# taz.de -- Gefährdete Gesundheitsversorgung: Des Brexits bittere Pille
       
       > Kommt der ungeregelte Austritt, drohen den Briten Versorgungsengpässe.
       > Wie sich Pharma-Unternehmer rüsten und was ein Apotheker fürchtet.
       
 (IMG) Bild: „Alles wegen des Brexit“: Martin Day vor dem Hochlager der Pharmagruppe Eisai
       
       LONDON taz | Leider ist dieses Medikament aus“, bedauert der Pharmazeut
       einer kleinen Londoner Apotheke und bietet der älteren Frau mit ihrem
       Rezept an, dennoch einmal nachzusehen, was sich machen lässt. „Ein
       derartiger Arzneimangel kommt derzeit immer häufiger vor“, erklärt der
       Apotheker der Kundin, die mit ihrem Sohn gekommen ist. „Vielleicht ist es
       wegen des bevorstehenden Brexits“, sagt er.
       
       Wenn bis vor dem 30. März zwischen Großbritannien und der Europäischen
       Union kein Abkommen geschlossen wird, das die Übergangszeit nach dem
       Austritt des Vereinigten Königreichs reguliert, könnte es beim In- und
       Export aller möglichen Güter zu Schwierigkeiten kommen, so die Befürchtung
       vieler Briten. Das gilt nicht nur für Lebensmittel und Industriegüter,
       sondern eben auch für Arzneimittel.
       
       Jedes Jahr werden 1 Milliarde Arzneimittelpackungen zwischen
       Großbritannien und der übrigen EU ausgetauscht. Drei Viertel dieser
       Medikamente und die Hälfte aller anderen medizinischen Produkte werden
       derzeit aus anderen EU-Staaten importiert. Das wird sich auch nach dem
       Brexit nicht so schnell ändern. Das britische Ministerium für den Austritt
       aus der EU gibt sich dennoch zuversichtlich, dass [1][im Fall eines
       ungeregelten Brexits] trotzdem alles glatt über die Bühne gehen wird,
       zumindest was Medikamente betrifft.
       
       Das britische Gesundheitsministerium forderte bereits im August 2018 die
       gesamte Pharmaindustrie auf, Arzneimittel für einen Mindestbedarf von sechs
       Wochen aufzustocken. Sollte es nach einem Austritt zu Problemen kommen,
       gäbe es so einen kurzfristigen Puffer.
       
       Die britische Regierung hat zusätzlich selbst damit begonnen, Medikamente
       zu lagern. 11 Millionen Pfund stehen dafür zur Verfügung. Zyniker sprechen
       wegen solcher Kosten vom Ende aller groß verkündeten finanziellen Vorteile
       des Austritts. Doch als letztendlich für die Gesundheit ihrer Bürger
       verantwortliche Instanz kann die Regierung in Fragen der medizinischen
       Versorgung solchen Sicherheitsmaßnahmen nicht aus dem Weg gehen.
       
       ## Eine Lagerhalle voller Medikamente
       
       Die japanische Pharmagruppe Eisai stellt Medikamente zur Bekämpfung von
       Epilepsie her. Ihr europäischer Hauptsitz liegt in Hatfield am nördlichen
       Rande Londons: ein moderner, mit Bäumen bestandener Bürokomplex. In einer
       hoch gebauten Lagerhalle erklärt der 46-jährige Verantwortliche Martin Day,
       dass das Gebäude noch nie so voll gewesen sei wie derzeit. „Ja, das ist
       wegen des Brexits“, bestätigt der Mann in gelb-grüner Sicherheitsweste und
       zeigt auf die Paletten, die sich meterhoch nach oben ziehen „Wir verpacken
       die einzelnen Ladungen jetzt viel enger und kompakter, um Platz zu sparen“,
       sagt er. Sein Team sei deswegen durchgehend beschäftigt – eine Bemerkung,
       die der stets hin und her fahrende Gabelstapler bestätigt. In der Halle
       herrscht Normaltemperatur, in anderen Gebäuden werden die Medikamente bei
       minus 70 Grad Celsius frisch gehalten.
       
