# taz.de -- Film über Ultra-Kultur in Neapel: Sandros Sehnsüchte
       
       > Was passiert, wenn ein Ultra in die Jahre kommt und seine Karriere als
       > Fußballfan nostalgisch verwelkt? Regisseur Francesco Lettieri zeigt es.
       
 (IMG) Bild: Fans feiern sich selbst: Eine Ultra-Gruppierung vom SSC Neapel zelebriert ihren Geburtstag
       
       Gibt es eigentlich irgendein Sportthema, das man derzeit nicht mit einer
       gewissen Melancholie behandeln muss? Gerade die Abwesenheit des
       Bundesliga-Spektakels, diese verfrühte, schon klimatisch verfehlte
       Sommerpause, ist doch für viele merkwürdig manifest. Aber es gibt ja dabei
       nicht nur die, die wegen Kommerz und Öde nicht mehr ins Stadion gehen und
       sich in der Zwangspause vielleicht eines Besseren besinnen, sondern es gibt
       auch immer schon jene, die gern würden, aber nicht dürfen: „Ausgesperrte
       immer mit uns“ steht auf den entsprechen Plakaten in den deutschen Kurven.
       
       In Italien, [1][in Neapel] genauer, um in unsere Geschichte einzutauchen,
       muss Sandro sich regelmäßig auf der „Questura“, der Polizeiwache melden,
       ins Stadion darf er nicht mehr; und so ganz ungelegen kommt ihm das nicht.
       Denn Sandro, Kampfname „Mohicano“, geht auf die 50 zu, und wenn ihm die
       jungen Ultras der von ihm angeführten Gruppierung der „Apache“ auch mit
       größtem Respekt begegnen, so ist klar, dass Sandros Zeit und die seiner von
       Schlachten mit Polizei und Anhängern anderer Teams gezeichneten Kumpane dem
       Ende zugeht.
       
       Da trifft es sich gut, dass Sandro in der Therme, wo er als Bademeister
       arbeitet, die hübsche, smarte und unkomplizierte Terry (Antonia Truppo)
       kennenlernt und sich aus einem One-Night-Stand und ein paar Joints mehr zu
       entwickeln scheint. Aber es kommt anders.
       
       Der Plot von „Ultras“, dem ersten abendfüllenden Film von Regisseur
       Francesco Lettieri, nimmt immer die Wendungen, die man den Vorbildern gemäß
       erwarten kann. „Just when I thought I was out, they pull me back in!“,
       lautet der klassische Satz von Michael Corleone aus dem Paten, der in der
       nicht minder ikonischen Serie „Sopranos“ dann nur noch ironisch zitiert
       wird.
       
       ## Tragödie des mittelalten Mannes
       
       Und dieser Stoßseufzer des vergeblichen Versuchs, sich aus einer
       kriminellen Männerwelt zu lösen, ist eben auch der von Sandro: Gerade wenn
       er denkt, er könne mit Terry ein kleines Glück und eine neue,
       altersgerechte Lebensphase beginnen, machen die Jungen Ärger, und die Alten
       erinnern ihn an seine Pflicht, gewaltsam für Ordnung zu sorgen.
       
       Natürlich kommt er dieser Pflicht nach, denn die zweite popkulturelle
       Folie, vor der sich das Geschehen abspielt, ist sozusagen die von
       Monaco–Franz: Der 50-Jährige, der eben dann doch noch nicht „Ein ernsthaft
       älterer Herr“ – wie der Titel einer der Folgen der genialen [2][TV-Serie
       von Helmut Dietl] aus den 1980ern lautet – werden will und werden kann.
       
       Es ist die Tragödie des mittelalten Mannes unter besonderen Umständen, die
       Lettieri inszeniert hat, und die trotz ihrer Konventionalität sehenswert
       ist. Das liegt an der proletarischen Integrität und Glaubwürdigkeit der
       Darsteller, allen voran Aniello Arena, der „Mohicano“ mit starker
       physischer Präsenz verkörpert – Arena hat nicht zuletzt eine Vergangenheit
       als Mitglied der neapolitanischen Camorra; es liegt auch an einem berückend
       schön magisch-realistisch fotografierten Neapel, mit wunderbaren Details,
       etwa wenn kleinfamiliäre Touristen in der Altstadt vor den röhrenden
       Motorrädern der „Ultras“ flüchten müssen; und nicht zuletzt am Soundtrack,
       für den der in Italien populäre neapolitanische Musiker Liberato
       verantwortlich zeichnet.
       
       Bei dessen großartigen, die Ultras-Kultur des SSC Neapel sowohl
       aufnehmenden als auch stilbildend beeinflussenden Musikvideos zu Songs wie
       „9 maggio“ und „Tu t’e scurdat' 'E me“ hatte der 1985 in Neapel geborene
       Lettieri bereits Regie geführt.
       
       15 Apr 2020
       
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