# taz.de -- Interview mit HDP-Abgeordnetem: „Kritik muss öffentlich sein“
       
       > Für Mithat Sancar gibt es keinen Unterschied zwischen der AfD und
       > Erdoğan. Wir sprachen mit dem HDP-Abgeordneten über das anstehende
       > Referendum.
       
 (IMG) Bild: Mithat Sancar, im März 2017 in Berlin.
       
       Wir treffen Mithat Sancar an einem Nachmittag im taz-Café. Der 1963 in
       Nusaybin geborene HDP-Abgeordnete, der nach seiner Laufbahn als
       Rechtswissenschaftler und Menschenrechtsaktivist im Jahr 2015 ins Parlament
       gewählt wurde, hat in den Achtziger Jahren eine Weile in Deutschland
       gelebt. Er spricht perfektes deutsch, außerdem arabisch, kurdisch und
       türkisch. Gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler Tanıl Bora übersetzte er
       einst Jürgen Habermas' „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ ins Türkische.
       Wir einigen uns darauf, uns auf türkisch zu unterhalten.
       
       ## taz: Herr Sancar, Sie sich haben kürzlich im türkischen Parlament sehr
       deutlich und kritisch zur letzten Entlassungswelle von Akademiker*innen
       durch ein neues Notstandsdekret geäußert. Kamen nach dieser Rede auch
       Abgeordnete der Regierungspartei AKP auf Sie zu?
       
       Mithat Sancar: Ja. Ich hatte ja thematisiert, dass es in der AKP viele
       Menschen gibt, denen 1996 durch ein ähnliches Notstandsdekret auch Unrecht
       widerfahren war. Daraufhin kamen einige Abgeordnete auf mich zu und sagten,
       dass sie die Entlassungen innerhalb der Partei kritisiert hätten. Aber das
       reicht nicht, das habe ich ihnen gesagt. Denn wenn es allein innerhalb der
       Partei zur Sprache kommt, wird sich nichts ändern. Schließlich gehörte ich
       zu der Gruppen von Menschen, die sich 1996 auch für sie eingesetzt hatten,
       und zwar in aller Öffentlichkeit. Wir haben unsere demokratische Haltung
       nie verheimlicht, auch wenn es mit Risiken verbunden war. Deshalb sind die
       Worte dieser Abgeordneten weder glaubhaft, noch können sie irgendetwas
       bewegen.
       
       ## Gibt es Abgeordnete aus anderen Parteien, die Sie regelmäßig sprechen?
       
       Natürlich, und zwar aus allen Parteien. Manche von ihnen waren früher meine
       Studenten. Wir treffen uns und sprechen. Aber natürlich sind die
       persönlichen Kontakte inzwischen weniger geworden. Die politischen
       Spannungen im Land wirken sich auf alle Beziehungen aus.
       
       ## Welche konkreten innenpolitischen Folgen haben die diplomatische Krise
       mit Holland und Deutschland?
       
       Diese Krise ist eine Folge von Erdoğans innenpolitischen Manövern. Es steht
       ein wichtiges Referendum an, und Erdoğan hat eine Wahltaktik, die er jedes
       Mal fährt: Polarisierung und Spaltung. Er versucht damit, seine
       Wählerschaft zu behalten und gleichzeitig die nationalistischen Stimmen zu
       bekommen. Doch trotz all seinen Bemühungen, sieht es sehr danach aus, dass
       eine Mehrheit mit “Nein“, also gegen die neue Verfassung, stimmen wird.
       
       ## Woran sieht man das?
       
       Die AKP überarbeitete die Verfassung gemeinsam mit der MHP, doch ein
       Großteil der MHP-Wähler unterstützt die neue Verfassung nicht. Laut
       Umfragen, wollen viele dagegen stimmen. Zudem gibt es innerhalb der AKP
       eine nicht zu unterschätzende Gruppierung, die ebenfalls unzufrieden ist.
       So wird es kaum möglich sein, ein “Ja“ zu bekommen.
       