       David Jefferys, der Vizepräsident von Eisai, sagt, dass die Firma sich
       schon seit 18 Monaten im Brexitmodus befindet. Statt der vorher üblichen
       sechs Wochen baut Eisai einen sechsmonatigen Vorrat auf. „Arznei für
       Epileptik ist so spezifisch, dass wir für die Menschen, die darauf
       angewiesen sind, eine große Verantwortung tragen“, sagt er. Auch Rohstoffe
       zur Weiterproduktion würden gelagert, damit bei Importverzögerungen die
       Herstellung nicht gestört wird. Und das sei noch nicht mal alles, erwähnt
       Jefferys.
       
       Damit weiterhin Lizenzen in der EU angemeldet werden können, verlagerte
       Eisai ein Team nach Frankfurt und die medizinischen Tests nach Antwerpen.
       Ein Zurück schließt Jefferys auch im Fall eines geregelten Austritts
       Großbritanniens aus der EU aus. Die zusätzliche Lagerung und die neuen
       Büros in Belgien und Deutschland kosteten seine Firma inzwischen über 10
       Millionen Euro, betont Jefferys.
       
       Ab März müsse das Unternehmen dann wahrscheinlich permanent doppelt für
       Lizenzen zahlen, einmal in der EU und einmal in Großbritannien. Denkt Eisai
       gar an eine Verlegung seiner Zentrale auf den Kontinent? „Nein“, sagt
       Jefferys, „wir haben über die Jahre viel in unsere Präsenz hier und in
       Arbeitskräfte investiert.“ Und er ergänzt: „Wir hoffen sehr, dass es eine
       Einigung bezüglich einer geregelte Übergangsphase gibt, damit die Umstände
       für den britischen Markt so gut wie möglich bleiben.“
       
       ## London tüftelt neue Transportrouten aus
       
       Im Zuge der Loslösung von der EU hat Großbritannien eine ganze Reihe
       Vorbereitungen für den Pharmasektor getroffen. Neue Verträge mit den USA,
       Australien und Kanada regeln, dass weiterhin die für medizinische Zwecke
       notwendigen radioaktiven Isotope in das Land kommen können. Apotheker
       sollen größere Freiheiten vom zentral gesteuerten nationalen
       Gesundheitsdienst (NHS) erhalten, um, bei Nichtverfügbarkeit gewisser
       Medikamente, rasch Alternativen finden zu können, die sie dann im Auftrag
       des Gesundheitsdienstes selbständig bestellen zu dürfen.
       
       Damit Medikamente den befürchteten kilometerlangen Warteschlangen an den
       Kanalhäfen von Calais und Dover entgehen, hat man neue Transportrouten nach
       Großbritannien über alternative Häfen geplant. Arzneimitteltransporte
       sollen außerdem bevorzugt abgefertigt werden. Notfalls könnte es gar
       Sonderflüge mit dringend benötigten Medikamenten geben, um die
       Arzneimittelversorgung zu garantieren.
       
       ## Diabetes-Patienten und Epileptiker in Sorge
       
       Nicht wenig also, um Engpässen zu entgehen. Doch Bridget Turner, Direktorin
       von Diabetes UK, dem Verband britischer Diabetiker*Innen, beruhigt
       Derartiges dennoch nicht. Es gebe zu wenige Einzelheiten über all diese
       Pläne, sagt sie am Telefon. „Insulin muss ununterbrochen verfügbar sein, da
       Diabetiker*Innen der Stufe I schon innerhalb weniger Stunden ohne Insulin
       schwer erkranken können. Sie können auch nicht einfach die Art oder Marke
       des Insulins, ohne schwerwiegende Gesundheitsfolgen in Kauf zu nehmen,
       wechseln“, erklärt Turner. Deshalb seien Diabetiker*innen zunehmend über
       die Situation besorgt – und das, obwohl Premierministerin Theresa May
       selbst insulinpflichtige Diabetikerin ist.
       
       Auch der britische Epilepsie-Verband warnt. Vereinzelt hätten Betroffene
       inzwischen aus Furcht vor einer unregelmäßigen Versorgung nach dem Brexit
       damit begonnen, eigene medizinische Vorräte aufzubauen. „Allein das könnte
       bereits zu einem Arzneimangel führen“, sagt die Geschäftsführerin Clare
       Pelham. Auf Facebook gibt es inzwischen Gruppen wie „48 % Prepper“ mit über
       7.000 Mitgliedern zum Austausch über das, was man zu Hause lagern sollte,
       um auf einen „No Deal Brexit“ vorbereitet zu sein.
       
