# taz.de -- Dramatische Lage in Afghanistan: „Zynisch und völlig inakzeptabel“
       
       > Die Taliban rücken immer weiter vor. Linken-Abgeordnete Sevim Dağdelen
       > fordert die „rasche koordinierte Evakuierung“ afghanischer Helfer.
       
 (IMG) Bild: Nach fast 20 Jahren sind die deutschen Soldaten aus Afghanistan abgezogen – geblieben ist Chaos
       
       BERLIN taz | Mit Ratlosigkeit reagiert die Bundesregierung auf den
       anscheinend unaufhaltsamen Vormarsch der Taliban in Afghanistan. „Die
       Meldungen aus Kundus und aus ganz Afghanistan sind bitter und tun sehr
       weh“, teilte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer am Montag
       in einer Erklärung mit.
       
       Die Bundeswehr habe am Hindukusch „alle Aufträge erfüllt, die ihr der
       Deutsche Bundestag gegeben hat“, so die CDU-Politikerin. „Was wir
       augenscheinlich nicht erreicht haben, ist ein dauerhaft und umfassend zum
       Positiven verändertes Afghanistan.“ Für die Ziele künftiger
       Auslandseinsätze „sollten wir daraus lernen“. So kann man ein Desaster
       auch umschreiben.
       
       Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen Anfang Mai haben die
       Taliban nach und nach immer mehr Gebiete unter ihre Kontrolle gebracht.
       Alleine am vergangenen Wochenende nahmen sie vier Provinzhauptstädte ein.
       Auch die [1][strategisch wichtige Großstadt Kundus], in dessen Nähe
       jahrelang die Bundeswehr stationiert war, ist nunmehr weitgehend in der
       Hand der islamistischen Fanatiker.
       
       Am Montag eroberten sie die Provinzhauptstadt Aibak in der Provinz
       Samangan. Die afghanischen Sicherheitskräfte sollen die Stadt mit ihren
       geschätzt 120.000 Einwohnern einfach verlassen haben. Es ist wohl nur eine
       Frage der Zeit, [2][bis die Taliban auch in Kabul wieder die Macht
       übernehmen].
       
       ## Immer schlimmere Gräueltaten
       
       „Ich bin extrem besorgt über die sich verschlechternde Lage in
       Afghanistan“, sagte UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths in einer
       Stellungnahme am Montag. Im Juli seien mehr als tausend Menschen durch
       Angriffe in den Konfliktprovinzen Helmand, Kandahar und Herat getötet oder
       verletzt worden.
       
       „Die Gräueltaten werden von Tag zu Tag schlimmer“, sagte der für
       Afghanistan zuständige Unicef-Repräsentant Hervé Ludovic De Lys. Laut
       Angaben des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen wurden in den
       vergangenen drei Tagen in den afghanischen Provinzen Kandahar, Chost and
       Pakria mindestens 27 Kinder getötet. 136 weitere Minderjährige seien
       verletzt worden.
       
       „Die Bilder vom raschen Vorrücken der islamistischen Taliban belegen
       nachdrücklich das klägliche Scheitern der Bundeswehrintervention im 20
       Jahre dauernden Nato-Krieg in Afghanistan“, konstatiert die
       Linke-Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen. „Es ging entgegen allen
       Kriegslügen nie um Menschenrechte, sondern allein um finsterste
       Geopolitik“, sagte Dağdelen der taz.
       
       Das zeige sich jetzt auch in eklatanter Weise im Umgang mit den ehemaligen
       Ortskräften, [3][die für die Bundeswehr und andere deutsche Stellen in
       Afghanistan gearbeitet haben]. Notwendig sei die „rasche koordinierte
       Evakuierung“ der einstigen Helfer und deren Familien. Stattdessen jedoch
       [4][verhandele die Bundesregierung mit den Taliban] über eine vermeintliche
       Sicherheitsgarantie für sie. Das sei „zynisch und völlig inakzeptabel“.
       
       ## „Schäbiges Kalkül der Bundesregierung“
       
       Scharf kritisiert Dağdelen auch, dass die Bundesregierung nur einem
       begrenzten Kreis der ehemaligen Ortskräfte einen Anspruch auf Ausreise nach
       Deutschland zubillige. „Möglichst wenig Ortskräfte aufnehmen zu wollen, ist
       ein weiterer Beleg für das zynisch schäbige Kalkül der Bundesregierung bei
       ihrem Afghanistanfeldzug“, sagte sie.
       
       Nach Angaben des Bundesverteidigungsministeriums haben bisher 333 frühere
       Ortskräfte mit 1.342 Familienangehörigen nach Deutschland einreisen können.
       Sie erhalten aber zunächst nur eine befristete Aufenthaltsgenehmigung.
       Viele hoffen noch, ihnen folgen zu können.
       
       Als antragsberechtigt gelten allerdings nur diejenigen Ortskräfte, die in
       den vergangenen zwei Jahren direkt bei einer deutschen Stelle angestellt
       waren, zum Beispiel dem Auswärtigen Amt oder dem
       Entwicklungshilfeministerium. Wer für das Verteidigungs- oder das
       Innenministerium gearbeitet hat, für den gilt ein etwas längerer Zeitraum.
       