       ## Und was soll der Streit mit Europa daran ändern?
       
       Innenpolitisch kann man nicht noch mehr Polarisierungen erzeugen, als
       jetzt. Die Lage ist so angespannt, wie sie es nur sein kann. Also wird
       diesmal ein Feindbild im Ausland erzeugt. Das hat Erdoğan über Deutschland,
       über Europa versucht. “Die Ausgrenzung der Türkei durch Europa“, “der
       Nationalstolz“, “die Verteidigung des Islams gegen den Westen “– wenn
       solche Diskussionen dominieren, das ist wohl die Hoffnung, dann wird
       weniger über den Inhalt der neuen Verfassung und die Fehler von Erdoğans
       Politik gesprochen.
       
       ## Warum verhält sich die kemalistische Linke, die CHP so uneindeutig in
       diesen Tagen?
       
       Die CHP fürchtet Wähler zu verlieren, wenn sie an der nationalistischen
       Welle nicht teilnimmt. Wir finden das falsch. Denn damit akzeptiert die CHP
       auf Erdoğans Feld nach Erdoğans Regeln zu spielen – also genau das, was
       Erdoğan will. Und die CHP lässt sich mit dieser rechts-nationalistischen
       Welle mittreiben, aber es gibt schließlich Parteien, also die AKP und MHP,
       die den Nationalismus deutlich erfolgreicher instrumentalisieren können.
       Damit schadet die CHP sich nur selbst. Doch das ist nicht das einzige
       Problem. Die ideologische Basis der CHP ist einfach widersprüchlich. Da
       gibt es sehr viele Ansichten, die mit linken und demokratischen Werten
       nicht vereinbar sind.
       
       ## Das heißt, die diplomatischen Krisen treffen am Härtesten die HDP.
       
       Um ehrlich zu sein, ist es nicht sehr hilfreich, dass Erdoğan in Europa nur
       aufgrund der Wahlkampfauftritte diskutiert wird. Es gibt genügend andere
       Gründe, aus denen man über die Türkei sprechen sollte. Seit Monaten
       erzählen wir in Europa von den massiven Menschenrechtsverletzungen in den
       kurdischen Gebieten, von der Aushebelung von Demokratie und Justiz. Wir
       haben dazu aufgerufen, politisch Stellung zu beziehen und die nötigen
       Mechanismen in Gang zu setzen. Doch niemand hat sich gerührt. Erdoğan ist
       seit langem dabei, sein eigenes System aufzubauen, und alle haben
       zugesehen. Zu Gunsten des Flüchtigsdeals wurde gar darüber hinweg gesehen.
       Hätte man sich damals schon zu dieser Entwicklung verhalten, wären wir
       nicht an so einer unfruchtbaren Diskussion wie um Auftrittsverbote hängen
       geblieben.
       
       ## Sie finden die Diskussion um Auftrittsverbote also grundlegend falsch?
       
       Es ist sehr offensichtlich eine Diskussion, die das wahre Problem verfahlt.
       Rechtspopulisten wie die AfD instrumentalisieren dieses Thema für ihre
       eigene islamophobische und rassistische Ideologie. Dabei sollte es eine
       Diskussion um demokratische Werte geben. Wir empfinden Erdoğans Politik
       nicht nur als Gefahr für die Türkei, sondern als Teil einer weltweiten
       rechtspopulistischen Bewegung. Für uns gibt es zwischen Erdoğans
       Weltanschauung und der AfD oder Marie Le Pen oder Geert Wilders keinen
       Unterschied. Und wir sehen uns selbst wiederum als Teil des Widerstands
       gegen die AfD hierzulande, auch als Teil der französischen Demokraten.
       Deshalb finden wird grundlegend jede Diskussion, die den Rechten in die
       Hände spielt, falsch.
       
       ## Am 2. März gab es einen Erlass des Bundesinnenministeriums, das Fahnen
       und Symbole von diversen kurdischen Parteien und Organisationen verbietet,
       darunter auch die der PYD und YPG. Was halten Sie davon?
       
       Dass Fahnen von der PYD und YPG verboten werden, ist für mich vollkommen
       unverständlich. Denn diese Organisationen stehen im Gegensatz zur PKK auf
       keiner EU-Terrorliste, auch nicht in Deutschland. Ganz im Gegenteil, die
       YPG wird im Kampf gegen den “Islamischen Staat“ von der Internationalen
       Koalition unterstützt. Somit gibt weder eine rationale noch eine rechtliche
       Grundlage für ein solches Verbot. Allein, weil die Türkei diese
       Organisationen als Feind einstuft, macht Deutschland durch dieses Verbot
       ein weiteres Zugeständnis an Erdoğan. Man kann es als eine Art Bestechung
       interpretieren.
       