       Martin Sawer ist Geschäftsführer der Healthcare Distributon Association,
       der die Logistikunternehmen im britischen Gesundheitssystem vertritt. Er
       glaubt, dass die Regierung durch die Planung alternativer Routen für den
       „No Deal“ vorgesorgt habe. Mögliche Probleme nach einem ungeregelten
       EU-Austritt könnten auch aus ganz anderen Gründen entstehen. „Medikamente
       werden manchmal absichtlich vom Markt ferngehalten, um so ihren Wert zu
       steigern“, sagt er. So etwas könne beispielsweise passieren, wenn das
       britische Pfund nach dem Austritt weiter sinken sollte.
       
       ## Apotheker Mehmed Ahmed muss draufzahlen
       
       Mehmed Ahmed, ein privater Apotheker im Nordosten von London, steht in
       seiner Wollweste vor übervollen Regalen in seinem Geschäft. Ihn würde es
       nicht überraschen, wenn der Pharmahandel mit der Verfügbarkeit von
       Arzneimitteln üble Spielchen spielen würde. Der 48-Jährige vermutet, dass
       er bei einigen Medikamenten im Falle eines „No Deal“ sogar draufzahlen
       muss. Das sei auch jetzt schon manchmal der Fall.
       
       Verantwortlich für die Preisregulierung ist ein spezielles Komitee, das die
       Preise im Auftrag des Nationalen Gesundheitsdienstes abklärt. Schon derzeit
       bestehe ein Mangel bei rund 80 Produkten. Ahmed zeigt auf Naproxen, ein
       entzündungshemmendes Schmerzmittel, dass derzeit 45 Prozent teurer ist, als
       der Gesundheitsdienst es festgelegt hat. Nicht immer erhält der Apotheker
       die Mehrkosten zurückerstattet.
       
       Ein Sprecher der Nationalen Apothekervereinigung (NPA) erklärte dazu, das
       Problem sei bekannt. „Der Mangel an bestimmten Medikamenten ist seit
       mehreren Monaten ein zunehmendes Problem, und der Brexit scheint die
       Situation noch verschärft zu haben“, heißt es in einer Stellungnahme des
       Apothekerverbands. Deshalb fordert er eine Erlaubnis, dass Apotheken
       untereinander Medikamente austauschen dürfen.
       
       „Eigentlich wurde behauptet, dass die medizinische Versorgung aufblüht,
       denn der Nationale Gesundheitsdienst hat ja nun 350 Millionen Pfund extra“,
       bemerkt Ahmed in seiner Apotheke zynisch. Tatsächlich hatten vor dem
       Referendum Politiker, die den Brexit propagierten, die Information in die
       Welt gesetzt, Großbritannien könne nach einem Austritt zusätzliche 350
       Millionen Pfund pro Woche für den Gesundheitsdienst ausgeben. So stand es
       auch auf einem roten Brexit-Werbebus, der inzwischen zum Symbol für die
       Lügenkampagne vor dem Referendum geworden ist.
       
       Unmissverständlich gibt sich Mike Thompson, der Geschäftsführer des
       Verbands der britischen Pharmaindustrie ABPI: „Während wir so eng wie
       möglich die Situation eines ungeregelten Brexits vorbereiten, können wir
       nur betonen, dass ein ‚No Deal‘ eine extreme Herausforderung darstellen
       wird. Wir können nur hoffen, dass in der wenigen Zeit, die übrig bleibt,
       das Parlament über eine schnelle Lösung zum ‚No Deal‘-Engpass übereinkommen
       kann und so Patienten versichern kann, dass die Arzneimittelversorgung im
       März nicht gestört wird.“
       
       Am Dienstagabend soll in Westminster wieder einmal über einen neuen Plan
       zum Austritt Großbritanniens abgestimmt werden. Worüber genau eigentlich
       abgestimmt werden soll, weiß derzeit noch niemand.
       
       28 Jan 2019
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniel Zylbersztajn
       
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