient hätte mit der Vielfalt und
       Intensität seines Werks und dieser unvergleichlichen Energie. Es ist bisher
       auch niemand nachgekommen, der in Deutschland mit künstlerischen Mitteln so
       vielschichtig, provokant und politisch arbeitet.
       
       Wie sah es mit den Urheberrechten aus, die bei vielen Künstlerfilmen ein
       Problem sind. War das bei Ihnen einfacher, weil die Produzenten auch
       Rechteinhaber des Materials sind? 
       
       Schon. Aber auch Aino Laberenz, die Witwe von Christoph, hat sehr großzügig
       unveröffentlichte Super-8-Filme aus dem Familienarchiv zur Verfügung
       gestellt und die Verwendung akzeptiert. Bei den Fernsehsendungen mussten
       Rechte geklärt werden. Aber die Rechte für Christophs Filme liegen bei
       Frieder Schlaich und der Filmgalerie.
       
       Auch eines der im Film zitierten Interviews hat Schlaich geführt. 
       
       Genau, das ist ein Interview, wo Christoph nur über seine Filmarbeit
       spricht, das gibt es auch auf DVD. Überhaupt sind ja die Filme und die
       Theaterarbeiten komplett auf DVD erschienen, und ich habe die Hoffnung,
       dass die Leute durch meinen Film neugierig werden und sich den einen oder
       anderen noch einmal angucken.
       
       Einmal erzählt Schlingensief, wie er bei einem familiären Filmabend eine
       zentrale Methode seiner Arbeit entdeckt: „Was passiert, wenn Dinge sich
       übereinanderlegen, die nichts miteinander zu tun haben.“ Ist das nicht auch
       genau das Prinzip der Montage, also Ihrer Arbeit? 
       
       Die Doppelbelichtung, die er da als Kind gesehen hat, war für ihn eine
       Urszene, ein Urerlebnis, so hat er es auch selber genannt. Wenn zwei
       Realitäten aufeinandergelegt werden, entsteht automatisch eine dritte. Er
       hat ja auch in den Theaterarbeiten bei den Bühnenbildern immer mit Film-
       und Videoprojektionen gearbeitet, die sich dann wieder überlagerten und so
       weiter. Das war sein Lebensthema, diese sich überlagernden Realitäten. Und
       für mich auch eine Inspiration, die ich stilistisch aufgreife.
       
       Der Film hatte ja bisher nur einen kurzen Auftritt im „Panorama“, bevor
       Corona kam und der Start auf August verschoben werden musste. 
       
       Aber der war fantastisch. Das ist ja mein erster Film als Regisseurin – und
       dann gleich auf der Berlinale. Wir hatten fünf ausverkaufte Vorstellungen
       und noch viel mehr Leute wollten den Film sehen. Manchmal ist es mir ein
       bisschen unheimlich, weil es bisher eigentlich nur positive Stimmen gab,
       aber es freut mich auch. Jetzt hoffen wir, dass es nicht noch einen
       Lockdown gibt.
       
       25 Aug 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Silvia Hallensleben
       
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