# taz.de -- Futurismus-Ausstellung in Belgien: Küche à la Schmalzigaug
       
       > Variationen von Licht, Bewegung und grellen Farben: Das Mu.Zee in Ostende
       > präsentiert flämische Größen des avantgardistischen Pinselstrichs.
       
 (IMG) Bild: Jules Schmalzigaug: „Goud, vaandels, parasols San Marco plein“, 1913–1914
       
       Dieses Licht! Ein wunderschöner, fast schon greller Wintertag an der Küste.
       Keine Wolke und kaum Wind im westlichsten Zipfel Belgiens. Ostende strahlt
       – beziehungsweise Oostende an Zee, wie es auf Flämisch heißt. Entsprechend
       heißt der Ort der Schau auch Museum aan Zee, abgekürzt Mu.Zee; es ist lokal
       orientiert und zeigt dabei doch europäische Kunstgeschichte.
       
       Mu.Zee-Führerin Leen, eine lebhafte Mittsechzigerin, spricht fast ohne
       Pause. Ja, auch vom Licht, natürlich – aber erst geht es um fragmentierten
       Dynamismus, um Dadaismus, Avantgarde, den Futurismus und Kubo-Futurismus,
       der Anklänge des Kubismus einschließt. Sie spricht vom flämischen Maler
       Jules Schmalzigaug (1883–1917). Seine wichtigsten Werke sind hier unter dem
       Titel „Das Kochbuch des Futurismus“ zu sehen.
       
       Am Herd also: Jules Schmalzigaug. Die Ingredienzen seiner
       Experimentierküche: Rhythmik von Tänzerinnen, Bewegungen eines stilisierten
       Mopeds, die ausgelassene Dynamik von Ballsälen, pulsierende Plätze mit
       Kirchenfragmenten in der Sonne. Schmalzigaugs Gewürze: à la carte
       verwendete Variationen von Licht, Bewegung und immer viele grelle, bunte
       Farben. Der Sohn einer wohlhabenden Familie aus Antwerpen reiste mehrfach
       nach Venedig, geriet in den Bann der leuchtenden Stadt und lernte dort
       Seelenverwandte kennen, vor allem den Futurismus-Pionier Filippo Tommaso
       Marinetti. Man wandte sich gegen alles Gewohnte, das Bürgertum, die Normen.
       
       Und Schluss mit der herkömmlichen Malerei! Bildmotive wurden jetzt zerlegt
       und experimentell umgebaut; Hauptsache, weg mit visuellen Üblichkeiten,
       hieß die Vision. „Eine Figur“, schrieb Schmalzigaug begeistert an seinen
       Bruder, „ist nicht länger eine Figur, sie besteht nur aus Fragmenten, die
       ihrerseits durch andere Fragmente durchkreuzt und undeutlich gemacht werden
       …“
       
       ## Begeistert von italienischen Freigeistern
       
       Schmalzigaug rührte auf seinen Bildern die Welt um, war begeistert von den
       italienischen Freigeistern und die von ihm: Dieser junge Belgier mit dem
       seltsam futuristischen Namen malte ja schon, worüber man gerade zu
       diskutieren begonnen hatte. So wurde der junge Schmalzigaug zum ersten
       belgischen Maler, der sich in der internationalen Avantgardeszene
       etablieren konnte. Eine Fachzeitschrift feierte ihn für seine „Rhythmen
       farbiger Arabesken“.
       
       Neben Schmalzigaugs Arbeiten sind im Mu.Zee auch Bilder anderer Futuristen
       zu sehen und von Zeitgenossen des Futurismus. Etwa Werke des
       Boheme-Rebellen James Ensor, Sohn Ostendes, der zu Schmalzigaugs Hochphase
       um 1913/14 längst ein Etablierter unter den Nichtetablierten war. Ensor
       (1860–1949) begann als 15-Jähriger in Ostendes Dünen zu malen („immer auf
       der Suche nach dem Licht“) und galt bald, erläutert Leen, als
       Prä-Expressionist, weil es zu seiner Zeit den Expressionismus noch nicht
       gab.
       
       Der andere der „zwei großen Meister aus Ostende“ war der junge Léon
       Spilliaert (1881–1946). Nicht eben eine Lichtgestalt, denn seine Bilder
       sind bisweilen überaus düster. Leen steht vor einem fast monochrom
       schwarzen Gemälde, auf dem sich so gerade noch eine Horizontlinie erahnen
       lässt. Das Ostender Meer bei Nacht, gemalt als Teenie. „Wenn mein Sohn mit
       18 so was malen würde, würde ich wohl mit ihm zum Psychiater gehen“, sagt
       die Museumsführerin ironisch.
       
       ## Mit Albert Einstein beim Bier
       
       Ensors wundervoll böses Monumentalwerk „Der Einzug Christi in Brüssel“ mit
       Jesus als Hauptfigur eines grotesken Karnevalsumzugs hängt heute im
       Getty-Museum in Los Angeles, im Mu.Zee ist eine Kopie als 1:1-Tuch
       aufgespannt. Ensor selbst, beißender Kritiker des Bürgertums und wüster
       Anarchist, ist im Mu.Zee zudem auf einer anrührenden zeitgenössischen
       Fotografie von 1933 zu sehen – mit Albert Einstein beim Bier in einem
       Garten im Nachbarort De Haan. Dorthin war Einstein vor den Nazis
       geflüchtet, bevor er in die USA emigrierte.
       
       Ostende mit seinen gerade mal 70.000 Einwohnern ist bis heute ein Hotspot
       für avantgardistische Künstler: Der Cartoonist Kamagurka (der auch für die
       taz-Wahrheit malt) ist hier geboren, dazu der in Belgien bekannte Dadaist
       Peter Van Heirsele alias „Herr Seele“. In einem Park steht heute eine
       Ensor-Büste. Darunter auf Lateinisch sein Lebensmotto: Pro luce nobilis
       sum. Durch das Licht bin ich berühmt geworden. Die Sonne gibt jetzt in
       Ostende tatsächlich noch einmal alles, abends sind die Konturen noch
       schärfer und winters ist es 50 Minuten länger hell als etwa in Berlin.
       Danach erst kommt Spilliaerts Nachtzeit.
       
       Im Dunkel endete auch Jules Schmalzigaugs Leben. Bei Kriegsausbruch 1914
       flüchtete er in die neutralen Niederlande. Hier endete die Wertschätzung
       abrupt. Er entwickelte in Den Haag noch eine eigene Farbenlehre, „La
       Panchromie“, wollte Töne, Lärm und am liebsten auch Gerüche malen,
       schließlich „Farbmusikkonzerte komponieren“, alles ohne nennenswerten
       Widerhall. Der eben noch Bewunderte war plötzlich einsam, isoliert. Am 13.
       Mai 1917, gerade 33 Jahre alt, nahm sich Jules Schmalzigaug in seinem
       Atelier das Leben.
       
       8 Jan 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bernd Müllender
       
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