# taz.de -- Erhalt der Sprache Saterfriesisch: Rettung durch Grammatik
       
       > Saterfriesisch ist die am stärksten bedrohte Minderheitensprache
       > Deutschlands. Nun haben Linguisten aus den Niederlanden eine Grammatik
       > erstellt.
       
 (IMG) Bild: Spracherhaltung: Lehrerin Johanna Evers unterrichtet 2009 in Ramsloh das Wahlfach „Saterfriesisch“
       
       HAMBURG taz | Kann man eine Sprache vorm Verstummen retten? Im Nordwesten
       Deutschlands, auf einem Landstrich kleiner als Hamburg-Mitte, steht eine
       Gemeinde vor genau dieser Frage: das Saterland. Rund 14.000 Menschen leben
       dort, etwa 2.000 von ihnen sprechen noch fließend „Seeltersk“ –
       Saterfriesisch. Um es am Leben zu halten, soll nun die Sprachwissenschaft
       helfen.
       
       Wie? Da fragt man am besten Henk Wolf, Linguist und holländischer
       Westfriese. Als Jugendlicher fuhr er zum Zelten ins „Seelterlound“, seit
       knapp einem Jahr sitzt er als Beauftragter für Saterfriesisch im Rathaus.
       Ein neuer Posten, den die Gemeinde und die Oldenburgische Landschaft
       geschaffen haben. Wolf hat zwei Aufgaben: Sprachforschung und
       Sprachförderung.
       
       Besonders mit der Forschung hat er es eilig. „Noch leben ein paar Menschen,
       die einsprachig mit Saterfriesisch aufgewachsen sind“, sagt er. „In 20
       Jahren kann man sie zu ihrer Sprache nicht mehr befragen.“
       
       Weltweit gibt es knapp 7.000 Sprachen, jede zweite gilt als gefährdet. Bis
       zum Ende dieses Jahrhunderts, so eine Prognose der Australian National
       University, werden rund 1.500 Sprachen verschwinden.
       
       In Deutschland gelten laut UNESCO [1][Nord- und Saterfriesisch als
       ernsthaft bedroht]. Dass Saterfriesisch bis heute überlebt hat, grenzt
       ohnehin an ein Wunder. Es liegt an der Geografie des Saterlandes. Vor etwa
       1.000 Jahren besiedelten es die Ostfriesen. Sturmfluten, so vermutet man
       heute, trieben sie von der Nordsee ins Landesinnere.
       
       Das Saterland war damals von Mooren eingeschlossen: eine Insel aus Sand,
       nur mit Booten erreichbar, oder wenn das Moor im Winter zufror. Während
       ringsherum immer mehr Menschen erst [2][Niederdeutsch] und dann Hochdeutsch
       lernten, blieben das Saterland und seine Sprache ungestört. Erst mit der
       Industrialisierung öffnete es sich.
       
       Zur „kleinsten Sprachinsel Europas“ kürte das Guinness-Buch der Rekorde
       1990 das Saterland. Um die seit 1999 anerkannte Minderheitensprache zu
       schützen, stellen der Bund und Niedersachsen Gelder bereit. Für 12.000 Euro
       hat Henk Wolf im vergangenen Jahr eine Grammatik in Auftrag gegeben.
       „Saterfriesisch bleibt nur erhalten, wenn Menschen wieder lernen, es zu
       sprechen“, sagt er. „Es gibt zwar ein Online-Lexikon, um Wörter zu
       übersetzen. Doch wie man die dann im Satz verwendet, steht nirgendwo. Ein
       Nachschlagewerk für Lernende hatte bisher gefehlt.“
       
       Grammatik kommt vom Schreiben. Saterfriesisch war aber lange nur eine
       gesprochene Sprache. Ende der 1960er, als Eltern aufhörten, mit ihren
       Kindern Seeltersk zu reden, fingen zwei Männer an, die Sprache zu
       dokumentieren. Pyt Kramer, ein Ingenieur und Hobby-Linguist aus den
       Niederlanden. Und Marron Fort, ein US-amerikanischer Germanist. Er
       veröffentlichte ein Wörterbuch mit rund 25.000 Begriffen, übersetzte das
       Neue Testament und führte damit ein Schriftsystem ein. Dank seiner und
       Kramers Arbeit gibt es heute Liederbücher und Kindergeschichten wie „Die
       litje Prins“ auf Saterfriesisch.
       
       Ihre Werke bilden auch die Grundlage für die neue Grammatik. Drei
       Forscher*innen der Fryske Akademy in Leeuwarden haben für sie die
       Schriften ausgewertet, mit neueren Studien verglichen und in dem Korpus
       nach Regeln gesucht. Im Januar ist eine erste Version der so entstandenen
       Grammatik online gegangen. In ihr steht, wie man im Saterland konjugiert
       und dekliniert, Verniedlichungen bildet und Mengen ausdrückt. Man kann
       nachlesen, dass es drei Geschlechter gibt, keinen Genitiv, aber 24 – statt
       nur 5 – gesprochene Vokale und 16 Diphthonge.
       
       „Wir haben Elemente gefunden, die wir aus dem Englischen, Deutschen,
       Niederländischen und natürlich aus dem Friesischen kennen“, sagt Tessa
       Leppers, eine der Autor*innen.
       
       Diese Sprachen haben alle dieselben Wurzeln. Würde man die indoeuropäischen
       Sprachen als Baum zeichnen, der Stamm teilte sich auf in zwei große,
       knorrige Äste: Nord- und Westgermanisch. Aus dem westlichen würden als
       Zweige Englisch und Deutsch sprießen, und als dünnster: Friesisch. Ein
       winziges Blättchen am friesischen Zweig, das wäre dann Saterfriesisch.
       
       Erforscht werden friesische Sprachen vor allem in den Niederlanden. In
       Deutschland gibt es das Friesische Seminar an der Uni Flensburg und das
       Fach Frisistik an der Uni Kiel fürs Nordfriesische. In Oldenburg wird
       Saterfriesisch vom Germanistik-Lehrstuhl nur mitbearbeitet. Der Auftrag für
       die Grammatik ging auch darum nach Leeuwarden, und, weil es schnell gehen
       sollte. „Die Fryske Akademy konnten wir als privates Institut relativ
       leicht beauftragen“, so Wolf.
       
       Schon jetzt kann die Grammatik genutzt werden: von Lehrer*innen, die
       „Seeltersk“ in der Grundschule unterrichten wollen. Oder von
       Ehrenamtlichen, die dafür in Kindergärten gehen, wenn die Pandemie es
       wieder zulässt.
       
       Kann das die Sprache retten? „Wenn man nichts macht, verschlechtert sich
       die Lage auf jeden Fall“, sagt Wolf. „Eine Sprache muss sichtbar sein und
       eine Funktion haben. Dann sehen die Menschen auch einen Wert darin.“
       
       Sichtbar ist Seeltersk auf den Ortsschildern im Saterland. Auch gibt es
       Straßennamen wie „Littje Wai“ oder „Piepkebierich“. Im Radio läuft jeden
       zweiten Sonntag bei der Ems-Vechte-Welle die Sendung „Middeeges“ – Mittags.
       Vielleicht sind das nicht nur Relikte, sondern Boten eines Neuanfangs.
       
       21 Feb 2022
       
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