       Während die USA und Großbritannien auch nicht direkt Beschäftigte
       akzeptieren, reicht Deutschland die Tätigkeit für ein Subunternehmen nicht
       aus – obwohl sich die Taliban nicht für den Arbeitsvertrag interessieren,
       sondern dafür, ob man den westlichen Kräften geholfen hat.
       
       Für die Ausreise wird ein Visum des afghanischen Staates benötigt. „Es gibt
       da offensichtlich gerade einen Engpass“, räumte der Sprecher des
       Bundesverteidigungsministeriums, Arne Collatz, am Montag ein. „Die
       afghanischen Behörden schaffen es nicht, die Passpapiere in der nötigen
       Geschwindigkeit auszuteilen.“
       
       ## Neuer Lagebericht angekündigt
       
       Dass die Lage in Afghanistan immer unsicherer wird, scheint sich inzwischen
       bis ins Auswärtige Amt herumgesprochen zu haben. Es bereite „eine
       Ad-hoc-Aktualisierung des Lageberichtes“ vor, kündigte
       Ministeriumssprecherin Maria Adebahr am Montag an. Einen genauen Termin zur
       Veröffentlichung nannte sie jedoch nicht.
       
       Die Lageberichte des Auswärtigen Amts über einzelne Länder sind eine
       maßgebliche Grundlage für Entscheidungen über Asylanträge und
       Abschiebungen. Der [5][aktuell gültige Lagebericht zur Situation in
       Afghanistan zeichnet ein geschöntes Bild der Sicherheitslage] und
       verharmlost den Vormarsch der Taliban.
       
       „Wenn eine Aktualisierung der Lageeinschätzung vorliegt, dann muss man die
       künftigen Abschiebungen anhand dieser Lageeinschätzung messen“, sagte
       Innenministeriumssprecher Steve Alter. „Das kann aber erst geschehen, wenn
       die Analyse vorliegt.“ Bis dahin will das Bundesinnenministerium daran
       festhalten, Straftäter und Gefährder weiterhin nach Afghanistan
       abzuschieben.
       
       Bei der Opposition stößt das auf Unverständnis. „Der Fall der ersten
       Provinz-Hauptstädte zeigt, dass Afghanistan nicht sicher ist und deshalb
       kein Ziel für Abschiebungen sein kann“, sagte der Grünen-Außenpolitiker
       Omid Nouripour der Deutschen Presse-Agentur. Das sieht die
       Linkspartei-Politikerin Dağdelen nicht anders: „Auch angesichts der
       Einnahme größerer Städte durch die Taliban verbietet sich jede Diskussion
       über Abschiebungen nach Afghanistan.“
       
       10 Aug 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Taliban-Offensive-in-Afghanistan/!5792095
 (DIR) [2] /Eroberungskrieg-in-Afghanistan/!5788027
 (DIR) [3] /Afghanische-Ortskraefte-der-Deutschen/!5786860
 (DIR) [4] /Geheimverhandlungen-in-Doha/!5792032
 (DIR) [5] /Regierung-verharmlost-Afghanistan-Lage/!5785151
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Pascal Beucker
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Afghanistan
 (DIR) Bundeswehr
 (DIR) Taliban
 (DIR) Schwerpunkt Afghanistan
 (DIR) Afghanistankrieg
 (DIR) Afghanistankrieg
 (DIR) Schwerpunkt Afghanistan
 (DIR) Schwerpunkt Afghanistan
 (DIR) Schwerpunkt Afghanistan
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Eroberungskrieg der Taliban: Die Schlinge zieht sich zu
       
       Die Taliban erobern unaufhaltsam afghanische Provinzen. Menschen auf der
       Flucht leben in Zelten aus Stöcken und Stoff – und sind auch in Camps nicht
       sicher.
       
 (DIR) Bundesinnenministerium setzt Flüge aus: Abschiebestopp nach Afghanistan
       
       Das Ministerium von Horst Seehofer wird vorerst keine Flüchtlinge mehr nach
       Afghanistan zurückbringen. Die Sicherheitslage in dem Land wird immer
       schlechter.
       
 (DIR) NGOs gegen Afghanistan-Abschiebungen: „Augen nicht länger verschließen“
       
       Pro Asyl und 25 weitere Organisationen fordern, Abschiebungen nach
       Afghanistan einzustellen. Angesichts der Kämpfe verstoße die Praxis gegen
       Völkerrecht.
       
 (DIR) Vormarsch der afghanischen Taliban: Weitere Städte erobert
       
       Inzwischen kontrollieren die militanten Islamisten schon sechs
       Provinzhauptstädte. Regierungstruppen versuchen Kundus zurückzuerobern.
       
 (DIR) Vormarsch der Taliban in Afghanistan: Demokratie hatte nie eine Chance
       
       Die Taliban nehmen Stadt um Stadt ein. Die Politik des Westens ist
       gescheitert – erst ihr „Krieg gegen den Terror“, dann der vorschnelle
       Abzug.
       
 (DIR) Abschiebungen nach Kabul: Eine Frage der Glaubwürdigkeit
       
       Deutschland schiebt weiter afghanische Straftäter ab. Grüne und SPD
       kritisieren dies zu Recht – handeln aber anders.