       ## Im Rahmen des Patenschaftsprograms “Parlamentarier schützen
       Parlamentarier“ haben im vergangenen Herbst 60 Bundestagsabgeordnete ihre
       Solidarität mit den verfolgten und verhafteten HDP-Abgeordneten
       ausgesprochen. Ist diese Unterstützung rein symbolisch?
       
       Bisher ist sie nur symbolisch, ja. Die Aktion hat einen guten Ansatz, doch
       leider wurde inzwischen wieder vergessen, dass unsere Vorsitzenden
       Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sowie zahlreiche Abgeordnete immer
       noch inhaftiert sind. Dabei war es wichtig, dass dieser Umstand sich nicht
       normalisiert. Aber vielleicht darf man diese Last nicht den Parlamentariern
       aufladen. Auch die EU sowie sowie europäische Regierungen haben nicht
       ausreichend reagiert. Ich habe Kanzlerin Merkel getroffen, als sie in
       Ankara war. Ich sagte ihr, dass die Inhaftierung unserer Abgeorndeten und
       Vorsitzenden nicht normalisiert werden darf. Es gibt vier Parteien im
       türkischen Parlament, die drittgrößte Fraktion sind wir. Wir haben so viele
       Stimmen bekommen und uns widerfährt ein Unrecht. In der Türkei existiert de
       facto schon ein autokratisches System. Die neue Verfassung will dieses nur
       stabilisieren.
       
       ## Wie steht es nun um die inhaftierten Abgeordneten?
       
       Derzeit gibt es in der Türkei keine unabhängige Justiz. Wir haben uns
       bereits an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof gewendet und hoffen
       auf eine Entscheidung. Doch die eigentliche Sache, ist das Referendum. Wenn
       die Mehrheit für Nein stimmt, wird die Hegemonie Erdoğans gebrochen. Das
       heißt natürlich, dass ein Nein auch positive Folgen für unsere inhaftierten
       Abgeordneten haben wird.
       
       ## Und was wird sich in der Türkei ändern, wenn das Präsidialsystem
       eingeführt wird?
       
       Das System, das Erdoğan forciert, sollte man nicht Präsidialsystem nennen.
       Dabei denkt man an die USA, das ist es nicht. In den USA gibt es ein
       geregeltes Machtverhältnis. Was mit der Verfassungsreform in der Türkei
       kommen soll, ist hingegen eine Autokratie. Die Basis dieses Systems ist
       kein Mehrheits-, sondern ein Ein-Mann-System. Doch Erdoğan hat noch eine
       andere Sorge. Er will sich und seine Familie schützen. Denn es gibt
       schwerwiegende Korruptionsvorwürfe gegen ihn. Und weitere Vorwürfe
       bezüglich seiner Eingriffe in den Syrienkrieg. Wenn er nicht mehr regiert,
       ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass er dafür vor Gericht muss.
       Deshalb will er seine Herrschaft zementieren.
       
       ## Welchen Einfluss hatte die AKP-Politik der vergangenen Jahre auf die
       Wirtschaft?
       
       Dass die türkische Wirtschaft sich in einer ernsten Krise befinden, kann
       keiner mehr leugnen. Viele Beobachter werden bestätigen, dass diese Krise
       mit der politischen Instabilität zu tun hat, mit dem zweifelhaften Umgang
       mit der Kurdenfrage und dem Demokratieabbau. Mit verschiedenen Manövern
       wird versucht, die Wirtschaftskrise während des Referendums noch verdeckt
       zu halten. Es fließt sehr viel unregistiertes Geld in die Türkei. Viele
       vermuten, dass dieses Geld aus den Golfstaaten kommt. Das sorgt dafür, dass
       die Wirtschaftskrise noch nicht so sichtbar ist. Doch wir können sehen, in
       welcher Not sich Geringverdiender, Arbeiter, die untere Mittelschicht und
       mittelgroße Unternehmer befinden. Auch dass der Lira fällt, ist ein Zeichen
       der Krise. Und die aktuellen Auseinandersetzungen mit Europa werden der
       Wirtschaft auch nur schaden.
       
       23 Mar 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Fatma Aydemir
 (DIR) Samil Sarikaya
       
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